Uerdingen gegen Dresden im EuropapokalDas Wunder von der Grotenburg

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Nach dem Spiel: Friedhelm Funkel (l.) und Torhüter Werner Vollack

Köln – Die Erinnerung erzählt von einem kalten Vorfrühlingsabend in Krefeld, der sich aber 90 Fußballminuten später  auf Sauna-Temperatur aufheizte. Weil sich im Grotenburg-Stadion an jenem 19. März 1986 ab 20.15 Uhr ein Spiel entwickelte, das niemanden   frieren ließ, weil die Emotionen hochkochten, auf beiden Seiten. Ein Treffer nach dem anderen durfte für Bayer 05 Uerdingen in der zweiten Halbzeit bejubelt werden, sechs insgesamt, alle landeten in dem Tor hinter dem, keine 80 Meter entfernt, die Kängurus des Krefelder Zoos eigentlich schlafen sollten, es nun aber gewiss nicht mehr konnten. Dieser Lärm, dieses Beben,  diese Freude, dieses wilde, mit  Schreien verbundene Umarmen fremder Menschen, ließen keinen Platz für Ruhe. Zumindest nicht bei mir, der das alles just in Sichtweite jenes Tores als 18-jähriger Zuschauer erleben durfte. 

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Ja, Krefeld  war an jenem 19. März 1986 das Zentrum des europäischen Fußballs, weil dort die Heimmannschaft des Stadtteilklubs aus Uerdingen ihren Gegner Dynamo Dresden im Rückspiel des Viertelfinales des Europapokals der Pokalsieger mit 7:3 geschlagen hatte. Nach einem 1:3 zur Halbzeit, was sich mit dem 0:2 aus dem Hinspiel zu einem 1:5 summierte. Dafür, dass Bayer 05 diesen Rückstand in nur einer Halbzeit wettmachte und doch noch das Halbfinale erreichte, gibt es einen festen Begriff in der Fußballhistorie: Das Wunder von der Grotenburg.

Ralf Minge traf nach 52 Sekunden für Dresden, Frank Lippmann und Rudi Bommer mit einem Eigentor hatten nach dem zwischenzeitlichen Ausgleich von Wolfgang Funkel, dem jüngeren Bruder von Friedhelm Funkel, eine   3:1-Führung für Dresden herausgekontert.  

Wahnwitzige 45 Fußballminuten

Das Stadion leerte sich zur Halbzeit merklich. Die Flüchtenden jedoch verpassten 45 wahnwitzige Fußballminuten.  Diese Wendung hat gewiss auch mit dem Schulterbruch des Dresdener Torhüters Bernd Jakubowski zu tun. Zugezogen hatte er ihn sich nach einem Duell mit Wolfgang Funkel. Für Jakubwoski kam der völlig unerfahrene  Jens Ramme ins Tor.

58. Minute,  Elfmeter für Uerdingen. Wolfgang Funkel trifft zum 2:3. Es folgt das 3:3 durch ein Eigentor von Minge (63.) und  das 4:3 durch Wolfgang Schäfer nach 65 Minuten. Dietmar Klinger trifft zum 5:3 (78.) und nur eine Minute später verwandelt Wolfgang Funkel erneut einen Elfmeter: 6:3, Uerdingen ist weiter. Das 7:3 von Schäfer festigt  vier Minuten vor dem Ende nur noch den Einzug ins Halbfinale. Dann ist das Spiel aus.

Das Spiel

Uerdingen: Vollack – Herget – Dämgen, W. Funkel, Buttgereit – Bommer, Feilzer, F. Funkel, Raschid (52. Klinger) –  Guðmundsson (72. Loontiens), Schäfer. Dresden: Jakubowski (46. Ramme) – Dörner –  Döschner, Trautmann, Häfner –  Stübner, Pilz, Sammer (28. Gütschow), Minge –  Kirsten, Lippmann. Schiedsrichter: Németh (Ungarn). – Zuschauer: 22000. – Tore: 0:1 Minge (1.), 1:1 W. Funkel (13.), 1:2 Lippmann (35.), 1:3 Bommer (42., Eigentor), 2:3 W. Funkel (58., Foulelfmeter), 3:3 Guðmundsson (63.), 4:3 Schäfer (65.), 5:3 Klinger (78.), 6:3 W. Funkel (79., Handelfmeter), 7:3 Schäfer (86.).

In unserem Stehplatzbereich springen alle Zuschauer wild umher  – Junge und Ältere   mischen sich zu einer Jubelgemeinschaft, ich habe keinen von diesen Menschen vor diesem Spiel jemals  gesehen, habe aber das Gefühl, dass wir alle uns schon seit 20 Jahren kennen.  Unvergessliche Glücksgefühle schießen ins Hirn, ich bekomme Küsschen auf die Wange, Gänsehaut macht sich auf dem ganzen Körper breit. Viele Zuschauer rennen auf den Platz, umarmen die Uerdinger Spieler. Kein Ordnungsmensch unterbindet die Freude. 

Bei Dynamo Dresden jedoch geht es hoch her. Torschütze Lippmann flieht in den Westen. Klaus Sammer wurde zum Saisonende als Trainer abgelöst und ins Kinder-Trainingszentrum nach Meißen versetzt.  Kapitän  Hans-Jürgen Dörner, damals 35, musste nach der Saison aufhören.  Dekret von oben.

Uerdingen scheiterte im Halbfinale des Wettbewerbs  an Atletico Madrid. Längst vergessen. Im Gegensatz zu der  Erinnerung an diesen deutsch-deutschen Wunder-Fußballabend.

Im nächsten Serienteil geht es um den Einzug des 1. FC Köln in den Europapokal – nach einem Sieg gegen Mainz im Mai 2017.

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