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Jürgen Kohler über die WM 1994„Wir haben die Hitze auch überlebt“

Lesezeit 7 Minuten

Jürgen Kohler während des Spiels gegen Südkorea bei der WM 1994

Sie nannten ihn „Fußballgott“ oder „Kokser“. Für viele Fans in Deutschland war Jürgen Kohler in den 90er Jahren ein Held, ein Pionier, ein Sinnbild für leidenschaftliche Abwehrarbeit. Übersteiger waren seine Sache nicht, dafür aber Grätschen, Zweikämpfe und vor allem Kopfballduelle. Kohler ist einer der erfolgreichsten deutschen Fußballspieler der vergangenen 25 Jahre. Weltmeister, Europameister, Champions-League-Sieger, Deutscher Meister, Italienischer Meister.

Im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ spricht Kohler über die Weltmeisterschaft 1994 in den USA, über Stefan Effenbergs Mittelfinger und über Hitze und Verletzungspech bei großen Turnieren. „Diese Ausreden spielen für mich keine Rolle“, sagt er.

Herr Kohler, Sie haben einige Turnier erlebt. Woran denken Sie als erstes, wenn Sie sich an die WM 1994 in den USA erinnern?

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Jürgen Kohler: Heißes Klima! Wir haben einmal in Dallas gespielt, da waren es auf dem Platz gefühlte 50 Grad. Ansonsten erinnere ich mich an einige Unruhe innerhalb der Mannschaft. Für mich persönlich ist es ganz gut gelaufen, insgesamt war es aber ein unglückliches Turnier. Vor allem natürlich wegen des Ausscheidens im Viertelfinale gegen Bulgarien, wir hatten ja 1:0 geführt und das 2:0, eigentlich ein reguläres Tor, hat der Schiedsrichter uns nicht gegeben. Dann haben wir das Spiel noch aus der Hand gegeben, das war unglaublich.

Wie haben Sie die Momente nach dem Spiel in Erinnerung?

Kohler: Im Laufe der Jahre lernt man, mit Niederlagen umzugehen. Es war damals ja so, dass Bodo Illgner direkt nach dem Spiel gegen Bulgarien zurückgetreten ist. Es war so viel los – wir hatten gar keine Zeit, noch einmal in Ruhe über das Spiel nachzudenken.

In der deutschen Mannschaft gab es damals Spieler von allen möglichen Vereinen, nicht wie heute hauptsächlich von Bayern und Dortmund. Wie hat die Hierarchie ausgesehen

Jürgen Kohler ist ein ehemaliger Fußballspieler und heutiger Trainer. Als Spieler war er in Deutschland für Waldhof Mannheim, den 1. FC Köln, Bayern München und Borussia Dortmund aktiv. In 398 Bundesliga-Spielen traf der frühere Abwehrspieler insgesamt 28 Mal. Hinzu kommen 102 Spiele (8 Tore) für Juventus Turin in der italienischen Serie A.

Für die deutsche Nationalelf bestritt Kohler 105 Länderspiele. 1990 wurde er Weltmeister, bei der WM 1994 stand er in allen fünf Spielen auf dem Platz. 1996 führte er die DFB-Elf bei der EM in England im ersten Gruppenspiel als Kapitän aufs Spielfeld. Nach wenigen Monaten verletzte Kohler sich am Knie und verpasste den Rest des Turniers, das mit dem bislang letzten Titelgewinn Deutschlands endete.

Mit Borussia Dortmund wurde Kohler Champions-League- und Weltpokalsieger. Insgesamt war er zudem drei Mal Deutscher Meister sowie Italienischer Meister und Uefa-Pokalsieger.

Als Trainer war er seit 2002 unter anderem bei der deutschen U-21-Auswahl, dem MSV Duisburg und der A-Jugend des Bonner SC aktiv, zwischenzeitlich außerdem Sportdirektor bei Bayer 04 Leverkusen. Heute trainiert er den künftigen Oberligisten EGC Wirges.

Kohler: Wir hatten untereinander keine Probleme miteinander, aber es war eben doch viel Unruhe drin. Olaf Thon hatte sich kurz vor dem Turnier verletzt, dadurch ist Lothar Matthäus auf den WM-Zug aufgesprungen. Dann kamen Stefan Effenberg und die Mittelfinger-Aktion. Später hat sich der ganze Trubel dann eben auch mal in den Ergebnissen widergespiegelt. Aber untereinander war alles in Ordnung, wir kannten uns ja größtenteils von der WM 1990.

Wer waren die Wortführer?

Kohler: Schwer zu sagen. Ich glaube, Jürgen Klinsmann war Kapitän?

Ja.

Kohler: Er war dann auch der erste Ansprechpartner für Berti Vogts. Ansonsten waren mit Thomas Berthold, Andreas Brehme, Rudi Völler und anderen ja noch einige 1990er-Weltmeister dabei.

Sie haben es angesprochen: Stefan Effenberg hat den deutschen Fans im Gruppenspiel gegen Südkorea den Mittelfinger gezeigt, als er ausgewechselt wurde. Haben Sie das auf dem Feld mitbekommen?

Kohler: Nein. Es war so heiß, ich hatte gar keine Energie, auf irgendetwas anderes außer den Ball zu schauen.

Und wie haben Sie davon erfahren?

Kohler: Beim Abendbrot war das dann ein Thema. Aber was genau passiert war, wusste eben niemand. Egidius Braun hat dann recht zeitnah eine Ansage gemacht und vor uns verkündet, dass Stefan nach Hause fliegen musste. Ich habe das sehr bedauert, ich mag den Stefan gern.

Haben Sie vor seinem Heimflug noch mit ihm gesprochen?

Kohler: Nein, das ging alles Schlag auf Schlag…

Wie haben Sie in den USA die Zeit verbracht, wenn Sie nicht trainiert oder gespielt haben?

Kohler: Wir haben ja in verschiedenen Städten gespielt. Chicago, Dallas, New York – wir waren viel unterwegs und hatten verschiedene Zeitzonen, das war alles nicht ganz einfach. Trotzdem ist klar: Mit unserer Mannschaft hätten wir mindestens ins Halbfinale kommen müssen. Es war aber eben doch problematisch, dass einige Spieler nicht zu ihrer Form gefunden haben, das muss man ganz klar so sagen. Bei einer Weltmeisterschaft wird es schwer, wenn man zwei, drei Leute dabei hat, die formschwach sind. An der Spitze wird die Luft dünner. Wenn einer auf dem Feld steht, der einen schlechten Tag hat, kann man das vielleicht noch kompensieren. Aber bei zwei, drei Spielern auf einmal – da wird es ganz, ganz schwer.

Dann wird es die deutsche Mannschaft in Brasilien schwer haben. Es sind mehr als bloß zwei, drei Spieler noch angeschlagen oder nicht in Form.

Kohler: Es bleibt abzuwarten, wie das Freundschaftsspiel gegen Kamerun abläuft und wie die Spieler sich in Brasilien akklimatisieren. Wenn die Mannschaft gegen Portugal gut ins Turnier kommt, könnte durch eine gewisse Euphorie alles schnell einfacher werden. Auch andere Nationen haben verletzte Spieler. Das ist nach einer langen Saison eben so.

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Was trauen Sie der DFB-Elf in Brasilien zu?

Kohler: Wir können Weltmeister werden. Das haben die Jungs ja teilweise auch klar gesagt. Das finde ich auch gut so, das ist mir tausend Mal lieber, als wenn sie immer nur von könnte, würde, hätte sprechen würden. Die Jungs haben eine klare Zielsetzung. Daran müssen sie sich eben auch messen lassen.

Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm sind angeschlagen. Wer sind die Schlüsselspieler?

Kohler: Jeder! Jeder einzelne ist ein Schlüsselspieler.

Das ist eine Jürgen-Kohler-Antwort, wie wir sie auch von Ihnen als Spieler hätte kommen können.

Kohler: Es ist doch alles Makulatur, von Spielern zu sprechen, die nicht vollkommen fit sind und so weiter. Wir hatten das doch damals genauso – und dann hat eben Guido Buchwald eine sehr wichtige Rolle übernommen, den vorher die meisten wohl gar nicht wirklich auf dem Zettel hatten. So ist das eben, da rücken andere nach. Deshalb spielt man doch in der deutschen Nationalmannschaft. Das sind fast alles Spieler, die internationale Erfahrung haben, in Länderspielen oder in der Champions League. Und daran müssen sie sich eben auch messen lassen. Wenn ich das höre – „Das ist eine junge Mannschaft, die noch Zeit braucht“ – das sehe ich definitiv nicht so. Das ist insgesamt eine sehr erfahrene Mannschaft, die schon seit 2006 in einer ähnlichen Formation beisammen ist. Diese Argumentation fällt für mich deshalb weg.

Es wird aber ja auch viel über die klimatischen Bedingungen gespr…

Kohler: ... aber das ist doch bei den anderen Mannschaften das Gleiche! Alle Spitzennationen haben den Großteil ihrer Mannschaft in Europa spielen. Alle! Auch diese Argumentation zählt für mich nicht. Wir haben die Hitze in den USA 1994 doch auch überlebt (lacht). Allerdings, noch einmal: Bei diesem Turnier waren einfach nicht alle in Topform, die auf dem Feld gestanden haben. Und wenn man versucht, mehrere Spieler, die außer Form sind, durch ein Turnier zu schleppen, dann kann man seine Ziele mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eben nicht erreichen.

Im Umkehrschluss heißt das, Sie würden in Brasilien nur auf die Spieler setzen, die fit sind, also zum Beispiel Schweinsteiger auf der Bank lassen?

Kohler: Ach, das muss ja der Bundestrainer entscheiden. Joachim Löw wird sicher im Training genau hinschauen und dann wird eben auch der physische Zustand entscheidend sein für die Einsatzzeit. Wenn einer jetzt schon permanent Probleme hat, dann kann sich das natürlich als schwierig herausstellen, das alles kurz vorher oder sogar während eines Turniers aufzuholen. Das muss man also abwarten.

Was bleibt, ist die Frage, wann wir Sie im Profifußball wiedersehen.

Kohler: Keine Sorge, ich werde Sie informieren (lacht). Ich bin gerade mit dem EGC Wirges in die Oberliga aufgestiegen, das ist eine ganz junge Mannschaft, im Schnitt sind die Jungs 21 Jahre alt. Das macht unheimlichen Spaß. Mal schauen, was passiert. Ich habe jedenfalls keine Eile und laufe niemandem hinterher – mir geht’s auch so gut.

Das Gespräch führte Philip Sagioglou

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