Sportwissenschaftler Claus Tiedemann„Das IOC betreibt reine Propaganda“

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Olympia2008

Die Russin Natalia Paderina (l.) und Nino Salukvadze aus Georgien bei Olympia 2008. 

Köln – Der Sportwissenschaftler und Soziologe Claus Tiedemann erzählt, was er vom Sport als Friedenssymbol hält – und warum das IOC seine eigene Idee nicht verstanden hat.

Herr Tiedemann, dem Sport wird oft eine gewisse Friedenssymbolik zugeschrieben. Nun ist Krieg in der Ukraine. Hat der Sport als Friedenssymbol ausgedient?

Es gibt ein großes Problem bei dieser Frage: Sport ist ein abstrakter Begriff. Und abstrakte Begriffe können keinen Frieden machen, das können nur Menschen. Wenn wir von Sport sprechen, meinen wir oft verschiedene Dinge: Die Menschen, die Sport treiben, Fachverbände oder das Tätigkeitsfeld selbst.

Dann schauen wir uns zunächst die Menschen an, die Sport treiben.

Menschen können jederzeit etwas für den Frieden tun oder Krieg anzetteln, das hat mit dem Sporttreiben erst einmal wenig zu tun. Die sportliche Betätigung selbst lebt aber in einer gewissen Ambivalenz zwischen Kampf und Frieden.

Inwiefern?

Wer Sport treibt, verfolgt dabei ein Ziel. Er will sich im Wettkampf mit anderen Menschen auseinandersetzen und sie besiegen. Das klingt erst einmal militaristisch. Aber so hart ein Wettkampf auch sein mag, er kann nur unter friedlichen Bedingungen stattfinden und nur, wenn sich alle an gemeinsam festgelegte Regeln halten. Sonst ist es kein Sport.   

Krieg und Sport haben mehr gemeinsam, als wir denken?

Ja, wobei Krieg eben zum Ziel hat, den Gegner zu vernichten. Im Sport geht es nur um die Feststellung, dass man besser ist als der Gegner. Und das in einem klar festgesetzten Rahmen, den es im Krieg nicht gibt.

Friedlicher Wettstreit in Kriegszeiten

Um sich im Wettkampf zu messen, braucht es also einen friedlichen Rahmen. Aber woher kommt die Idee, Sport erhalte und fördere den Frieden auch außerhalb des Wettkampfs?

Der Sport macht es möglich, dass auch Angehörige kriegführender Nationen aufeinandertreffen, einen friedlichen Kampf austragen und sich danach wieder die Hand geben. Sie erinnern sich vielleicht an die Olympischen Spiele 2008 in Peking und den Krieg zwischen Georgien und Russland, der zu der Zeit stattfand. Bei einem der ersten Wettkämpfe, dem Pistolenschießen, gewannen eine Russin und eine Georgierin Silber und Bronze. Auf dem Podium umarmten sich diese Athletinnen und appellierten an die Öffentlichkeit, Frieden zu schließen. Das war eine sehr schöne symbolische Geste. Solche Gesten ermöglicht der Sport, wenn wir ihn als friedliche Auseinandersetzung verstehen.

Sport kann also Raum für friedliche Gesten bieten. Aber Frieden schaffen kann er nicht?

An Ihrer Frage gefällt mir nicht, dass Sie den Sport zum Akteur machen. „Der Sport“ kann gar nichts. Er ist ein Abstraktum. Allerdings können die Menschen, die im Tätigkeitsfeld Sport auftreten, für den Frieden einstehen. Das haben die beiden Athletinnen damals getan.

Für viele manifestiert sich die Friedenssymbolik des Sports in den Olympischen Spielen. Sie hingegen sind der Meinung, dass wir da etwas gründlich missverstehen. Haben wir eine falsche Idee vom olympischen Frieden?

Die Friedensidee der sogenannten olympischen Bewegung ist Propaganda. Pierre de Coubertin, der Erfinder der modernen Olympischen Spiele, hat sie mit historisch fragwürdiger Berufung auf die griechische Antike erzeugt. Seine Grundidee war stark mit dem Internationalismus verbunden. Die Nationen sollten in verschiedenen Disziplinen friedlich miteinander konkurrieren, das war das Ziel. Es war aber nicht die Idee des IOC, sich außerhalb des sportlichen Wettkampfs als Friedensorganisation hervorzutun. Es ging nur darum, friedlichen internationalen Wettbewerb zu ermöglichen.

Als Friedensorganisation gibt sich das IOC heute aber gerne aus.

Für mich ist das reine Propaganda. Mit der Vergabe der Spiele an Länder wie China hat das IOC bewiesen, dass es keine Friedensorganisation ist.

Zur Person

Claus Tiedemann, geboren 1941, vertrat Deutschland schon bei internationalen Segelregatten und Weltmeisterschaften. Neben seiner Sportlerkarriere studierte er Philosophie, Pädagogik, Griechisch, Latein, Geschichte und Sportwissenschaften in Tübingen und Hamburg. Von 1979 bis 2007 war er Professor für Sportwissenschaften an der Universität in Hamburg. Dort forschte er überwiegend zu gesellschaftswissenschaftlichen Aspekten von Bewegungskultur und Sport. Viele dieser Themen begleiten ihn bis heute. (fex)

Sie halten das IOC nicht mehr für einen glaubwürdigen Vertreter seiner eigenen Idee?

Ich finde, das IOC ist nie ein glaubwürdiger Vertreter seiner Idee gewesen. Denken Sie an die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Schon ein Jahr zuvor haben die Nationalsozialisten den Juden weitgehend alle bürgerlichen Rechte abgesprochen. In den USA, damals eine Weltmacht im Sport, wollten deshalb viele Athleten die Spiele boykottieren. Avery Brundage, der spätere IOC-Präsident, hat diese Bestrebungen hintertrieben. Das IOC war damals eine ziemlich reaktionäre Vereinigung, die zum Teil heftig sympathisiert hat mit den Nazis.

Den jetzigen Krieg Russlands gegen die Ukraine hat das IOC scharf verurteilt. Hilft das?

Es ist das Mindestmaß an anständiger Symbolik. Wenn das IOC diesen Krieg nicht verurteilt hätte, wäre es vor der Weltöffentlichkeit als völlig unglaubwürdig erschienen.

Sind Sie auch von Thomas Bach enttäuscht, dem aktuellen IOC-Präsidenten?

Ich halte ihn für einen ziemlich skrupellosen Menschen, der primär dafür sorgt, dass das IOC als Organisation genügend Geld einnimmt. Von seinem Standpunkt aus hat er Recht, sein Unrecht besteht in seinem Standpunkt.

Auch andere Sportverbände haben in den vergangenen Jahren sehr zu kämpfen gehabt mit ihrem Image. Woran liegt das?

Pauschal lässt sich das nicht beantworten. Da vermengen sich Interessenslagen, die zum Teil sehr unterschiedlich sind. Eines meine ich aber feststellen zu können: In vielen Sportorganisationen ist das politisch-kritische Bewusstsein unterentwickelt. Viele Verbände kriegen nicht mit, welche Konsequenzen ihr Handeln hat. Wenn ich hierzulande einen einzelnen Wettkampf mit einem russischen Sportler austrage und festzustellen versuche, wer in einer bestimmten Sportart der Bessere ist, dann ist das eine private Sache. Aber wenn ich als Weltverband einen Wettbewerb austrage, dann ist das öffentlich. Dann habe ich eine Verantwortung gegenüber der Weltöffentlichkeit und kann mich nicht darauf zurückziehen, dass ich ja nur Sport mache.

Im Ukraine-Krieg ist sich die internationale Sportpolitik erstaunlich einig. Wettkämpfe in Russland wurden abgesagt, russische Athleten ausgeschlossen. Ist diese Reaktion richtig?

Die Funktionäre auszuschließen, halte ich für richtig. Aber den Athleten die Chance zu nehmen, sich in einem friedlichen Rahmen sportlich zu messen, ist falsch. Leider ist so eine scharfe Trennung in der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln. Daher vermutlich die strikte Sanktionierung beider, der Athleten und der Funktionäre.

Ist das nicht ohnehin schwer umzusetzen? In Russland ist der organisierte Sport eng mit dem Staatsapparat verwoben.

Absolut. Hinzu kommt, dass in Russland mit großer Wahrscheinlichkeit gegen Dopingregeln verstoßen wurde. Deshalb sollte man immer den Einzelfall beurteilen.

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Und dann wäre eine Trennung zwischen Sportler- und Funktionärsebene denkbar?

Schwierig bleibt es trotzdem, weil man für die meisten internationalen Wettkämpfe Funktionäre braucht. So etwas können die Athleten nicht allein organisieren. Internationale Meisterschaften brauchen finanzstarke Verbände, die sich dann aber bitteschön in den Dienst der Athleten stellen. Leider tun sie das nicht. Die Verbände machen aus ihren Wettkämpfen eher ein Fest für Funktionäre.

Wenn der Krieg in der Ukraine hoffentlich bald ein Ende findet, welche Rolle kann der organisierte Sport dann in Friedenszeiten spielen?

Darüber möchte ich nicht spekulieren. Meine Vorstellung ergibt sich aus dem, was ich für die Grundnormen im Sport halte: Alle Sportler und auch die Funktionäre sollten sich dafür einsetzen, dass Frieden herrscht auf der Welt. Denn ohne Frieden kann kein Sport betrieben werden.

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