TabuthemaWenn Mütter ihre Familie verlassen

Lesezeit 11 Minuten
Etwas fehlt: Wenn Mütter ihre Familien verlassen. (Bild: Thinkstock, Montage: Behr)

Etwas fehlt: Wenn Mütter ihre Familien verlassen. (Bild: Thinkstock, Montage: Behr)

Petra Sager hat schon viele Kinder auf die Welt geholt. Sie hat Herztönen durch Bauchdecken gelauscht, sie hat Mütter durch Presswehen begleitet, dicke Bäuche, Nabelschnüre. Sie weiß mehr über die biologische Verbindung zwischen Mutter und Kind als viele. Sager ist Hebamme. Und selbst Mutter. Wenn auch eine, die anders ist. Als Töchterchen Lina (alle Namen von der Redaktion geändert) eineinhalb Jahre alt war, hat sich Sager von dem Vater ihres Kindes getrennt. Sie ist in eine andere Stadt gezogen, Lina blieb bei ihm. Heute ist Lina sechs, ihre Mutter hat vier Städte hinter sich, mittlerweile lebt sie in Köln. 450 Kilometer trennen die beiden im Moment. Sager hat ihre Tochter im Portemonnaie. Drei Fotos. Lina mit Rattenschwänzen, Lina im Sandkasten, Lina vor dem Kinderladen.

Hellblond, lachend, große Augen. Sager blättert die Bilder auf den Küchentisch. Und spricht dann über ein Gefühl, das noch lange in dieser Nippeser Küche hängen bleiben wird: „Das schlechte Gewissen“. Sagers Hände brühen Kaffee auf. Die Finger sind lang und schmal, hantieren bedächtig. Geduldige Hände. Keine Blumen auf dem Balkon im vierten Stock, da ist nur der hellblaue Frühlingshimmel. „Ich hatte ein total schlechtes Gewissen.“ Die 28-Jährige spricht langsam. Sie denkt viel nach zwischen ihren Sätzen, man hat Zeit, sich ihr Gesicht anzusehen. Steingraue Augen, hohe Stirn, eine sehr feine Nase, die bei bestimmten Konsonanten hüpft. „Die Frage nach dem Gewissen war immer zentral“, sagt Petra Sager.

Jugendliebe Daniel, Jazzmusiker, Harmonie, große Gefühle

Dann erzählt sie alles. Über diese Begebenheit, für deren Rechtfertigung knapp zweieinhalb Millionen Männern in Deutschland wenige Sätze genügen. Sie muss diesen Wendepunkt erklären, diesen Tag, an dem sie sich entschied, von ihrer Tochter weg in eine andere Stadt zu ziehen. Sie ist eine Frau. Eine Mutter. Sie darf nicht einfach gehen.

Sie muss ein bisschen Anlauf nehmen, ihr Leben zurückspulen um gute zehn Jahre, um alles noch einmal Revue passieren zu lassen. Die Jugendliebe Daniel, Jazzmusiker, Harmonie, große Gefühle, schwanger mit 20, bei der Abifeier mit kleinem Bauch. „Es war nicht super geplant, aber auch keine Überraschung. Ich wollte die Verbindung festigen, ein Kind mit ihm. Ich habe mich mega darauf gefreut.“ Daniel war ein skep-tischer werdender Vater. Musiker, Künstler. „Er hielt sich selbst für zu egoistisch, um das zu vereinbaren.“

Als Lina zur Welt kam, war dann alles anders. „Es war in der ersten Sekunde klar, dass sie mehr sein Kind ist als meins.“ Keine Spur von Neid in ihrer Stimme. Kein Vorwurf. Einfach eine Feststellung. Seine Haare, seine Augen, seine Statur. Wenn er sie auf dem Arm hat, ist sie ganz ruhig. „Für mich war es zu eng. Ich wollte schnell raus. Das habe ich schon im Wochenbett gemerkt.“ Eigentlich funktioniert alles ganz gut. Daniel entdeckt, dass seine Künstlernatur dieses Kind problemlos integrieren kann. Er nimmt sie im Körbchen mit in seinen Schlagzeug-Übungsraum, Petra Sager reißt derweil im Kino-Foyer Karten ab. Und doch: Es bleibt eng. „Ich wollte meinen eigenen Weg gehen.“„Es anders machen“.

Petra Sager will ihren Weg gehen, abseits der Straße. „Dieser Einheitstrott war mir ein Gräuel. Vor allem deshalb, weil ich spürte, dass die Menschen damit nicht glücklich sind.“ Also quer durch das Gebüsch. Ausbildungsplatz im hundert Kilometer entfernten Ingolstadt. Trennung. Ein anderer Mann, wenn auch nur kurz. Die Eineinhalbjährige bei Oma und Vater in Nürnberg. Weiter nach München, kurz zurück nach Nürnberg, Zwischenstopp mit ihrer neuen Liebe in Spanien und heute also Köln-Nippes. Wechselnde Jobs, eine Arbeit von neun bis fünf „ginge gar nicht“. Ein Leben auf dem Sprung, kein Alltag, kein Tag gleicht dem anderen. Petra Sager spricht bedächtig. Reflek-tiert. Sie dreht sich eine Zigarette. Das Papier knistert leise. Sie wird diese Zigarette mehrmals anzünden müssen. Sie raucht zu langsam. Immer wenn sie den nächsten Zug nehmen will, ist die Glut schon wieder erloschen. Ruhe im Kern. Ein fester äußerer Rahmen ist gar nicht so wichtig. Nicht für sie.

Warum wohnt Mama nicht bei uns

Für das Kind schon?Unkompliziert ist der Umgang heute mit Lina und deren Vater. Alle zwei Wochen fährt sie zu ihnen, bleibt dort fünf Tage. Ob Lina leidet? „Natürlich kommt sie jetzt in ein Alter, in dem sie anfängt zu fragen: Warum wohnt die Mama nicht bei uns wie bei allen anderen Kindern auch?“ Und dann ist da wieder das schlechte Gewissen. „Es ist schwer, ihr zu vermitteln, dass meine Wünsche die ihren immer schlagen.“ Petra Sager guckt in den Frühlingshimmel, ihre Augen bekommen etwas von seiner Farbe ab. Aber ihre Stimme ist fest, wenn sie sagt: „Ich hätte Lina eingeschränkt, wenn ich dageblieben wäre. Für ein Kind, das so impulsiv ist, wäre ich zu ängstlich. Mit ihm kann sie sich mehr ausprobieren. Daniel ist ganz offensichtlich besser geeignet, sie zu erziehen, als ich.“

Ist ein allein erziehender Vater ebenso gut für das Kind wie eine allein erziehende Mutter? Wer Sachliteratur zum Thema Scheidung und Trennung liest, findet in einem Großteil Kapitelüberschriften wie „Papa nur am Wochenende“, „Wenn Väter zu Fremden werden“ oder „Mutter-Kind-Bindung nach der Scheidung“. Der Fall, dass das Kind seinen Lebensmittelpunkt beim Vater haben könnte, wird selten behandelt. Zeug-nisse der Überzeugung „ein Kind gehört zur Mutter“. Der Erziehungswissenschaftler Christoph Paulus von der Universität Saarbrücken hält dagegen. Er hat untersucht, wie sich Kinder entwickeln, die nach einer Trennung beim Vater aufwachsen und das Ergebnis mit dem Befinden der Kinder verglichen, die von zwei Elternteilen groß gezogen werden. „Weder im Lebensbereich Schule noch Freizeit noch Familie gab es signifikante Unterschiede“, sagt Paulus. Lediglich pubertierende Mädchen wichen ein wenig ab. „Einige fühlen sich im Zwiespalt, weil sie denken, sie müssten jetzt die Rolle der Mutter übernehmen“, sagt der Erziehungswissenschaftler. Früher habe man immer gedacht, die Mutter-bindung sei durch das Stillen stärker. „Aber das Stillen spielt keine Rolle. Wichtig ist Körperkontakt, und den können Vater und Kind ebenso haben.“

Das schlechte Gewissen überdauert die Zahlen. Zu tief sitzt das Rollenbild. Kaum eine gesellschaftliche Rolle ist so mit Schuld und Erwartungen verbunden wie die der Mutter. Man kann in den Zeiten herumspringen, wie man will, überall finden sich Beispiele für die Ächtung der Mütter, die anders lebten als die Norm das vorschreibt. Im Mittelalter wurden Frauen, die ihre Kinder verließen, auf Marktplätzen ausge-peitscht. Natürlich, das Mittelalter ist längst vorbei. Aber noch vor sechzig Jahren bemühte selbst der US-Senat den Teufel als Schuldigen für das „unnatürliche Verhalten“ der Schauspielerin Ingrid Bergman, die Mann und Tochter verließ, als sie sich in den Regisseur Roberto Rossellini verliebte.

Bergman bezahlte ihre Liebe mit Kontaktverbot zu ihrer zehn Jahre alten Tochter Pia, mit Karriereeinbruch und einem Einreiseverbot in die USA. Senator Edwin C. Johnson spekulierte im Senat über eine „geistige Anomalie“ dieser in seinen Augen monströsen Frau, die ihr Leben nicht in den Dienst ihrer Tochter stellte. Es muss nicht erwähnt werden, dass beispielsweise Paul Newman, der nur wenige Jahre später seine erste Frau und die gemeinsamen drei Kinder verließ, um die Schauspielerin Joanne Woodward zu heiraten, nicht in den Verdacht geriet, nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Im Gegenteil: Titelgeschichten in Magazinen feierten ihn und seine neue Frau als Hollywoods Traumpaar.

Manchmal sind Kinder beim Vater besser aufgehoben

„Wenn man fragt »Was ist eine richtige Frau«, dann fällt vielen ein: diejenige, die ein Kind hat. Mannsein ist viel weniger eng mit Vater-schaft verknüpft. Da kommt einem eher der berufliche Erfolg in den Sinn“, sagt Doris Mathilde Lucke, Professorin für Soziologie an der Uni Bonn. Das Rollenbild ist aber nicht nur vereinbar mit dem aufopfernden, fürsorglichen Teil des Mutterseins. Es integriert auch einen Egoismus, der sich auf das Kind als Besitz erstreckt. Mütter, die ihr Kind aus seinem Umfeld reißen, es dem Vater entfremden, ernten mehr Verständnis als diejenigen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes etwa 300.000 deutschlandweit, die ihr Kind beim Vater zurücklassen. Lucke kann das nicht nachvollziehen. „Mich erinnert das an den Kaukasischen Kreidekreis. Diejenige, die das Kind wahrhaft liebte, lässt das Kind los, statt es um des Sieges willen zu verletzen. Manchmal ist das Kind eben beim Vater besser aufgehoben. Vielleicht ist der Vater bessergestellt, kann dem Kind mehr bieten. Vielleicht braucht sie Entlastung, um beruflich Fuß zu fassen. Das schlechte Gewissen, das diese Mütter haben, entbehrt jeder moralischen Grundlage.“

Und doch ist da diese gesellschaftliche Norm: Ein Kind gehört zur Mutter. Sie darf berufstätig sein, ja, das ist mittlerweile in fast allen Schichten Konsens. Aber im Notfall, bei einer Trennung, darf eine Frau ihr Kind nicht ziehen lassen. Sie muss kämpfen. Ein ganzes Land voller Löwinnen. Und dann ist da aber doch noch mehr als äußere Norm. Da ist auch ein Gefühl. „Vielleicht liegt es einfach an der anfänglichen exi-stenziellen Bindung. Immerhin: Ein Säugling würde in der Natur sterben ohne seine Mutter“, sagt die Hebamme Sager. Eine Sehnsucht, die mehr ist als ein Gefühl, die immer auch etwas Körperliches hat. Symbiose. „Viele meiner Hebammen-Kolleginnen haben mich für mein Tun verurteilt. Zu vielen Menschen habe ich den Kontakt abgebrochen. Ich konnte mich nicht auch noch rechtfertigen, wo ich ja selbst ein schlechtes Gewissen hatte“, sagt Sager. Ihre Mutter sagte: „Muss es denn gleich so weit weg sein?“ Daniels Vater hat die Kommunikation mit ihr einge-stellt. Immerhin: Daniel, der anfangs sehr unter der Trennung litt, hat ihr nie Vorwürfe gemacht. Im Gegenteil: „Er sagt, er leidet darunter, dass Menschen in seiner Umgebung meinen Schritt nicht nachvollziehen können und er gerühmt wird.“

Natürlich gehe es auch um Egoismus. „Ja, ich bin egoistisch. Aber ich finde das gesund. Bei meiner Hebammenausbildung war da eine ganze Armada von Frauen um mich, die ihren Beruf und ihr Leben hasste, aber immer sagte: Ich muss ja. Darunter leidet die Umgebung mindestens genauso wie unter einer egoistischen Frau.“ Aber wie egoistisch darf eine Frau sein, die sich einmal für ein Kind entschieden hat? Darf sie ihr Kind verlassen, nur weil nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 2,3 Millionen Männer dasselbe tun? Darf ihr Freiheitsdrang sie 450 Kilometer weit weg treiben?

„Ich bin eigentlich konservativ“

Für Katrin Schneider wäre das lange Jahre undenkbar gewesen. Als sie von zu Hause auszog, waren ihre Kinder 15 und 17 Jahre alt. „Früher wäre ich nicht gegangen. Nicht ohne sie.“ Schneider hat nicht gearbeitet, als ihre Kinder klein waren. Sie hat das gerne gemacht. „Der Narzissmus der Frau wird positiv gebrochen, wenn sie Mutter wird. Das fand ich gut. Es ist auch gut, wenn man sich nicht mehr ungebremst ausleben darf. Wenn man lernt, für andere da sein zu müssen.“ Verantwortung statt Unabhängigkeit. Selbstlosigkeit statt Egoismus. Mittragen statt durchziehen. Für Schneider sind diese Werte wichtig. „Ich bin eigentlich konservativ. Katholisch erzogen. Die Frau opfert sich für die Familie auf. So habe ich das von meiner Mutter vorgelebt bekommen.“

Dass sich irgendwann etwas verändert hat, schuldete sie weniger ihrem Streben nach Selbstverwirklichung. Es war eher ein pragmatischer Grund, der die Dinge ins Rollen brachte: Geld. „Mein Mann ist Freiberufler, wir lebten jahrelang am Rande des Existenzminimums. Irgendwann kam ich auf die Idee, etwas hinzuzuverdienen.“ Schneider hängt sich rein, macht mit Ende dreißig noch eine Ausbildung zur Verlagskauffrau, ist erfolgreich, wird zur Hauptverdienerin. „Unsere Lebensperspektiven gingen dadurch einfach auseinander. Der Druck für mich war sehr groß. Ihn setzte es umgekehrt massiv unter Druck, dass ich so erfolgreich war. Ich habe immer versucht, ihm alles abzunehmen, damit er sich nicht als Hausmann fühlt. Da ging der Respekt verloren. Damit habe ich meine Kräfte aber vollkommen überfordert.“ Schneider ist eine kleine Frau, Ende 40, herzförmiges Gesicht, die Augen sind die eines traurigen Clowns. Irgendwann kam der Satz: „Es geht nicht mehr.“

Schneider nimmt sich eine kleine Wohnung in der Nähe, zurückgekehrt ist sie nie. Aber immer noch ist da die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, die sie quält: „Darf ich mein Glück suchen – und dabei drei mir lieben Menschen sehr wehtun?“Viel Verständnis erlebt Schneider nicht. Ihr Mann bricht jegliche Kommunikation ab; Tochter und Sohn beschuldigen sie, die Familie kaputt gemacht zu haben. Es war doch alles so rund und schön. „Aber eben nicht mehr für mich.“ Heute, eineinhalb Jahre nach der Trennung, beschränkt sich ihr Kontakt zu den Kindern auf eine Stunde wöchentlich in einer Kneipe. „Zu Hause besuchen sie mich nicht. Schließlich bin ich die Böse, die den Papa alleine gelassen hat. Sie wollen nicht wahrhaben, dass ich in einem neuen Leben lebe, dass es mir jetzt so viel besser geht.“ Für Schneider gab es aber keinen anderen Weg. „Ich wollte so wenig wie möglich von ihrem Alltag zerstören. Ich wollte auch meinen Mann nicht in die Wüste schicken. Aber ich musste weg. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte zu lange versucht, es allen Recht zu machen, hatte einfach durchgehalten. Immer gedacht: Ich mach ja, ich schaff ja.“

Kinder im Loyalitätskonflikt

Dass Kinder in der Pubertät sich auf eine Seite schlagen, beobachtet Elke Josten, Diplom-Pädagogin bei der Ambulanten Jugendhilfe der „AWO Der Sommerberg“ häufig. „Die Kinder geraten in einen Loyalitätskonflikt und entscheiden sich dann für eine Wahrheit. Kleinere Kinder versuchen meist, zu beiden Elternteilen den Zugang zu erhalten“, sagt Josten. Wenn das Kind beim Vater bleibt, spiele meist der Wille des Kindes eine entscheidende Rolle. „Für die Mutter ist das sehr schlimm, schließlich hat sie das Kind geboren. Häufig begründen sie gegenüber Freunden und Verwandten ihr Weggehen mit beruflichen Gründen, um ihren Schmerz nicht zeigen zu müssen.“

KStA abonnieren