Verurteilte will neuen Prozess

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Sie soll sechs Menschen vergiftet haben. Dafür erhielt Marianne Nölle zweimal lebenslänglich. Derzeit kämpfen die ehemalige Altenpflegerin (65) und ihr Anwalt um eine Neuauflage des Mordprozesses.

Einer der Aufsehen erregendsten Prozesse der jüngeren Kölner Justizgeschichte wird möglicherweise neu aufgerollt: Strafverteidiger Klaus Hindelang hat beim Landgericht in Aachen die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die ungelernte Altenpflegerin Marianne Nölle beantragt.

Seit zehn Jahren sitzt die 65-jährige Kölnerin im Gefängnis. Nach einem monatelangen Indizienprozess war sie zu zweimal lebenslänglich wegen sechsfachen Mordes verurteilt worden. Das Gericht hatte sie für schuldig befunden, zwischen 1986 und 1991 sechs von ihr betreute Menschen aus Habgier mit einer Überdosis des Beruhigungsmittels Truxal vergiftet zu haben.

Die wegen Diebstahls und Unterschlagung mehrfach vorbestrafte Altenhelferin war nach dem Tod ihrer Patientin Margarete Euler (89) im Frühjahr 1991 verhaftet worden. Im Krankenhaus war festgestellt worden, dass Frau Euler einer Lungenentzündung erlag. Bei einer Obduktion fand der Rechtsmediziner eine erhöhte Konzentration des Psycho-Pharmaka-Bestandteils Chlorprothixen. Vier Behälter mit dem Präparat hatten die Ermittler seinerzeit im Haushalt der ambulant tätigen Pflegerin gefunden. Weitere Leichname ehemaliger Patienten wurden darauf hin exhumiert. Bei fünf weiteren Fällen entdeckten die Rechtsmediziner Rückstände von Chlorprothixen, mitunter vermischt mit dem Beruhigungsmittel Diazepam. Ferner stellten Kripo-Beamten in der Wohnung Nölles Schmuckstücke der Opfer sicher.

Mehr als 100 Zeugen wurden während des Prozesses gehört; am Ende gaben die medizinischen Gutachter den Ausschlag. Die Richter folgerten: „Frau Nölle verabreichte in sechs Fällen eine tödliche Dosis, ohne dass in der Hauptverhandlung geklärt werden konnte, wie sie dies bewirkte.“ Der Prozess ließ also die Frage offen, wie die Opfer das Beruhigungsmittel Truxal zu sich genommen hatten. Das Urteil wurde 1994 rechtskräftig, nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) die Revision der Verteidiger verworfen hatte.

Ein neues, vom Rechtsanwalt der verurteilten Altenpflegerin in Auftrag gegebenes Gutachten, zieht nun die Ergebnisse der damaligen Expertisen in Zweifel. Der Strafverteidiger Klaus Hindelang beauftragte den Lübecker Toxikologen Prof. Claus-Peter Siegers mit einem neuen Gutachten. „Damals im Prozess war es ein Knackpunkt gewesen, dass die Richter auf die Hinzuziehung eines speziellen Toxikologen verzichtet hatten“, erläuterte Hindelang im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ seinen Vorstoß. Ein solcher Experte für Gifte und deren Wirkung auf den Organismus wäre aber nach Ansicht des Anwalts dringend nötig gewesen.

Das Gericht hatte sich seinerzeit in der Hauptsache auf die Analysen der beiden renommierten Kölner Rechtsmediziner Prof. Michael Staak und Prof. Herbert Käferstein gestützt. „Das waren Allgemeinmediziner, die keine Erfahrung mit der Frage der Überdosierung von Chlorprothixen besaßen“, meint Hindelang. In der Urteilsbegründung kam die Kammer zum gleichen Ergebnis, umschiffte aber die Klippe, in dem man ausführte, dass die Gutachter sich durch die Lektüre entsprechender wissenschaftlicher Abhandlungen über die Wirkung des Präparats ausreichend kundig gemacht hätten.

Die Sachverständigen hatten in den untersuchten Leichen der Opfer Rückstände von Chlorprothixen gefunden. Da der Tod der exhumierten Menschen meist längere Zeit zurück lag, hätten die Mediziner die tatsächliche verabreichte Dosis geschätzt, argumentiert der Nölle-Anwalt. Mit Hilfe von in der Fachliteratur aufgeführten tödlich verlaufenen Vergiftungsfällen habe ein Experte dann für Chlorprothixen eine tödliche Dosis von zwei Gramm hochgerechnet.

Dieses Verfahren greift der Lübecker Toxikologe Siegers nun in seinem jüngsten Gutachten an. Seiner Meinung nach ist zum einen eine solche Rückrechnung selbst nach den „heutigen medizinisch-toxikologischen Erkenntnissen in verlässlicher Weise nicht möglich“.

Zum anderen seien die von den Kölnern Rechtsmedizinern aus der Literatur zitierten Todesfälle „weder vom Alter noch wegen Gründen einer Mischvergiftung“ mit dem Todesfall Euler, der die Ermittlungen gegen ihre Pflegerin Nölle auslöste, „zu vergleichen“. Überdies gebe es bis heute keine sicheren Angaben zu tödlichen Dosen des Mittels.

Frau Euler litt zum Todeszeitpunkt unter schwerer Diabetes. Herz, Leber und Niere arbeiteten nicht mehr einwandfrei, so der Gutachter. Wegen der Mehrfacherkrankung könne der Konsum des Beruhigungsmittels „nicht als alleinige Todesursache angesehen werden“. Vor diesem Hintergrund zieht der Toxikologe auch die „gerichtsmedizinischen Feststellungen bezüglich der anderen Todesfälle in Zweifel“.

Monatelangen Recherchen des Nölle-Verteidigers bei allen deutschen Giftzentren förderten zudem bemerkenswerte Ergebnisse zutage: Seit 1996 sei kein Mensch an einer Chlorprothixen-Vergiftung gestorben, erläutert der Anwalt. „Dabei lagen die Konzentrationen um das bis zu Vierfache höher als die im Fall Nölle geschätzte Todesdosis.“ Auf dieser Grundlage hat Klaus Hindelang beantragt, das Verfahren wieder aufzunehmen und bis dahin die Vollstreckung des Urteils zu unterbrechen.

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