Wenn der Körper aus dem Takt gerät

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Über sieben Jahre zog sich Sabine Henselers Ärzte-Odyssee hin: Hausarzt, Herzspezialist, Psychologe, Heilpraktikerin, Rheumatologe . . . Keiner konnte ihr sagen, was mit ihr los war. Die heute 40-jährige Kölnerin fühlte sich häufig elend, sie hatte Gliederschmerzen, ein irritierendes „Rauschen im Kopf“, heftige Blähungen, eine chronisch verstopfte Nase. Ihr Gesicht lief oft rot an, die Haut juckte, und sie schlief schlecht - kein Arzt konnte sich einen Reim darauf machen. Zwar wurde im Zuge des Mediziner-Marathons eine Laktose-Unverträglichkeit diagnostiziert, doch führte der Verzicht auf Milchprodukte nicht dazu, dass Sabine Henseler sich grundlegend besser fühlte. Sie fing an, darüber Buch zu führen, welche Lebensmittel ihre Symptome verschlimmerten, und schilderte die Ergebnisse der Allergologin, bei der sie inzwischen in Behandlung war. Diese Ärztin fand nun vor wenigen Monaten heraus, dass eine Histamin-Intoleranz die Beschwerden auslöst.

Die Symptome

Drei Magen- und drei Darmspiegelungen, allesamt ohne Befund, hatte Stefan Börner (Name geändert) aus dem Eifel-Städtchen Kall bereits hinter sich, als er vor anderthalb Jahren in der Uniklinik Bonn dieselbe Diagnose gestellt bekam. Auch er war „von Pontius zu Pilatus“ gelaufen, um herauszufinden, warum es ihm oft so schlecht ging: Herzrasen, starke Durchfälle, Nackenverspannungen, Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, triefende Nase, tränende Augen - all das schien auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen, gehört aber, wie der 32-Jährige heute weiß, zu ein und demselben Krankheitsbild.

Die Auslöser

Die Histamin-Intoleranz ist eine so genannte Pseudo-Allergie. Die Symptome werden durch diverse Nahrungsmittel und Getränke ausgelöst: Lange gereifte oder gelagerte Lebensmittel wie alter Käse, Salami und luftgetrockneter Schinken, Meeresfrüchte, Fisch und Fleisch, wenn sie nicht mehr ganz frisch sind, Konserven oder auch Sauerkraut enthalten viel Histamin. Bei den Getränken sind vor allem Rotwein, Sekt und Bier zu nennen. Histamin bewirkt, dass glatte Muskeln etwa im Darm oder in der Gebärmutter sich zusammenziehen, es löst Reaktionen in den Atemwegen und in der Haut aus. Es weitet die Blutgefäße und ist an der Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus beteiligt. Es kann den Organismus gehörig aus dem Takt bringen, wenn es in zu hoher Dosierung im Körper zirkuliert. Bei gesunden Menschen wird überschüssiges Histamin aus der Nahrung im Darm gebunden und ausgeschieden. Ist jedoch das dafür benötigte Enzym Diaminooxidase nicht in ausreichender Menge vorhanden, gelangt zu viel Histamin in den Organismus und löst vielfältige Befindlichkeitsstörungen aus, die auf den ersten Blick wie allergische Symptome aussehen.

Die Diagnose

Die Diagnose der Histamin-Intoleranz wird dadurch erschwert, dass die Reaktionen individuell sehr unterschiedlich ausfallen. Über Verdauungsprobleme und über Kopfschmerzen bis hin zu Migräne-Anfällen berichten jedoch fast alle Betroffenen. „Einige Histamin-Intoleranz-Patienten beschreiben es so, dass sie sich fühlen, als hätten sie einen Kater - und das, obwohl sie gar keinen Alkohol getrunken haben“, sagt Dr. Norbert K. Mülleneisen, Allergologe aus Leverkusen. Er kam durch einen Patienten, der klagte, dass es ihm bereits nach ein oder zwei Kölsch schlecht gehe, auf die Idee, den Histamin-Gehalt verschiedener Biermarken zu bestimmen. Gemeinsam mit einem Laborarzt fand er heraus, dass manche Kölsch-Sorten deutlich mehr Histamin enthalten als andere und entsprechend schlechter vertragen werden.

Die Ursachen

Die Ursachen für die Enzym-Störung, die der Histamin-Intoleranz zugrunde liegt, sind noch nicht vollständig erforscht. „Die Produktion der Diaminooxidase kann als Folge einer Darmerkrankung geschädigt sein“, sagt Laura Maintz, die an der Bonner Uniklinik eine Histamin-Intoleranz-Sprechstunde betreut. Dazu kämen aber auch viele andere Faktoren: „Alkohol und einige Medikamenten-Wirkstoffe haben einen starken Einfluss.“ Auch Hormone spielen wohl eine Rolle: „Die Symptome werden bei den Frauen abhängig vom Zyklus stärker oder schwächer“, erläutert Maintz. Es gebe zudem Hinweise, dass bei einem Teil der Betroffenen eine genetische Veranlagung dahintersteckt.

Die Behandlung

Etwa ein Prozent der Bevölkerung, schätzt man, ist betroffen, Frauen mindestens doppelt so häufig wie Männer. Die Einnahme von Vitamin B6 und Vitamin C scheint bei manchen Patienten zu helfen, den Stoffwechsel zu stabilisieren. Stefan Börner jedoch hat die Vitamine ausprobiert und keine Besserung bemerkt. Er nimmt nun regelmäßig ein Präparat, das seinem Darm Diaminooxidase zuführt, und eines, das das Histamin im Körper unschädlich macht. „Damit geht es mir im Großen und Ganzen gut, aber ich muss nach wie vor sehr aufpassen, was ich esse und trinke, sonst entgleist das Ganze schnell wieder“, berichtet der 32-Jährige. Er müsse sich zum Beispiel gut überlegen, ob er sich auf einer Party mal ein, zwei Bier genehmige. „Das könnte mich wieder einen halben Tag kosten, an dem ich kaum zu gebrauchen bin.“ Stefan Börner hat den Eindruck, dass die Histamin-Reaktionen bei ihm phasenweise nachlassen, dann aber in Schüben wieder schlimmer werden.

Auch Sabine Henseler hat gelernt, mit ihrer Krankheit zu leben. Sie nimmt bisher keine Medikamente, sondern versucht, die Beschwerden alleine durch konsequente Ernährungsumstellung in den Griff zu bekommen. Auf Rotwein verzichtet sie völlig, nur ganz selten genehmigt sie sich ein halbes Kölsch, sie isst keine Tomaten und keinen Serrano-Schinken, lässt die Schokolade weg und auch den Dosen-Thunfisch. „Es geht mir ein paar Tage ganz gut, dann, je nach Tagesform und je nachdem, was ich gegessen habe, geht es wieder los“, berichtet sie. „Ich bin schon sehr eingeschränkt, denn ich kann nie unbeschwert zugreifen, wenn ich irgendwo eingeladen bin oder auswärts esse.“ Tragischerweise arbeitet die 40-Jährige in der Feinkost-Abteilung eines Kaufhauses an der Käsetheke, umringt von vielen leckeren, lange gereiften Käse-Spezialitäten - die sie selbst nicht essen darf.

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