Ehrenamtliche VormundschaftHilfe für geflüchtete Teenager

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Milad, 18, aus dem Iran und seine ehrenamtliche Vormundin Hanna Dirk aus Bensberg stehen vor der St. Mauritius Kirche in Köln.

Hanna Dirk hat die ehrenamtliche Vormundschaft für Milad übernommen, der vor zwei Jahren als unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter nach Köln kam.

Unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die mutterseelenallein in Deutschland ankommen, brauchen Unterstützung - etwa von ehrenamtlichen Vormündern, die auch in Köln dringend gesucht werden.

Wenn die Verbindung es zulässt, schickt Milad seiner Mutter jeden Abend ein Herz-Emoji in den Iran. Damit sie weiß, dass es ihm gut geht. „Wörter würde sie nicht verstehen, sie ist Analphabetin“, sagt der 18-Jährige. Und seine sonst so strahlenden Augen trüben sich für einen Moment. Wie immer, wenn er daran erinnert wird, dass ihn tausende Kilometer von seiner Familie trennen. Schon fast vier Jahre lang.

Geflüchtet, um Schule zu besuchen 

Damals hat Milad, 15-jährig und alleine, seine Heimat verlassen, war zwei Jahre und mehr als 5000 Kilometer auf der Flucht, bis er im Juni 2021 Köln erreicht. Viel kann der Teenager nicht von der riskanten Reise erzählen, zu traumatisch waren die Erlebnisse, die er nur mit einem Ziel vor Augen überstanden hat: Deutschland zu erreichen! „Wegen der Schule“, sagt Milad und wendet seinen Blick, wie so häufig an diesem Nachmittag, zu Hanna Dirk. Seine Augen verraten, dass er sich auf das Glück besinnt, dass ihm, trotz aller Traumata, widerfahren ist. Und er – auch dank seiner ehrenamtlichen Vormündin – seinem Lebensziel schon ein großes Stück näher gekommen ist: Bildung zu erfahren.

Minderjährig und alleine auf der Flucht

Milad ist, beziehungsweise war, bei seiner Ankunft in Köln, einer von geschätzten 4700 unbegleiteten, minderjährigen Geflüchteten allein in NRW, die – wie alle anderen Unter-18-Jährigen, deren Eltern nicht in der Lage sind, Verantwortung für sie zu übernehmen – von Gesetz wegen einen Vormund brauchen, der sie in rechtlichen Angelegenheiten vertritt. So viel zur nüchternen juristischen Definition.

Die sprachliche Herleitung kommt der Aufgabe, die Dirk seit Oktober 2021 als ehrenamtliche Vormündin erfüllt, deutlich näher. Althochdeutsch bedeutet der Begriff nämlich so viel wie „jemand, der die Hand schützend über etwas hält.“ So versteht sich auch Hanna Dirk, wie sie selbst sagt, „eher als Milads Beschützerin, im Sinne von Begleiterin und Fürsprecherin, auch über seinen 18. Geburtstag hinaus.“

Unsere Intention ist die Betreuung und Begleitung der Mündel über die Volljährigkeit hinaus
Hildegard Stapper, Sozialdienst katholischer Frauen Köln (SkF)

Genau das ist das erklärte Ziel des „Netzwerks Ehrenamtliche Einzelvormundschaft Köln“, für das Hanna Dirk ehrenamtlich aktiv ist – eine Kooperation des „Sozialdienstes katholischer Frauen e.V.“ (SkF) und des Vereins „Auf Achse Treberhilfe“ mit dem Jugendamt der Stadt Köln. „Nach-Beeltern“ nennt Hildegard Stapper die Intention des Netzwerks und meint damit, die Betreuung und Begleitung der „Mündel“, also der Jugendlichen über deren Volljährigkeit hinaus – „insofern die Beziehung stimmt und die Jugendlichen selbst bereit dazu sind“, sagt Stapper. Die Diplom-Sozialarbeiterin ist beim SkF zuständig für die Gewinnung, Schulung und Begleitung von ehrenamtlichen Vormündern.

Milad, 18, aus dem Iran und seine ehrenamtliche Vormundin Hanna Dirk aus Bensberg stehen vor der St. Mauritius Kirche in Köln

Ein gutes Team seit eineinhalb Jahren: Milad aus dem Iran und seine Vormundin Hanna Dirk aus Bensberg.

Die vier Formen der Vormundschaft

Hierzulande gibt es vier Formen der Vormundschaft. Bei der Amtsvormundschaft wird das Jugendamt zum Vormund bestellt, das diese Aufgabe auf einzelne seiner Beamten oder Angestellten überträgt. Daneben gibt es Berufsvormünder, die die Tätigkeit gegen Bezahlung auf selbstständiger Basis ausüben und die Vormundschaftsvereine wie den SkF oder „Auf Achse“, bei denen hauptamtliche Mitarbeitende Vormundschaften führen, aber eben auch Ehrenamtliche wie Hanna Dirk und 31 weitere Personen, die vom Kölner Netzwerk ausgebildet und betreut werden.

„Das Problem ist, dass die hauptamtlichen Vormünder nur wenige Termine pro Monat für ihre Mündel ermöglichen können“, sagt Hildegard Stapper. Eine persönliche Beziehung sei dann bei allem Engagement schwer zu gestalten. Hinzukommt, dass Berufsvormünder ihre Aufgabe mit der Volljährigkeit des Mündels abgeben müssen.

Zu jung auf sich alleine gestellt: Careleaver

Dann sind die sogenannten „Careleaver“ auf sich alleine gestellt. Der Begriff stammt aus dem Englischen und heißt wortwörtlich übersetzt „Fürsorge-Verlasser“. Gemeint sind Jugendliche, die mit ihrem 18. Geburtstag die Kinder- und Jugendhilfe, beispielsweise Pflegefamilien oder Wohngruppen, verlassen. Und den Weg in ein selbstbestimmtes Leben mitsamt den damit einhergehenden Herausforderungen alleine bewältigen müssen.

Unser Hilfesystem ist an vielen Stellen kompliziert, unpersönlich und verbunden mit einem Bürokratiewust, den selbst Menschen nicht durchschauen, die hier aufgewachsen sind
Hildegard Stapper, SkF Köln

„Unser Hilfesystem ist an vielen Stellen kompliziert, unpersönlich und verbunden mit einem Bürokratiewust, den selbst Menschen nicht durchschauen, die hier aufgewachsen sind“, sagt Stapper. Wohl auch deshalb hat die Politik eine Vormundschaftsreform auf den Weg gebracht, die seit Beginn dieses Jahres ehrenamtliche Vormundschaften in den Vordergrund stellt. Und somit indirekt auch Milad und Hanna Dirk im Oktober 2021 zusammenbrachte. Denn nach seiner Ankunft im Juni 2021 wurde dem damals 17-Jährigen zunächst ein Amtsvormund zugeteilt.

In nur zwei Monaten zum ehrenamtlichen Vormund

 „Ich stand nach meiner zweimonatigen Fortbildung zur ehrenamtlichen Vormundin in den Startlöchern, musste aber noch vier Monate warten, bis ich Milad endlich kennenlernen durfte. Wir verständigten und anfangs mit Händen, Füßen und einem Übersetzungsprogramm im Internet, aber er lernte sehr schnell“, sagt Dirk. Lernen dürfen ist Milads Mission. Seit Kindestagen an, doch die verbrachte er auf der Straße.

  • Zweimal im Jahr bildet das „Netzwerk Ehrenamtliche Einzelvormundschaft Köln“ Interessierte aus. Sie erhalten eine zweimonatige Schulung (meist verteilt auf vier Module), in der es u.a. um die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt und dem Gericht geht, um Asyl- und Ausländerrecht.
  • Die Schulung startet mit einer Informationsveranstaltung über das Anforderungsprofil an die Vormundschaft und die Arbeit an sich.
  • Der nächste Informationsabend ist am 27. Februar, 18 bis 20 Uhr, in der Geschäftsstelle des SkF, Mauritiussteinweg 77-79, Köln (Nähe Neumarkt)

Als Sohn einer geflüchteten afghanischen Familie bleibt ihm der Schulbesuch im Iran verwehrt. Milad verkauft Schokolade und andere Süßigkeiten, statt die Grundschule zu besuchen. Doch der Junge hält an seinem Wunsch fest: Mit zehn Jahren finanziert ihm seine Familie die Teilnahme an einem Kurs, in dem er das Nötigste lernt: Lesen und Schreiben. Seiner Sehnsucht nach Bildung, seiner hohen Motivation und auch Hanna Dirk ist es zu verdanken, dass Milad inzwischen kurz vor dem Hauptschulabschluss steht, anschließend das Berufskolleg Humboldtstraße besuchen möchte, um dort die Mittlere Reife zu machen, die eine Voraussetzung ist für seinen Traumberuf: Physiotherapeut.

Appartement in Köln gesucht

Mindestens einmal in der Woche, manchmal auch drei- bis viermal, treffen sich die beiden. „Der Sonntag ist unser Tag, dann hilft mir Hanna bei den Hausaufgaben und anschließend kochen wir gemeinsam.“ Auch Ausflüge in Museen, Zoos, Städte, Kinobesuche und Feten stehen auf dem Programm – neben Behördenkontakten (etwa zum Jugend-, Ausländeramt oder Jobcenter), Arzt- und Schulbesuchen und Wohnungssuche. „Milad wünscht sich sehnlichst ein eigenes Appartement“, sagt Dirk, „vielleicht meldet sich ja jemand, der ihm eins vermieten kann.“

Milad ist ein Geschenk des Himmels, unser Kontakt ist so bereichernd, wie ich es mir nie hätte träumen lassen
Hanna Dirk, ehrenamtliche Vormundin

Derzeit wohnt Milad gemeinsam mit rund 50 jungen Menschen aus verschiedenen Nationen im Nikolaus-Groß-Haus. Das Leben im Jugendwohnheim habe ihm das Eingewöhnen in Köln erleichtert, doch die Zeit sei reif für ein wenig Privatheit und ein selbstbestimmtes Leben.

Auf die Frage, was Milad an Hanna Dirks ehrenamtlichen Aufgabe am meisten schätzt, lässt die Antwort nicht lange auf sich warten: „Alles, sie ist wie eine Mutter für mich, ich habe ihr viel zu verdanken, eigentlich alles“. Was offenbar auf Gegenseitigkeit beruht: „Milad ist ein Geschenk des Himmels, unser Kontakt ist so bereichernd, wie ich es mir nie hätte träumen lassen“, sagt Hanna Dirk, und kommt auf die Motivation ihrer Vormundschaftsarbeit zu sprechen: „Unbegleitete minderjährige Geflohene in Empfang zu nehmen, sie ein Stück weit ins eigene Leben zu lassen und dafür zu sorgen, dass sie Anteil haben an der Gesellschaft, gibt viel Sinn.“

Bilderbuchreife Integrationsarbeit

Als bilderbuchreife Integrationsarbeit lobt Stapper dieses Engagement, das uns allen zugutekomme. „Denn wer integriert ist, teilnimmt, mitgestaltet und mitbestimmen kann, hat ein größeres Zugehörigkeits- und Verantwortungsgefühl für das Gemeinwesen.“ Wer Milad und Hanna Dirk eine Weile miteinander erlebt, möchte wetten, dass künftig auch Hanna täglich ein Herz-Emoji erhält.

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