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SchulverweigererDiese Hilfe bietet ein Hürther Projekt

Lesezeit 4 Minuten
Ein Schuljunge sitzt vor seinem Schulranzen und hält seinen Kopf zwischen den Armen

Schulschwänzer sind nicht gleich Schulverweigerer. Den Unterschied zu kennen, hilft bei der Problemlösung.

Vier Prozent aller Schüler haben eine Schulphobie. Im Interview erklärt ein Kölner Experte, wie er versucht, Schulverweigerer wieder in den Unterricht zu bringen.    

Herr Reisdorf, laut einer aktuellen Bertelsmann-Studie verlassen rund 47500 Jugendliche eines Altersjahrgangs, also rund zehn Prozent, die Schule ohne Abschluss. Sind sie alle Schulverweigerer?

Hartmut Reisdorf: Nein, natürlich gibt es auch die Schüler, die keinen Abschluss schaffen. Es ist zwischen Schulschwänzern und Schulverweigerern zu unterscheiden. Schulschwänzer haben Null Bock auf Schule, verlassen das Elternhaus und treiben sich herum. Aber sie gehen irgendwann wieder zur Schule. Die Verweigerer, rund vier Prozent der Schüler, verlassen zum Teil über Monate nicht ihr Zimmer und lassen sich auch durch die Androhung von Strafmaßnahmen nicht motivieren.

Eltern sind oft überfordert, weil sie den diagnostischen Unterschied zwischen Schwänzen und Verweigern nicht kennen
Hartmut Reisdorf, „Comeback“-Leiter

„Trotz Schulpflicht? Da müsste doch der Staat eingreifen!“

In vielen Schulen fehlt leider ein Überblick über die einzelnen Fehlzeiten. Bei Abwesenheitszeiten von 20 Prozent sollten die Alarmglocken läuten, doch die Schulen haben kein Monitoring. Die medizinischen Systeme reagieren auch zu spät und die Eltern sind nicht selten überfordert, weil die wenigsten den diagnostischen Unterschied zwischen Schwänzen und Verweigern kennen.

Seit einem Jahr versuchen Sie mit Ihrem Projekt „Comeback“, Verweigerer wieder in die Schule zu bringen. Wie genau?

Unser Angebot ist niedrigschwellig. Der Unterricht findet in kleinen Gruppen statt, jedoch ohne schulischen Charakter. Wir holen die Kinder und Jugendlichen bis spätestens 9 Uhr zu Hause ab und bringen sie um 13 Uhr wieder zurück. Zwei psychologische Mitarbeitende und eine Lehrkraft kümmern sich um die Verweigerer. Wir bieten einen strukturierten Tagesablauf und fördern die Begabungen jedes und jeder Einzelnen, um vorhandene Ressourcen zu aktivieren.

80 Prozent der Schulverweigernden sind Mädchen

Weshalb verweigern diese jungen Menschen den Schulbesuch?

Die Ursachen sind vielschichtig, manchmal ist Mobbing seitens der Lehrer oder der Mitschüler Grund für die Verweigerung, aber auch Leistungsdruck, die Trennung der Eltern und vieles mehr können ursächlich sein.

Wie Schulangst?

80 Prozent der Verweigernden sind Mädchen, sie sind weitaus verletzlicher als Jungen, ziehen sich auch eher völlig zurück oder flüchten in die Selbstverletzung. Wir hatten ein Mädchen, das seit 15 Monaten ihr Zimmer nicht verlassen hat und auch wir haben es nicht geschafft, sie aus dem Bett zu holen. Wir haben die 15-Jährige regelmäßig besucht und meist schlafend vorgefunden. In Absprache mit den Eltern und dem Jugendamt haben wir eine Prüfung auf Kindeswohlgefährdung beantragt.

Mehr Selbstbewusstsein und Zuverlässigkeit durch Hürther Projekt

Gibt es auch Erfolgsmeldungen?

Zum Beispiel geht ein 15-Jähriger wieder zur Schule, der nach eigener Aussage durch unser Projekt gelernt hat, sich mehr zuzutrauen, Fragen zu stellen und sicher mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren. Außerdem hat er Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit einüben können. Und noch ein betroffenes Kind haben wir wieder in die Schule gebracht.


„Comeback“ - Hilfe für Schulverweigerer in Hürth 

  • Der Hürther Verein „Perspektiven für Kinder, ein freier Träger der Jugendhilfe, wurde vor 15 Jahren von dem Diplom-Sozialpädagogen und psychoanalytisch-systemischen Therapeuten Hartmut Reisdorf und seiner Frau gegründet – mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche gemeinsam mit ihren Eltern zu fördern und sie für die (berufliche) Zukunft starkzumachen.
  • Angeboten werden psycho-soziale Leistungen im Rahmen von Angeboten der Erziehungshilfe, Unterstützung von Pflege-, Fachfamilien und Familiäre Bereitschaftsbetreuung. Die Kosten übernimmt das Jugendamt.
  • Das Projekt „Comeback“ richtet sich – in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt und weiterführenden Schulen der Stadt Hürth – an schulverweigernde Kinder und Jugendliche, deren Familien und wird über Spenden – unter anderem von „wir helfen“ – und die Stadt Hürth finanziert.

In Hürth gibt es aktuell 50 Schulverweigerer. Sind Sie mit zwei Jugendlichen, die sie wieder beschulbar gemacht haben, zufrieden?

Wir sind das einzige Projekt im Rhein-Erft-Kreis, das sich um Schulabsentisten kümmert. Wir könnten noch mehr bewegen, aber uns fehlt das Personal. In den laufenden Kursen haben wir Schüler aus fünf weiterführenden Schulen in Hürth. Doch die sind nicht in der Lage, uns eine Lehrkraft für acht Stunden pro Woche zu stellen. Deshalb sind wir auf externe Hilfe angewiesen: Aktuell finanzieren wir die Lehrkraft das ganze Jahr über dank der Spende von „wir helfen“.

Es braucht eine Früherkennung und einen besseren Informationsaustausch zwischen den Lehrkräften und Schulsozialarbeitern
Hartmut Reisdorf, Systemischer Therapeut

Wann eine Rückkehr immer unwahrscheinlicher wird

Heißt das, Schulabsentismus wird von den Verantwortlichen nicht ernst genug genommen?

Das größte Problem ist der chronische Schulabsentismus, was bedeutet: Je länger ein Schüler oder eine Schülerin dem Unterricht fernbleibt, desto größter wird das Risiko, dass diese Person niemals einen Schulabschluss schafft. Die Bildungsdefizite werden zunehmend zu unüberwindbaren Barrieren, die größer werdende Distanz zu allen schulischen Belangen macht eine Rückkehr immer unwahrscheinlicher.

Was muss passieren?

Um die Chancen dieser Jugendlichen auf einen Schulabschluss und damit auf eine Ausbildung oder ein Studium zu verbessern, braucht es eine Früherkennung und einen besseren Informationsaustausch zwischen den Lehrkräften und Schulsozialarbeitern. Die Klassenlehrer müssen ihre Schüler besser im Blick haben, denn die Schulen sind diejenigen, die Schulabsentismus als Erstes feststellen können. Die meisten Schulverweigernden kommen aus Scheidungsfamilien, die meist alleinerziehenden Mütter sind berufstätig, gehen oft vor ihren Kindern zur Arbeit und merken gar nicht, dass ihr Kind nicht in die Schule geht.


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