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Sommerblut-Festival„Freiheit ist für Leute mit Gehirn“

Lesezeit 6 Minuten
Sechs Jugendliche tanzen und bewegen sich in einem roten Quadrat, es soll die Demokratie symbolisieren.

Bei den Proben zur „Sommerblut“-Demokratie-Performance im Freien Werkstatt Theater Köln.

Jugendliche bringen beim Kölner Kulturfestival eine Demokratie-Performance auf die Bühne – Zu Besuch bei einer Probe

Auf den Boden haben Jugendliche ein Quadrat aus rotem Band geklebt. Es könnte überall sein, heute befindet es sich –in Echtzeit – im Proberaum des Kölner „Freien Werkstatt Theaters“, fiktiv am Bertha-von-Suttner-Platz in Düsseldorf. Die Jugendlichen sprechen Passantinnen und Passanten an und bitten sie, sich für ein demokratisches Denkmal im Viereck zu positionieren.

Eine Jugendliche stellt sich direkt in dessen Mitte. Ihr folgt eine junge Frau, die sich zunächst links oben in die Ecke stellt, dann aber zielstrebig in die Mitte des Vierecks geht, sich breitbeinig vor der Jugendlichen positioniert und ihre Arme weit ausstreckt: „Das ist mein Raum, hier stehe ich“ – kommentiert eine junge Sprecherin.

Demokratisches Denkmal: „Entweder alle oder keiner“

Ein rothaariger Teenager entscheidet sich bewusst dazu, das rote Quadrat nicht zu betreten: „Ich gehe nicht alleine, entweder alle, oder keiner“, sagt die Sprecherin. Zwei Jugendliche stellen sich in der Mitte auf und blicken in entgegengesetzte Richtungen: „Wir haben uns noch keine Gedanken über Demokratie gemacht, sie hat mit unserer Lebenswirklichkeit nicht viel zu tun. Klingt aber gut, wenn darüber geredet wird.“ Der nächste „Passant“ nimmt ganz außen am Viereck-Rand Stellung – „Wir sprechen viel über Exit-Pläne, wenn das hier so weitergeht, bin ich weg“.

Ich weiß jetzt, dass ich was zu sagen habe, auch wenn ich aufgrund meiner Biografie benachteiligt bin!
Addy, 17, Teilnehmerin und Bewohnerin einer Traumaschutz-Wohngruppe

Peu à peu leert sich das Quadrat, während vier Teenager im Hintergrund ihre Instrumente aufbauen – und sich das Viereck allmählich wieder füllt. Zur experimentellen Musik der jungen Band bewegen sich die sechs Jugendlichen aufeinander zu – und von sich weg. Ziehen sich an – und stoßen sich ab. Krümmen und strecken sich. Tanzen im Rhythmus der Musik – gemeinsam und alleine.

Demokratische Spielwiese beim Kölner Sommerblut Kulturfestival

„Freiheit ist für Leute mit Gehirn“, sagt die Sprecherin – und viele denkwürdige Worte mehr, die zu 70 Prozent aus der Feder der jugendlichen Darsteller stammen. Es ist eine Szene aus der Theater- und Tanz-Performance „Democratic Playground: Exploring the room“ („Demokratische Spielwiese: Erkunde den Raum“). Die Koproduktion des „Forum Freies Theater (FFT) Düsseldorf“ und des Kölner Sommerblut Kulturfestivals wird am 8. und 10. Mai im Rautenstrauch-Joest-Museum zu sehen sein.

Choreografin Stefanie Elbers (rechts) mit den jungen Darstellerinnen und Darstellern.

Choreografin Stefanie Elbers (rechts) mit den jungen Darstellerinnen und Darstellern.

Bei dem von „wir helfen“, der Kunststiftung NRW und dem NRW-Ministerium für Kultur und Wissenschaft geförderten Projekt erkunden die Choreografin Stefanie Elbers und der Regisseur Oleg Zhukov gemeinsam mit 14 Jugendlichen zwischen 13 und 24 Jahren aus der Region Köln/Düsseldorf die Kern- und Knackpunkte demokratischer Prozesse.

Mehr Selbstbewusstsein und echte Freundschaften

Es geht um Verhandlungsbereitschaft, Meinungsverschiedenheiten und Perspektivwechsel. Welche Position nimmst du ein, wie verhältst du dich, wenn jemand eine Gegenposition vertritt? Was passiert, wenn andere dazu kommen? Die Dynamiken und Beziehungen, die dabei entstehen, zeigen die Jugendlichen im Stück auf – und erfahren sie selbst während der intensiven Proben.

Ich habe mich noch nie so wohlgefühlt in einer Gruppe Gleichaltriger. Ich hätte niemals gedacht, dass das möglich ist
Leonie, 18, Teilnehmerin

Seit Januar treffen sich die jungen Performerinnen und Performer mit unterschiedlichen Biografien und Herkünften an jedem Wochenende für zwei Tage mit dem Regie-Team abwechselnd in Köln und Düsseldorf. Dass sie dafür neben künstlerischer Expertise auch mit guten Gefühlen, mehr Selbstbewusstsein und Freundschaften belohnt werden, zeigt sich zu jedem Zeitpunkt der Probe – vor allem in den Pausen. Da wirbelt ein 18-Jähriger den jüngsten der Crew akrobatisch durch Luft, schmiegen zwei Teenagerinnen, die unter sozialen Ängsten leiden, eng aneinander, imitieren drei andere ironisch Helene Fischers Hit „Atemlos“ – da wird getanzt, umarmt, gelacht.

Einmischen statt Dichtmachen

„Unser Projekt ist im wörtlichen Sinne eine demokratische Spielwiese, es geht ums Aushandeln und Aushalten etwa von Meinungen und Lebensweisen, ums Vorgeben und Aufnehmen. Woran lässt sich Demokratie messen? Ich sage: An positiven Gruppenerfahrungen! Und die ermöglichen wir jungen Menschen hier in genauso wie die Erfahrung, handlungsfähig zu sein, sich einmischen zu können statt dichtzumachen, das ist gelebte Demokratie“, sagt Oleg Zhukov.

Vier junge Musiker sitzen an ihren Instrumenten

Die Band der Performance „Democratic playgound: Exploring the room“.

Stefanie Elbers erklärt die Genese der Performance: „Wie die meisten unserer Projekte, die wir lieber Kollaborationen nennen, zeichnet sich auch dieses dadurch aus, dass wir die Jugendlichen aktiv in die künstlerische Arbeit einbeziehen.“ Was bei anderen Projekten Casting genannt wird, bezeichnet das Sommerblut-Festival-Team als Open Call: „Im Vorfeld der Produktion im Rahmen des diesjährigen Festivals, das unter dem Motto ‚democracy needs you‘, also ‚Demokratie braucht dich‘ steht, haben wir einen offenen Aufruf in den Sozialen Medien gestartet, in Jugendclubs, Wohngruppen und anderen Einrichtungen der Jugendhilfe oder in Flüchtlingsunterkünften. Bei uns geht es nicht darum, dass jugendliche Mitwirkende ausgesucht und getestet werden – sondern sie sollen schauen, ob sie Lust dazu haben, mit uns zu arbeiten“, sagt Festival-Leiter Rolf Emmerich.

Keine Angst mehr vor Gleichaltrigen

Leonie ist eine von 14 Jugendlichen, die Lust hatte. Die 18-Jährige hat von ihrer Kunsttherapeutin von dem Projekt erfahren. Hatte sich aber zunächst nicht getraut, sich zu bewerben. Auch aus Angst vor der Gruppe Gleichaltriger. Heute, wenige Monate später, sagt sie, dass sie noch nie zuvor in ihrem Leben so viel Spaß mit Leuten ihrer Altersgruppe gehabt, sich noch nie so wohlgefühlt habe. „Ich hätte niemals gedacht, dass das möglich ist.“

Im Vorfeld der Produktion im Rahmen des diesjährigen Festivals haben wir einen offenen Aufruf in den Sozialen Medien gestartet, in Jugendclubs, Wohngruppen und anderen Einrichtungen der Jugendhilfe oder in Flüchtlingsunterkünften
Rolf Emmerich, Leiter des Sommerblut-Kulturfestivals

Leonie erzählt von dem großen Respekt innerhalb der Gruppe, von dem einmaligen Zusammenhalt, egal woher man stamme, von dem Spaß miteinander, der Bereicherung – auch inhaltlich: „Das Demokratie-Projekt hat uns darin bestätigt oder dazu motiviert, für die eigenen Rechte und die anderer einzustehen.“

Nirgends ein Ort zum Wohlfühlen

Addy, 17, die heute in einer Traumaschutz-Wohngruppe lebt, ist, seitdem sie acht Jahre alt ist, von einem Ort zum nächsten gewandert, besser gesagt: gereicht worden. Hat aber nirgends einen Platz für sich gefunden. „Ich bin das, was man eine Systemsprengerin nennt, ich passte nirgends hin.“ Bisher. Denn „in diesem Projekt wird nicht gedisst und gemobbt, alle wollen Spaß auf der Bühne haben und gemeinsame Erfolge. Hier bekomme ich keine Panik, wenn ich auf engstem Raum mit Menschen zusammen bin oder mich jemand berührt.“

Addy sagt, bisher hätte sie geglaubt, keine Stimme in der Gesellschaft zu haben, hier aber habe sie Selbstwertgefühl entwickelt. „Ich weiß, dass ich was zu sagen habe, auch wenn ich aufgrund meiner Biografie benachteiligt bin. Denn die Demokratie braucht uns junge Menschen, wir sind die Zukunft – und sie braucht dich!“ Democracy needs you, unter diesem Motto bietet das Sommerblut Kulturfestival vom 30. April bis 11. Mai mehr als 60 Veranstaltungen an 16 Kölner Standorten.

Democratic playgound: Exploring the room wird am 8. Mai um 18 Uhr sowie am 10. Mai um 11 Uhr und um 15 Uhr im Rautenstrauch-Joest-Museum, Cäcilienstraße 29-33, 50676 aufgeführt. Karten ab sechs Euro gibt es online >> hier