Familie aus der Nähe von KölnWie es ist, plötzlich ein Pflegekind vermittelt zu bekommen

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Ein kleines Mädchen steht am Fenster und hält zwei bemalte Pappfiguren in der Hand, eine Frau und einen Mann mit Bart und Brille.

Wenn Pflegekinder vermittelt werden, ist das eine „Win-Win-Situation“ fürs Kind und die Familie.

Der Sozialdienst Katholischer Frauen Köln (SkF) vermittelt Adoptions- und Dauerpflegestellen - Ein Ehepaar, das keine eigenen Kinder kriegen kann, berichtet, wie es plötzlich zu einer Familie wurde.

Damals beim Bäcker im Dorf platzte Lena Kluge* (Namen geändert), einer sonst sehr besonnenen jungen Frau, dann doch auch mal der Kragen: Auf die x-te Frage, woher denn das Kind plötzlich käme, antwortete sie knapp: Das hat uns der Klapperstorch gebracht.

Dabei sei das noch eine der harmloseren Reaktionen darauf gewesen, dass das Ehepaar Kluge im Januar 2022 - für sein Umfeld gefühlt von heute auf morgen - mit Jantje im Kinderwagen durch den kleinen Ort nahe Köln fuhr. „Nett zum Beispiel war auch, wenn Nachbarn uns mit den Worten ‚Trotzdem herzlichen Glückwunsch‘ gratulierten, nachdem sie erfahren hatten, dass Jantje ein Pflegekind ist“, sagt Felix Kluge und zwinkert seinem heute 20 Monate alten „Wunschkind“ zu, das mit seinen aufgeweckten Augen zurückblickt, als könne es seine Ironie verstehen.

Monatelang elternlos in der Klinik

Das eineinhalbjährige Mädchen ist nicht nur ein Wunschkind, es ist auch ein Glückskind. Denn seine Geschichte ist weniger sonnig als sein Gemüt. Jantje kommt als extremes Frühchen in der 26. Woche außerhalb der Klinik zur Welt, kann gerade noch rechtzeitig dort eingeliefert werden, um zu überleben. Und zu bleiben. Elternlos und für die ersten Monate seines Lebens. Die leibliche Mutter ist zu jung und zu krank, um sich um das Kind verantwortungsvoll kümmern zu können, sodass das Klinikpersonal aufgrund dringender Kindeswohlgefährdung eine Inobhutnahme veranlasst.

Jantje ist auch insofern ein Glückskind, als sie bei Kluges nach einigen Trennungen die geballte Zuneigung erfährt und sich prächtig entwickelt
Corinna Sturm, Fachdienst familienanaloge Unterbringung beim SkF Köln

Jantje ist eines von rund 180 Kindern unter vier Jahren, die das Kölner Jugendamt pro Jahr in Obhut nimmt, weil deren leiblichen Eltern nicht dazu in der Lage sind, sie zu versorgen. Sie sind etwa erkrankt, drogenabhängig, obdachlos, haben einen Partner verloren oder Gewalterfahrungen gemacht. „Jantje ist auch insofern ein Glückskind, als sie bei Kluges nach der Trennung von der Mutter, Klinikaufenthalt und Zwischenstation, die geballte Zuneigung erfährt und sich prächtig entwickelt“, sagt Corinna Sturm vom Fachdienst familienanaloge Unterbringung (FFU) des Sozialdiensts katholischer Frauen (SkF) Köln, der sich im Jahr 2021 aus dem Adoptions- und Pflegekinderdienst weiterentwickelt hat.

Einige Pflegekinder sind High-Need-Kids

Dass sich Jantje trotz der Frühgeburt bedingten Entwicklungsrückstände so prächtig entwickelt und ein starkes Bindungsverhalten zeigt, sei nicht selbstverständlich. „Einige Pflegekinder sind High-Need-Kids, sie haben Probleme damit, nahe Bindungen einzugehen“, sagt. Sturm. Weil sie erfahren haben, dass sie sich auf Beziehungen nicht verlassen können. „Es kann sein, dass solche Kinder ständige Zuwendung einfordern, andere kaum Nähe ertragen können und mit Angst oder Aggressionen reagieren.“

Jantje erhält noch in der Klinik „Kurzzeitpflegeeltern“. FBB-Stellen („Familiäre Bereitschaftsbetreuung“) nennen sich diejenigen Familien im Behördendeutsch, die für begrenzte Zeit ein in Obhut genommenes Kind bei sich aufnehmen - bis geklärt ist, ob es zu seinen leiblichen Eltern zurückkehren kann, in eine seinem Alter entsprechende pädagogische Einrichtung kommt, oder dauerhaft zu Pflegeeltern, wie Jantje. Doch das soll noch fünf Monate dauern - bis das Ehepaar Kluge im November 2021 den ersehnten Anruf vom SkF erhält: „Wir würden gerne mit Ihnen über ein Kind reden.“


Pflegekinder: Fakten und Fachdienste in Köln

  • Deutschlandweit haben die Jugendämter im Jahr 2021 rund 47.500 junge Menschen vorübergehend in Obhut genommen. Rund 42 Prozent (20.200) davon waren noch im Kindesalter.
  • Anlass dafür war bei 53 Prozent der Fälle die Überforderung der Eltern, bei 26 Prozent war Vernachlässigung der Grund, bei 18 Prozent körperliche und bei 12 Prozent psychische Misshandlungen. Jedes achte Kind (12 Prozent) und fast jeder dritte Jugendliche (31 Prozent) war zuvor von Zuhause ausgerissen.
  • Das Kölner Jugendamt hat im Jahr 2021 181 Kinder bis vier Jahre in Obhut genommen, 2019 waren es 252, im Jahr 2020 240. Die Kinder werden durch das Jugendamt von „Kids“ (Kinder- und Jugendpädagogische Einrichtung der Stadt Köln), der Erziehungshilfe Bergisch Gladbach und dem Sozialdienst Katholischer Frauen (SkF) in FBB-Stellen untergebracht.
  • Familien, die sich dieser Aufgabe, ein Kind aufzunehmen, stellen wollen, ob begrenzt oder auf Dauer als Pflegefamilie, sind herzlich willkommen. pflegekinderdienst@skf-koeln.de

Baby mit Herausforderungen

Am Tag darauf erfährt das Ehepaar in der SkF-Geschäftsstelle, „dass es ein Kind gibt, das zu uns passen würde, das zu früh geboren wurde, mehr nicht, kein Name, kein Geschlecht, kein Foto“, sagt Felix Kluge. „Wir möchten, dass die Pflegeeltern genügend Zeit haben, noch einmal genau darüber nachzudenken, ob sie sich den individuellen Anforderungen stellen können, ohne ein konkretes Bild vom Kind zu haben“, erklärt Sturm. Zu den besonderen Anforderungen, die Jantje mitbringt, zählen unter anderem diejenigen, die ihre Frühgeburt mit sich bringt: viele Arzt- und Therapietermine, Besuche im sozialpsychiatrischen Zentrum, Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, SkF, Vormund, Gericht...

Gut begleitete Elternschaft

„Aber auf all das waren wir gut vorbereitet“, sagen Kluges in einem Atemzug. Schließlich ist das Ehepaar bestens geschult und begleitet - Corinna Sturm besucht die Familie noch heute regelmäßig. Daneben gibt es Fortbildungen zu rechtlichen, pflegerischen, und sonstigen Themen, die die Dauerpflegschaft betreffen. „Da ich aus gesundheitlichen Gründen keine eigenen Kinder bekommen konnte, haben wir uns früh mit einer Adoption befasst“, sagt Lena Kluge.

Jantjes leibliche Mutter hat uns ermöglicht, eine Familie zu werden. Bei uns kann sie gut groß werden, und wächst sicher auf.
Ehepaar Kluge

Im Jahr 2017 nimmt das Paar an einem Vorbereitungskurs teil, der zum mehrmonatigen „Adoptionsverfahren“ gehört und neben einem 1-a-Gesundheitsattest, lupenreinen Führungszeugnis, ausführlichen Lebenslauf, Hausbesuche und viele Gespräche mit den SkF-Fachkräften umfasst. Im Frühjahr 2021 entscheiden sich Kluges dazu, zusätzlich einen „Dauerpflege-Kurs“ zu besuchen. „Dabei geht es darum, für ein Kind ein gutes Zuhause zu finden. Wer passt zu welchem Kind und umgekehrt? Wie funktioniert die Familie? Welche Krisen hat sie gemeistert? Wo liegen Möglichkeiten, wo Grenzen?“, sagt Sturm.

Respekt und Mitgefühl für die leibliche Mutter

Wichtig sei dabei, eine Haltung zum Umgang mit den leiblichen Eltern zu finden. Schließlich geht es um die Frage, die vor allem das nahe Umfeld der Kluges beschäftigt: Was, wenn die leibliche Mutter, die bislang nicht in Erscheinung tritt, ihr Kind zurückhaben möchte? „Man darf diese Frage natürlich nicht verdrängen, aber wir denken nicht permanent darüber nach. Das wäre auch fatal, da wir dann ja keine Bindung zu Jantje aufbauen und zulassen könnten“, sagt Lena Kluge. „Wir haben Respekt und großes Mitgefühl für die leibliche Mutter. Es wäre schön für Jantje, wenn es ihr offenstünde, sie kennenzulernen und ein eigenes Bild von ihr zu gewinnen“, sagt ihr Mann. Den vielen Vorbehalten gegenüber einem Pflegekind, mit denen Kluges häufig konfrontiert werden, zum Trotz, betrachten sie Jantje als ihr größtes Geschenk. „Sie hat uns ermöglicht, eine Familie zu werden. Bei uns kann sie gut groß werden, und wächst sicher auf.“

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