Textilindustrie in Süd und OsteuropaHungerlöhne in Europas Hinterhof

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Bunt und preiswert: In Asien und Südosteuropa arbeiten viele Menschen unter schlechten Bedingungen, damit deutsche Kunden günstig shoppen können.

Bunt und preiswert: In Asien und Südosteuropa arbeiten viele Menschen unter schlechten Bedingungen, damit deutsche Kunden günstig shoppen können.

Berlin – Spätestens seit dem Einsturz eines maroden Näherei-Gebäudes in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka vor gut einem Jahr mit mehr als 1100 Toten gilt die Textilbranche in Südasien als abschreckendes Beispiel für untragbare Arbeitsbedingungen und gewissenloses Unternehmertum. Fehlende Sicherheitsvorkehrungen, rechtlose Beschäftigte und Hungerlöhne sind in den Ländern der Region an der Tagesordnung.

Demgegenüber erscheinen Kleider, T-Shirts, Schuhe und Hosen mit der Herkunftsbezeichnung „Made in Europe“ als Garant für auskömmliche Entgelte, soziale Mindeststandards und gesundheitlich unbedenkliche Berufsausübung.

Doch der Schein trügt. Einer umfangreichen Untersuchung der Kampagne für Saubere Kleidung zufolge schuften in ost- und südosteuropäischen sowie in ostanatolischen Textilbetrieben rund drei Millionen überwiegend weibliche Beschäftigte unter Bedingungen, die kaum besser sind als jene in Bangladesch. Vielerorts liegt die Bezahlung um 80 Prozent unterhalb des existenzsichernden Lohnniveaus. Lohndiebstahl und sexuelle Übergriffe sind keine Seltenheit, heißt es in dem 80 Seiten starken Bericht der Kampagne.

Neben Recherchen und Interviews vor Ort werteten die Experten wissenschaftliche Studien, gesetzliche Bestimmungen und Statistiken in den EU-Staaten Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Slowakei sowie in Bosnien-Herzegowina, Georgien, Mazedonien, Moldawien, der Ukraine und der Türkei aus. In allen diesen Ländern klafft eine gewaltige Lücke zwischen den gesetzlichen Mindestlöhnen auf der einen und der Höhe tatsächlich existenzsichernder Entgelte auf der anderen Seite.

Soll heißen: Selbst wo ein Mindestlohn gezahlt wird, reicht er zum Leben bei weitem nicht aus. „Diese Lücke scheint in Europas Niedriglohnländern eher größer zu sein als in Asien“, schreiben die Studienautoren. Der gesetzliche Mindestlohn in Bulgarien, Mazedonien und Rumänien habe 2013 noch unter dem Niveau des chinesischen gelegen.

Klaffende Lücke zwischen Mindestlohn und Existenzsicherung

Beispiele veranschaulichen die Verelendung im 40-Stunden-Job: In Bulgarien betrug der gesetzliche  Netto- Mindestlohn am 1. Mai 2013 zu aktuellen Umrechnungskursen 139 Euro. Die Armutsgrenze, die bei Löhnen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens angenommen wird, lag bei 245 Euro. Als existenzsichernden Basislohn geben die Experten 1022 Euro an. Ähnlich krasse Verhältnisse wurden für alle zehn untersuchten Länder festgestellt, mit Georgien am unteren Ende: Der Mindestlohn von 52 Euro erreicht nur etwa ein Zehntel des existenzsichernden Basislohns in Höhe von 518 Euro. Die Armutsgrenze in Georgien liegt bei 196 Euro monatlich.

Hinzu kommt, dass die Arbeitnehmer dort wie auch in anderen Ländern keine Mitbestimmungsrechte besitzen und oft nicht einmal einer Gewerkschaft angehören dürfen. Neben den georgischen tragen die Textilbeschäftigten in Bulgarien und Ostanatolien das höchste Armutsrisiko der untersuchten Länder. Auch dort erhalten die Näherinnen laut Bericht nicht einmal ein Fünftel des existenzsichernden Lohns, obwohl sie oft Haupt- oder sogar Alleinverdiener in ihren Familien sind.

Dieser Befund ist umso bedrückender, als etwa die Hälfte der in der EU grenzüberschreitend gehandelten Textilien aus den genannten Regionen stammen. Hauptabnehmerländer sind Deutschland und Italien. Die Türkei liefert ein Fünftel ihrer Bekleidungsexporte nach Deutschland. Für Kroatien ist Italien der größte Markt: 51 Prozent aller kroatischen Textil- und Schuhexporte gehen nach Italien, ein weiteres Viertel wird nach Deutschland ausgeführt.

Kunden mit Rang und Namen

Der überaus kostengünstigen Arbeitskräfte bedienen sich fast alle Unternehmen, die in der Branche Rang und Namen haben. In Europas Hinterhof lässt die Creme de la Creme der Modeindustrie ebenso produzieren wie führende Sportartikelhersteller, Versandhäuser und Textilketten. Die Mitarbeiter der Kampagne entdeckten unter anderem Produktionsstätten für Versace, Hugo Boss, Dolce & Gabbana, Gerry Weber und Prada, von Puma, Nike und Adidas, von C&A, Esprit, Benetton, Max Mara, Tom Tailor, Levi’s, H&M, von Zara/Inditex, Mango, Arcadia und Otto.

Dass die Produktionsbedingungen nicht mit der Verpflichtung der europäischen Bekleidungsindustrie zusammen passen, die UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte einzuhalten, liegt auf der Hand: Diese sehen nämlich unter anderem die Zahlung existenzsichernder Löhne vor. Auch seien Unternehmen dafür verantwortlich, ihre Marktmacht nicht zu Kosten- und Lohndrückerei zu missbrauchen, schreiben die Studienautoren. Demgegenüber sei in den Interviews mit Betroffenen deutlich geworden, dass die extrem niedrige Bezahlung Armut und Abhängigkeit nicht etwa lindere, sondern im Gegenteil noch vertiefe.

In einem ersten Schritt müssten die Staaten ihre Mindestlöhne wenigstens auf 60 Prozent des jeweils mittleren nationalen Durchschnittslohns anheben, fordert die Kampagne. Die Hersteller, Modemarken und Einzelhändler hätten dafür zu sorgen, dass entlang der Lieferketten ihrer Produkte ebensolche Löhne gezahlt werden. Und die Regierungen der reichen Import-Länder müssten sicherstellen, dass ihre Firmen Menschen - und Arbeitsrechte  auch und gerade an ausländischen Produktionsstandorten einhielten.

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