Baustein der KlimawendeWasserstoff und Stahl als Heilsbringer für das Industrieland NRW?

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ThyssenKrupp Steel, ein Stahlarbeiter im Schutzanzug entnimmt eine 1500 Grad heisse Roheisenprobe.

Thyssenkrupp will künftig nicht wie bisher Kohlestaub in den Hochofen einblasen, sondern Wasserstoff.

Wasserstoff gilt in der Großindustrie als Baustein, um die Klimaziele zu erreichen. Duisburg will Vorreiter sein – doch es gibt offene Fragen.

Der Beginn der zweiten industriellen Revolution in Europa soll im Ruhrgebiet stattfinden, in einem Areal am nördlichen Ende des Stahlwerks von ThyssenKrupp in Duisburg. Dort, wo derzeit noch Stahlbrammen gelagert werden, soll schon in etwa drei Jahren eine der weltweit modernsten Anlagen zur Herstellung von grünem Stahl in Betrieb gehen. Grün deshalb, weil für die Erhitzung keine schmutzige Kohle mehr, sondern Wasserstoff verwendet werden soll. So zumindest stellt es sich ThyssenKrupp Steel vor.

Bettina Hübschen steht in der Besucherlobby von Deutschlands größtem Produzenten von Flachstahl. Etwa elf Millionen Tonnen erzeugt der Konzern jährlich. Sie referiert über die Zukunft vor einem Aufsteller mit einem dieser Motive, die den Eindruck vermitteln sollen, wie sauber Großindustrie ist. Ein blitzartiger Schweif, der sich um Schornsteine windet, im Vordergrund stahlblaues Wasser.

Hübschen ist eine der zentralen Köpfe im Dekarbonisierungsprogramm des Stahlkonzerns. Sie schildert, wie aus einem der größten Co2-Einzelemittenten Deutschlands schon bald ein klimaneutrales Vorzeigeunternehmen werden soll. 2026 soll es losgehen, der erste Stahl aus Wasserstoff soll aus einer neuartigen Direktreduktionsanlage (DR) fließen.

Unternehmen sieht komplexeste Transformation vor sich

Die vier bisherigen mit Kohle betriebenen Hochöfen sollen nach und nach durch weitere DR-Anlagen mit speziellen Einschmelzern ersetzt werden. Am Anfang soll noch Erdgas beigemischt, die Wasserstoffanteile Schritt für Schritt erhöht werden, bis das Metall laut Unternehmensplanung schließlich bis 2045 ohne Emission gegossen werden soll. Das Unternehmen spricht von der „komplexesten und wichtigsten Transformation in unserer 120-jährigen Geschichte“.

Was Hübschen erzählt, klingt wie der verrückte Plan einer Wissenschaftlerin. Denn alles, was man für den Start des Betriebs 2026 braucht, gibt es noch gar nicht. Keine DR-Anlage, kein Wasserstoff, keine fertige Pipeline, durch die er fließen könnte. Doch ein Scheitern schließt man bei TKS, wie der Stahlgigant hier genannt wird, aus. Die Sache muss klappen. Irgendwie.

Auf einem Schild in Duisburg steht ThyssenKrupp.

ThyssenKrupp in Duisburg will grünen Stahl herstellen.

Der wirtschaftliche Druck auf die Großindustrie, klimaneutrale Produktionsstätten aufzubauen, ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Wer viel Co2 ausstößt, muss mit Co2-Zertifikaten kompensieren. Und die werden immer teuer. Zwar sei grüner Stahl derzeit noch teurer, klar aber sei, dass sich grauer Stahl schon bald nicht mehr rechnen werde, sagt das Unternehmen.

Bis heute ist ThyssenKrupp Symbol großindustrieller Umweltverschmutzung. Das Gelände im Duisburger Norden hat die Ausmaße einer Stadt, fünf Mal so groß wie Monaco, 80 Kilometer verzweigtes Straßennetz, 470 Kilometer Schienen, Kioske für die Mitarbeitenden, eigener Hafen und dauerqualmende Schornsteine.  Allein mit seiner Stahlproduktion stößt der Konzern jährlich 20 Millionen Tonnen Co2 aus. Das entspricht: 2,5 Prozent der gesamtdeutschen Emissionen. Oder dem zehnfachen des innerdeutschen Flugverkehrs. Oder auch 75 Prozent der gesamten Co2-Emissionen Dänemarks.

Wo der begehrte Stoff herkommen soll, ist noch völlig unklar

Die Nummer eins im Periodensystem der Elemente gilt in vielen Teilen der Großindustrie als Heilsbringer zum Erreichen der national gesteckten Klimaziele. Für die Stahlindustrie sei er als Ersatz für den bislang verwendeten fossilen Energieträger Kokskohle alternativlos, sagt Bettina Hübschen.

Doch woher der begehrte Stoff genau kommen soll, ist noch völlig unklar. Zwar gibt es Pläne, Wasserstoff im großen Stil auch in Europa zu produzieren, die Niederlande etwa planen riesige Offshore-Windparks und Elektrolyseure, also Anlagen, mit denen Wasserstoff hergestellt werden kann. Das europäische Wasserstoff-Projekt „Important Projects of Common European Interest“ (IPCEI) weist 19 Produktionsstandorte in ganz Deutschland aus. Doch selbst bei TKS zweifelt man daran, dass die Kapazitäten ausreichen, denn die benötigten Mengen sind gigantisch.

Allein TKS schätzt den Bedarf für eine vollständig klimaneutrale Produktion auf jährlich knapp 720.000 Tonnen Wasserstoff. Für die Herstellung braucht man wiederum bis zu 36 Terawattstunden (TWh) elektrischer Energie. Um diese auf nachhaltige Weise herzustellen, müssten sich nach Unternehmensangaben 3600 Windräder der höchsten Leistungsklasse drehen. Das bis zum Rand mit Wasserstoff gefüllte und knapp 120 Meter hohe Gasometer in Oberhausen würde TKS in nur einer halben Stunde leeren, im Jahr also 17520 Mal.

Der globale Bedarf an Wasserstoff ist riesig

Die Probleme sind vielfältig. Die Produktion von Wasserstoff verschlingt Unmengen an Strom, der ja, soll alles klimaneutral sein, ebenfalls nachhaltig produziert werden müsste. Bei TKS hatte man über eine eigene Anlage nachgedacht, den Plan aber wieder verworfen. Das Unternehmen will sich beim Einkauf des Wunderstoffs divers aufstellen. Der Grund liegt auf der Hand: Keiner der Energieanbieter kann heute schon sagen, wie viel Wasserstoff er morgen liefern kann. Klar ist nur: Der globale Bedarf ist so riesig, dass er kaum zu beziffern ist. Der Wettlauf der großen Industrienationen um ausreichende Wasserstoff-Versorgung ist in vollem Gange.

TKS hat daher gleich mit mehreren Lieferkonzernen Absichtserklärungen unterzeichnet. Einer davon ist das Essener Energieunternehmen STEAG, das vor den Toren von ThyssenKrupp in Duisburg-Walsum einen Elektrolyseur errichten will. Kapazität: 75.000 Tonnen jährlich. Laut TKS genug, um die erste der vier geplanten DR-Anlagen zu versorgen.

Doch die heimische Produktion allein wird wohl nicht ausreichend sein für den nahezu unstillbaren Wasserstoffdurst von TKS. Also richtet man den Blick von Walsum aus das andere Ende der Welt, zum Beispiel nach Australien. Das Land hat das Ziel ausgegeben, sich mit Hilfe riesiger Solar- und Windparks von einem der größten Kohlelieferanten zur „Supermacht der Erneuerbaren“ und zu einem Wasserstoff-Exportgiganten zu transformieren. Das Potential will auch ThyssenKrupp nutzen. Der Elektrolysespezialist Thyssenkrupp Nucera hat in diesem Jahr ein Büro in Perth bezogen.

Wasserstoff hat widerspenstige Eigenschaften

Eines der Leuchtturmprojekte Australiens auf dem Weg zum grünen Kontinent ist der Asian Renewable Energy Hub (AREH) in Pilhars im Westen des Landes. Die Aussichten für Investoren klingen verlockend. Bei voller Kapazität soll AREH in der Lage sein, mit Strom aus Wind- und Solarkraft jährlich etwa 1,6 Millionen Tonnen grünen Wasserstoff zu produzieren und ins Ausland zu liefern. Der niederländische Konzern BP hat inzwischen 40 Prozent der Anteile erworben und im Sommer zudem eine Partnerschaft mit TKS als möglichem Wasserstoff-Lieferanten bekannt gegeben.

Wasserstoff allerdings hat widerspenstige Eigenschaften. Um es mit Schiffen nach Europa zu schippern, muss es bei etwa minus 250 Grad verflüssigt und an ein Trägermedium wie etwa Ammoniak gebunden werden. An den Zielhäfen wie beispielsweise im niederländischen Rotterdam müsste es gecrackt, also wieder in Gas umgewandelt werden. Auch dafür braucht es Strom und Anlagen, die erst noch gebaut werden müssen. Danach soll der Wasserstoff unter Hochdruck in Pipelines eingespeist und ins Ruhrgebiet transportiert werden. Dafür sollen alte Gasleitungen wiederbelebt werden.

Ein Projekt des Landes NRW dafür gibt es bereits. Das letzte Teilstück, die 30 Kilometer von Dorsten nach Duisburg-Hamborn, die sogenannte DoHa-Leitung, muss allerdings erst noch gelegt werden. Ziel ist es, dass jeder Großabnehmer seinen eigenen Anschluss an die Pipeline erhält.

Dampf steigt vom Thyssen-Krupp Stahlwerk Duisburg auf und ein Schiff fährt über den Rhein, während im Hintergrund die Uniper-Kraftwerke Gelsenkirchen zu sehen sind (Aufnahme von der Halde Rheinpreussen aus).

Bis heute ist ThyssenKrupp Symbol großindustrieller Umweltverschmutzung. Das Gelände im Duisburger Norden hat die Ausmaße einer Stadt. Allein mit seiner Stahlproduktion stößt der Konzern jährlich 20 Millionen Tonnen Co2 aus.

Ein weiteres Problem ist die Stahlproduktion selbst. TKS räumt ein, dass weltweit bislang keine einzige DR-Anlage in großindustriellem Maßstab existiert, die ausschließlich mit Wasserstoff betrieben wird. Zudem gibt es unterschiedliche Verfahren, die sich noch im Forschungsstadium befinden. 2024 will der Konzern auf seinem Duisburger Gelände eine kleine Testanlage in Betrieb nehmen, um an der Wasserstofftauglichkeit zu experimentieren.

Aus eigener Kraft könne TKS die Transformation nicht stemmen, sagt das Unternehmen. Etwa zwei Milliarden Euro soll die erste DR-Anlage mitsamt der Infrastruktur kosten. Anfang des Jahres hatte der Konzern für sein Projekt „tkH2Steel“ einen Förderantrag in Brüssel gestellt. Eine Antwort steht noch aus. Sollte das Anliegen durchgewunken werden, wird das Land NRW 30 Prozent, der Bund den Rest übernehmen. Die Düsseldorfer Landesregierung beziffert ihren Anteil auf eine mittlere dreistellige Millionensumme. Es wäre die mutmaßlich größte Einzelförderung in der Geschichte des Bundeslandes.

Warten sei keine Option

Dass der Steuerzahler den Stahlgiganten mit immensen Summen unter die Arme greifen soll, sieht der Konzern keineswegs kritisch. Als Arbeitgeber von mehr als 26.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 13,2 Milliarden Euro bezeichnet sich TKS selbst als systemrelevant. Man beruft sich auf eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es gehe schließlich darum, das Klima zu retten, Arbeitsplätze zu sichern und wettbewerbsfähig zu bleiben. Zwar sei derzeit jedes Jahr ein Schritt ins Ungewisse, und doch sei Warten keine Option, wolle man von der internationalen Konkurrenz nicht abgehängt werden.

Hinzu kommt der Konkurrenzdruck aus Fernost. Billigstahl aus China hat den Markt mächtig durcheinandergewirbelt. Eine schnelle Transformation sei unausweichlich. Auch andere Branchen sind betroffen, Bayer in Leverkusen, BASF in Ludwigshafen. Ihre Hoffnung liegt auf dem kleinsten existierenden Molekül: Wasserstoff.

Etwas neidisch schaut man von Duisburg ins niedersächsische Salzgitter. Der dortige Konkurrent, die Salzgitter AG, hat ihren EU-Förderbescheid schon bekommen.  Eine Milliarde Euro wird der Stahlkonzern erhalten.

Sören Link will sich davon nicht aus der Ruhe bringen lassen. Zumindest noch nicht. Seit zehn Jahren regiert der SPD-Politiker die Stadt Duisburg. Und gerne erzählt er, welches schwere Schicksal diese Stadt hatte. Wie Bergarbeiter für ihre Industrie das letzte Flöz Kohle aus der Zeche geholt haben, um dann zusammen mit dem gesamten Ruhrgebiet beispiellos abzustürzen. In der Hochphase des Bergbaus waren es noch 250.000 sozialversicherungspflichtige Jobs, Ende der Nullerjahre noch 140.000. Mit dem Niedergang der Kohle kam die Armut, kam die Arbeitslosigkeit, kam die Verschuldung. Wäre Duisburg ein Unternehmen, man hätte längst Insolvenz angemeldet, sagt Link.

Der Wasserstoff soll die Stadt und die gesamte Region zurück zu wirtschaftlicher Blüte führen. Link träumt von einem deutschen Wasserstoffnetz, das sich vom Pott bis in den Süden Deutschlands ausbreitet. An jeder Ecke entstehen Wasserstofftankstellen, kürzlich erst hat die Stadt für ihre Flotte 100 Wasserstoffbusse bestellt.

ThyssenKrupp und die NRW-Landesregierung wollen zeigen, dass es in kleinen Schritten vorwärts geht. Zwei Tage vor Heiligabend kam die grüne Wirtschaftsministerin Mona Neubauer aufs Konzerngelände, um eine vier Kilometer lange Pipeline einzuweihen. Die Verbindung führt zu einem kleinen Elektrolyseur des französischen Energielieferanten Air Liquide, in dem schon bald Wasserstoff für die DR-Testanlage von TKS produziert werden soll. Eine winziger Vorbote ein gigantisches Projekt.

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