Nachfrage steigt enormDie Kraft, aus der die Zukunft ist: Warum Strom für uns alle immer wichtiger wird

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Illustration: Strommasten vor einem abstrakten Hintergrund

Elektrizität: Was für eine gespenstische, faszinierende Kraft, nach der es die Menschheit dürstet wie noch nie.

Strom ist unsichtbar, geräuschlos, geruchslos – und rätselhaft. Was ist das für ein seltsamer, mächtiger Stoff, nach dem die Welt heute dürstet wie niemals zuvor – für E-Autos, künstliche Intelligenz und Licht? Wie machte der Mensch ihn sich untertan? Ein Blick in die wundersame Welt der Elektrizität.

Heute mach ich Strom“, sagt Peter Lustig, der Welterklärer aus der ZDF-Kindersendung „Löwenzahn“. Auf seinem Fahrrad strampelnd treibt er einen Dynamo an. „Strom kann fast alles“, raunt er. „Wie so‘n modernes Heinzelmännchen.“ Später im Film besucht er ein Kohlekraftwerk. „Was für eine Höllenglut!“, sagt er. „Aber wo bleibt der Rauch?“ Die Kamera zeigt den qualmenden Schornstein. „Och, hält sich eigentlich in Grenzen, der Qualm“, findet Lustig. „Der wird wohl gesäubert und gefiltert und entschwefelt – na, da bin ich ja beruhigt.“

So einfach schien das damals, vor 23 Jahren.

Elektrizität. Was für eine gespenstische, faszinierende Kraft, nach der es die Menschheit dürstet wie noch nie. Fast 30?000 Terawattstunden Strom produziert die Welt pro Jahr – gut dreimal so viel wie vor 20 Jahren. Das entspricht 30 Billionen Kilowattstunden. Und die Nachfrage explodiert. Allein das Internet wäre, wenn es ein eigenes Land wäre, mit gut 1000 Terawattstunden pro Jahr der fünftgrößte Stromverbraucher der Erde. Strom soll Hunderte Millionen E-Autos antreiben, künstliche Intelligenz befeuern und eine sich aufheizende Welt herunterkühlen. Und am Ende soll er – als einziger bekannter Energieträger, der sich in Massen klimafreundlich herstellen lässt – irgendwie auch den Planeten retten.

Es ist ja auch ein geniales Teufelszeug. Strom rußt nicht. Strom lärmt nicht. Strom ist leicht transportabel und wird verfügbar sein, solange Winde wehen und die Sonne nicht zum weißen Zwerg geschrumpft ist. Strom lässt sich gut umwandeln in Licht, Wärme, Bewegung. Und lange galt auch: Strom war billig. Erst die Energiekrise im Winter hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass Strom eben nicht einfach „aus der Steckdose“ kommt. 30 Cent kostet eine Kilowattstunde aktuell. Das genügt für 100 Stunden Radio hören, sieben Stunden fernsehen oder sich eine Stunde lang die Haare föhnen. Außerdem könnten sich 2500 Herren rasieren.

Doch was ist „Strom“? Es sind Elektronen, unvorstellbar winzige Ladungsträger, die sich von einem negativ geladenen zu einem positiv geladenen Endpol durch ein Metall bewegen. Unsichtbar, geruchlos, gewichtslos – und erstaunlich langsam: In einem Kupferkabel von einem Quadratmillimeter im Querschnitt und einem Strom von einem Ampère legen Elektronen in einer Stunde nur knapp 30 Zentimeter zurück. Erst die zugehörige elektromagnetische Welle mit ihren 720 Millionen Stundenkilometern schubst die Elektronen an – damit das Licht sofort angeht.

Alles glüht in Licht. Alles strahlt.
Gustav von Festenberg, österreichischer Autor

Ohne Strom kein moderner Alltag. Nicht mal Benzin gäbe es ohne elektrische Zapfsäulen. Strom fließt auch durch unsere Körper, regelt unsere Herztätigkeit, vernetzt die Hirnzellen, steuert die Muskeln. Das Gehirn, der größte Stromfresser im Körper, produziert bis zu 30 Watt. Das genügt für eine LED-Lampe. Gut 2500 Jahre ist es her, dass der griechische Naturphilosoph Thales von Milet ein Stück Bernstein (altgriechisch: „Elektron“) an einem Tierfell rieb und feststellte, dass es Federn, Fusseln und Flugsamen anzog. Thales’ Schlussfolgerung: Auch das „Unbelebte“ hat „eine Seele“.

Was war passiert? Durch Reibung zweier Materialien werden die winzigen Unebenheiten darauf angeglichen, man spricht von „elektrostatischer Aufladung durch Diffusion der Ladungsteilchen“. Dadurch wird Energie frei. Auch bei Blitzen „reibt“ sich aufsteigender Wasserdampf an Eispartikeln in der Atmosphäre und entlädt sich krachend. Es ist eben nicht Thor mit seinem Hammer. Es sind 400?000 Ampère. Es ist dieselbe Energie, die ab dem 18. Jahrhundert Hoffräulein wohlig erschauern ließ, denen Tüftler mit „Elektrisiermaschinen“ die Haare zu Berge stehen ließen. Elektrizität wurde zur Gruselgaudi des Adels. 1818 blies in Mary Shelleys Schauerroman ein gewisser Dr. Frankenstein seinem Monster mittels Elektrizität Leben ein – das passte perfekt zum Zeitgeist.

Schon 1672 baute der deutsche Physiker Otto von Guericke eine Elektrisiermaschine: Er spannte eine Schwefelkugel in eine Vorrichtung und rieb daran seine Hände. Das Ergebnis „elektrisierte“ das Publikum: Die Ladung zeigte sich durch ein Leuchten. Von Guericke sah nicht die Physik, sondern „kosmische Wirkkräfte“ am Werk. Wobei, streng genommen, ja auch die Physik nichts anderes ist. Benjamin Franklin ließ 1752 einen Drachen steigen und vom Blitz durchzucken. Pfarrer verboten die ersten Blitzableiter, weil sie den Blitz als „Gottesurteil“ aushebelten.

Und die Namen von vier Physikern wurden zu Maßeinheiten, die heute jeder kennt: James Watt (Leistung), André Ampère (Stromstärke), Georg Simon Ohm (Widerstand) und Alessandro Volta (Spannung), der 1772 die erste Batterie baute, die mit einer chemischen Reaktion Strom erzeugt.

Schon 1842 rollte eine fünf Tonnen schwere Elektrolokomotive zwischen Glasgow und Edinburgh, gespeist von riesigen Blei-Zink-Batterien – die freilich ein Problem hatten: Sie waren nicht wieder aufladbar. 1866 patentierte Werner von Siemens seine Dynamomaschine, die Urmutter des Elektromotors.

Strom machte die Welt lauter, heller, schneller, greller – und faszinierte das Publikum.
Imre Grimm

Ab 1891 surrten die ersten elektrischen Straßenbahnen durch deutsche Städte. „Überall glimmt der Funken“, jubelten die Zeitungen. Elektrisches Licht veränderte die Welt fundamental, erhellte dunkle Städte und Fabriken, milderte die Schrecken der Nacht – und machte im Sinne des Manchesterkapitalismus Schufterei in drei Schichten erst möglich. Es war eine kulturelle Revolution. Strom machte die Welt lauter, heller, schneller, greller – und faszinierte das Publikum. „Wenn es irgendetwas unter der Sonne gibt, was Elektrizität nicht zu tun vermag, so ist es nicht wert, überhaupt getan zu werden“, warf sich das Magazin „Scientific American“ in den Staub vor der neuen Macht.

„Alles glüht in Licht. Alles strahlt“, staunte der Autor Gustav von Festenberg 1935 in Wien. Feuilletonisten feierten die „neue Symphonie der nächtlichen Lichtstadt“, Siegfried Kracauer sah das urbane Glitzern als „flammenden Protest gegen die Dunkelheit unseres Daseins“, als „Protest der Lebensgier“. Und der Autor Friedrich Oppenheimer wertete Reklametafeln als „Söldner im Kampf mit der Dunkelheit“, gar als „demokratische Blitze“. Die Lichtexplosion wurde Popkultur und Kunstmotiv. Die Elektrifizierung des Planeten galt als Gegenteil des „finsteren Mittelalters“, als Triumph der Zivilisation.

Thomas Alva Edison, der Mann der 1000 Patente, verbesserte die Glühlampe entscheidend. Und Nikola Tesla entwickelte das erste Wechselstromsystem der Welt. Tesla schlief nachts nur zwei Stunden, ernährte sich von Milch, Brot, Honig und Gemüsesaft und träumte von einem militärischen Schutzschirm aus Todesstrahlen. Und von einem Auto, das die Schwerkraft als Treibstoff nutzt – und von Energieübertragung durch die Luft. Er starb 1943 mit 86 Jahren, arm und fast vergessen. Heute ist sein Name in aller Munde. „Wenn du das Universum verstehen willst“, schrieb er, „dann denke in Kategorien wie Energie, Frequenz und Vibration.“

Im Jahr 1900 war mehr als ein Drittel aller Autos elektrisch. Benzin gab es nur in Apotheken. Aber die E-Autos waren zu teuer, die Akkus zu schwach, das Laden dauerte zu lange – 120 Jahre später führen wir dieselben Debatten. Das 20. Jahrhundert gehörte dem Verbrenner. Kleine Explosionen vor unseren Füßen machten uns mobil. Warum? Weil spätestens mit dem Erfolg von Henry Fords T-Modell Ottomotoren effizient und Benzin und Diesel billig waren. Die Folgen sind bekannt: Autos blasen heute 3,8 Milliarden Tonnen CO2 in die Luft. Pro Tag. Und im Kern sind auch Kohlekraftwerke bis heute nichts anderes als XXL-Dampfmaschinen: Ein Feuer bringt Wasser zum Kochen, und der Dampf treibt Turbinen an. Die Hitzeenergie des Feuers wird zu Bewegungskraft.

Strom ist seit 100 Jahren die Allzweckwaffe der Energieversorgung, das Schweizer Taschenmesser der Menschheit. Doch der Hunger danach könnte das Angebot schon bald übersteigen.
Imre Grimm

Strom ist seit 100 Jahren die Allzweckwaffe der Energieversorgung, das Schweizer Taschenmesser der Menschheit. Doch der Hunger danach könnte das Angebot schon bald übersteigen. „Egal, wie viel Strom wir Ihrer Meinung nach brauchen, es wird mehr als das benötigt!“, warnte Tesla-Gründer Elon Musk erst Anfang August. Vor allem künstliche Intelligenz werde Massen an Strom fressen. Viele Staaten bauen neue Kernkraftwerke. Die Atommüllfrage bleibt ungeklärt.

Deutschland allein benötigt derzeit 560 Milliarden Kilowattstunden Strom im Jahr. Knapp die Hälfte kommt aus erneuerbaren Energien. Doch wo „Ökostrom“ draufsteht, ist keineswegs immer Ökostrom drin. Anbieter können durchaus Strom aus Kohle, Gas oder Atomkraft liefern – und als Ausgleich Grünstromzertifikate kaufen. Sicherheit gibt nur das Label „ok power“. Für 2025 rechnet die Bundesnetzagentur mit einem Bruttostrombedarf von 625 Terawattstunden in Deutschland. 2050 könnten es schon mehr als 1200 Terawattstunden sein. Der Strom droht an seinem eigenen Erfolg zu ersticken. Gefragt sind geniale Tüftler. Wo ist Nikola Tesla, wenn man ihn braucht? (RND)


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