ZugunglückDie Warnung für den Lokführer war alt

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Ein Trümmerfeld bot sich den Helfern, als sie an der Unglücksstelle kurz hinter dem Bahnhof Buir eintrafen.

Ein Trümmerfeld bot sich den Helfern, als sie an der Unglücksstelle kurz hinter dem Bahnhof Buir eintrafen.

Kerpen-Buir – Es ist ein ruhiger Sonntagmorgen, als Heinrich Nordhaus, ein stattlicher, blonder Mann in den besten Jahren, um kurz nach 6 Uhr in das Führerhaus des Schnellzuges D 23 von Paris nach Warschau steigt. Mit einigen Minuten Verspätung erreicht der voll besetzte Zug mit 13 Waggons den Dürener Bahnhof - wie immer erhält Nordhaus hier einen Vorsichtsbefehl, da rund um den Buirer Bahnhof die Gleise erneuert werden. Er überfliegt den Befehl, der besagt, dass der Zug hinter dem Buirer Bahnhof auf ein Nebengleis umgeleitet werde und dort besondere Vorsicht geboten sei.

Nordhaus gibt Gas, er muss die Verspätung aufholen. Einige Hundert Meter vor dem Bahnhof zeigt die Signalschaltung plötzlich einen Gleiswechsel an - der Lokführer zögert, möchte bremsen, doch es ist längst zu spät. Mit knapp 90 Stundenkilometern durchfährt der Zug die Weiche, die Lok springt aus den Schienen heraus, reißt weitere Waggons mit sich, der Zug stürzt teilweise um. Die hohe Geschwindigkeit presst die nächsten Wagen ineinander.

Aufgeschreckt von einem ungeheuerlichen Lärm, ist bald ganz Buir auf den Beinen, die ersten Helfer eilen zur Unfallstelle. Ihnen bietet sich ein „wüstes Bild der Zerstörung“, schreibt die „Kölnische Volkszeitung“. Nach 30 Minuten sind Helfer aus Köln vor Ort, die mit schwerem Gerät die Wagentüren aufschneiden, um Verletzte und Tote zu bergen.

„Es fehlte an allem“, erzählt Kurt Jöntgen (59). Jöntgen setzt sich seit Jahren als Hobby-Heimatforscher intensiv mit der Buirer Geschichte auseinander. „Eine junge Dame aus einer nahe gelegenen Villa stellte ihre Aussteuer zur Verfügung, um damit notdürftig die Verletzten zu verbinden“, erzählt er über das Unglück, das sich Dienstag zum 80. Mal jährt. Da es auch an Transportmöglichkeiten fehlt, soll außerdem ein Buirer Bäcker kurzerhand aus der Backstube seine Mehlkarre geholt haben, um so die Verletzten - überwiegend Polen und Franzosen - in das Buirer Krankenhaus zu transportieren. Tagelang beherrschte das Unglück, das 16 Todesopfer und circa 50 Verletzte forderte, die lokalen, nationalen und auch internationalen Medien. Die „Türkische Post“ in Konstantinopel vermeldete das Unglück auf der Titelseite. Einen Tag nach dem Unglück titelte die „Kölnische Volkszeitung“: „Eisenbahnkatastrophe auf der Strecke Aachen - Köln“.

Vor allem wurde in den Zeitungen über die Frage nach der Schuld an einem der schwersten Unglücke in den 20er und 30er Jahren diskutiert. Vermutet wurde, dass Lokführer Nordhaus, der zwischenzeitlich gar als tot erklärt wurde, den Vorsichtsbefehl einfach missachtet habe. Zwei Tage später wurde dies jedoch widerlegt. Der Lokführer hatte überlebt, ein Arm wurde amputiert. Zum anderen hatte eine Unfallkommission, bestehend aus Mitgliedern des Reichsverkehrsministeriums und der Reichsbahn, herausgefunden, dass der Vorsichtsbefehl des Vortages an Nordhaus übermittelt worden war. Samstags begann die Baustelle noch hinter dem Buirer Bahnhof, sonntags wurden die Züge jedoch schon vor dem Bahnhof auf das Nebengleis umgeleitet.

Knapp ein Jahr später, am 30. Juni 1930, begann der Prozess gegen Lokführer Nordhaus und Reichsbahnobersekretär Ludwig Fischer, der für die Übergabe des Vorsichtsbefehls im Bahnhof Düren verantwortlich war. Nach nur fünf Verhandlungstagen wurden die Urteile verkündet. Während Nordhaus freigesprochen wurde, wurde Fischer zu sechs Monaten Gefängnis mit Bewährung verurteilt. Einige Monate später wurde außerdem der in Hamm zuständige Reichsbahn-Mitarbeiter Mennenkamp zu vier Monaten Haft verurteilt. Er hatte im Laufe des Prozesses zugegeben, in Hamm den Vorsichtsbefehl für die Strecke Aachen-Köln nicht ordnungsgemäß ausgehängt zu haben.

Ein vermutlich noch weitaus größeres Unglück verhinderte der Heizer des Zuges. Vor der Entgleisung sprang er vom Wagen ab, um direkt danach das Feuer in den Heizkesseln zu löschen.

Buir stand unter Schock. Drei Tage nach dem Unglück fand eine große Trauerfeier statt, an der neben den Angehörigen der Opfer alle Buirer Vereine und zahlreiche politische Vertreter teilnahmen. Die Särge wurden von den Schützen zur letzten Ruhestätte geleitet.

Noch heute bekommt Heimatforscher Jöntgen ab und an eine neue Geschichte rund um das Unglück zu hören. So soll ein Franzose nach seiner vollständigen Genesung dem Buirer Krankenhaus ein neues Röntgengerät gestiftet haben. Auch in einem anderen Zusammenhang taucht das Krankenhaus nochmals in Jöntgens Archiv auf - mit einer äußerst gewissenhaften Buchhaltung. Neben Listen mit Toten und Verletzten wurde auch die Versorgung der Helfer festgehalten: „27 Sanitäter wurden mit Butterbroten und Bier bewirtet.“

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