Offene Worte im StaatsfernsehenRussland will mit Grausamkeit zum Sieg kommen

Lesezeit 3 Minuten
Gräber in Butscha

Gräber im ukrainischen Butscha 

Im staatlichen Fernsehkanal Russland eins erschien dieser Tage ein Experte und erklärte, wie der Sieg Russlands in der Ukraine trotz aller aktuellen Schwierigkeiten doch noch zu erringen sei. Alles hänge im Grunde nur an einer einzigen simplen Frage, sagte Putin-Propagandist Alexej Anpilogow: „Wie schnell können wir die gesamte zivile Infrastruktur der Ukraine vernichten?“

In der Talkshow gab es keinen Widerspruch. Seit vielen Tagen heißt es in diesen Runden immer wieder, wenn erst Millionen ukrainische Familien in Dunkelheit und Kälte säßen, abgeschnitten von jeder Versorgung, würden sie die Dominanz Russlands schon noch akzeptieren. Nötig sei, sagte die Chefredakteurin von Russia Today, Margarita Simonjan, die Zerstörung der zivilen Infrastruktur „im noch nicht befreiten Teil der Ukraine“.

Zwar wissen auch die Russland-eins-Diskutanten, dass jede gezielte Zerstörung etwa von Elektrizitätswerken, Wohnvierteln, Gleisen, Straßen oder Kliniken ein Kriegsverbrechen ist, doch das ist ihnen egal. Denn, so die neue krude Logik in Moskau, es ändere ja inzwischen nichts mehr. „Schon jetzt werden wir Russen doch dargestellt als eine einzige Horde von Barbaren“, betont Anpilogow.

Russland soll sich offen zu Folter und Gräueltaten bekennen

Warum dann also den Spieß nicht einfach umdrehen? Ähnlich argumentiert im Staatsfernsehen der russische Kriegskorrespondent Wladlen Tatarski, der seinem Land rät, sich zu Folter und Gräueltaten offen zu bekennen: „Wir sollten unseren Feinden sagen: Ja – so sind wir! Fürchtet uns, Leute!“

Vorkommnisse aus der letzten Zeit sprechen dafür, dass die russische Armee in der Tat dazu zu tendieren scheint, sich auf ein neues Hauptziel einzuschießen: die Maximierung des Leids von ukrainischen Zivilisten.

Die erste Antwort Russlands auf die erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Truppen zielte nicht auf die ukrainische Armee, sondern auf das Leben von Millionen von Zivilisten in Charkiw und Umgebung. Russland zerstörte mehrere Kraftwerke, so dass Millionen Menschen tagelang im Dunkeln saßen und, wenn sie von elektrischen Pumpen abhängig waren, auch ohne Wärme und Wasser auskommen mussten. Einen Tag später bombardierte Russland in der zentralukrainischen Industriestadt Krywyj Rih einen Staudamm – die Flutwelle schuf ebenfalls, wie in Charkiw, eine großflächige Notlage für Zivilisten, mit Ausfällen bei Strom und Wasser.

In der Nacht zu Montag feuerte Russland Raketen auf Hochspannungsleitungen wenige Hundert Meter vor dem AKW Piwdennoukrainsk.

Das könnte Sie auch interessieren:

Westliche Militärexperten versuchen derzeit, die Zeichen aus Russland zu deuten. Soll jetzt die von Anfang an spürbare Brutalität gegenüber der wehrlosen Zivilbevölkerung noch mehr Gewicht bekommen – nachdem das Kräftemessen mit den Militärprofis der Ukraine für Moskau peinlich ausging?

Attacke auf Zivilisten als Zeichen der Schwäche Moskaus?

Der deutsche Militärexperte Nico Lange, bis Ende 2019 Chef des Leitungsstabs im Berliner Verteidigungsministerium, sieht in den russischen Rufen nach mehr Attacken auf Zivilisten „ein Zeichen wachsender Schwäche Moskaus“. Im Gespräch mit dem RND sagte Lange, Russland, das immer an seine angeblich professionelle Armee geglaubt habe, erlebe jetzt mehrere Tiefpunkte gleichzeitig. Erst sei das Land nicht in der Lage gewesen, sich der ukrainischen Gegenoffensive zu erwehren, nun empfehle das Staatsfernsehen als Ausweg die systematische Begehung von Kriegsverbrechen. Beides werde nicht nur von Kriegsgegnern als jämmerlich empfunden, sondern auch von rechtsgerichteten Kritikern Putins.

In der russischen Armee wächst derzeit nach Erkenntnissen westlicher Experten die Unzufriedenheit. Die Washingtoner Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) spricht von einer „schlechten Beziehung“ zwischen Putin und dem russischen militärischen Oberkommando. Es drohe ein „allgemeiner Mangel an Zusammenhalt“.

KStA abonnieren