Fest im AusnahmezustandWie ein Foto meisterhaft die Krise in den USA beschwört

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Amtseinfuehrung

Feuerwerk über dem Washington Monument und dem US Marine Corps War Memorial 

Washington – Bildkunst, auch Fotokunst, wird groß und bedeutend, wenn sie Spannungen, ja Gegensätze zu jener komplexen Einheit zu fügen vermag, die den Blick auf einen symbolischen Subtext freigibt. Auf etwas also, das in der „Materialität“ der Farben und Formen zugleich ab- und anwesend ist. Dem aus dem Zeitkontinuum scheinbar willkürlich herausgegriffenen Moment wächst eine ihn überdauernde Zeichentiefe zu.

Das gezeigte dpa-Foto, das während des nächtlichen Feuerwerks zur und nach der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Joe Biden entstand, genügt diesen Ansprüchen in hohem Maße. Als ein Übermittler von „Stimmung“ wäre es, wenngleich die Atmosphäre dicht ist und sich in dieser Dichte dem Betrachter unmittelbar mitteilt, viel zu schlecht verkauft.

Meisterlich ist die Komposition

Meisterlich ist zunächst die Komposition. Das Foto ist aus zwei Dreiecken gebaut: Das vom Bildhauer vorgegebene Dreieck des Arlingtoner US Marine Corps War Memorial rechts im Vordergrund fügt sich in eine den schwarzen Bildraum ausfüllende größere Dreiecksfigur, die aus dem Kapitol und dem Washington Monument links, dem Feuerwerk und dem Kriegerdenkmal samt Flagge gebildet wird. Diese markiert beziehungsreich die Spitze des Dreiecks.

Amtseinfuehrung

Feuerwerk über dem Washington Monument und dem US Marine Corps War Memorial 

Der Aufbau folgt einer alten Tradition der Bildkomposition in der figürlichen wie in der Landschaftsmalerei, für die als prominente Beispiele vier Werke stehen mögen: Raffaels „Madonna mit Jesuskind und Johannesknabe“, Caspar David Friedrichs „Die gescheiterte Hoffnung“, Théodore Géricaults „Das Floß der Medusa“ und Eugene Delacroix’ „Die Freiheit führt das Volk“. Der Verweis auf das letztgenannte Bild liegt in unserem Kontext besonders nahe, weil auch sein Motiv, wenngleich allegorisch umgeformt, ein zutiefst politisches ist.

In sämtlichen Fällen leistet die Dreiecksfigur Außerordentliches: Sie zwingt die Dinge in einen von ihr gestifteten Zusammenhang und bändigt je nach dem die zentrifugale Zufälligkeit der Ereignisse in einer sie übergreifenden Sinnstruktur. Für einen Augenblick gefriert das Drama des Lebens und erschließt sich dem deutenden Verstehen. Was genau aber besagt dies für unsere Aufnahme des nächtlichen Feuerwerks?

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Die Bildthemen sind gleichsam parallelisiert: Mag das Feuerwerk für den Biden-Sieg über Donald Trump stehen, so bezieht sich das Kriegermonument auf einen historischen Sieg der US Army – die Eroberung der Insel Iwojima im Zweiten Weltkrieg. Auch die Japaner hatten schließlich die US-Demokratie fundamental bedroht – von außen, nicht von innen.

Ein Gemeinwesen in der Krise

Leicht aber ersetzen wir die Bronzesoldaten in Gedanken durch die leibhaftigen 25 000 Nationalgardisten, die die Zeremonie der Amtseinführung vor dem gewaltbereiten Trump-Mob zu schützen hatten. So kann die Flagge, die die Komposition integriert und krönt, auch zum Symbol eines politischen Gemeinwesens in der Krise werden. Die Hoffnung auf einen Neubeginn wird spannungsvoll konterkariert durch das – alles andere als illusionäre – Kollektivgefühl, sich in einem Ausnahmezustand zu befinden.

Auch die Tageszeit wird über all dem ambivalent: Die Nacht macht das Feuerwerk erst möglich – am Tage verpuffte es wirkungslos. Zugleich erleuchtet es eine düstere, von Zukunftsunsicherheit erfüllte Szenerie. Ein genialerer Kommentar zur aktuellen Situation der USA als dieses Foto ist kaum vorstellbar.

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