„Konnte nur noch schreien“Mutter erzählt vom Missbrauch ihrer eigenen Tochter

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Für Eltern ist es mit das Schrecklichste, was passieren kann, wenn das eigene Kind missbraucht wird.

  • Sophia war noch ein Kind, als sie von ihrem älteren Cousin missbraucht wurde. Bis heute quälen ihre Mutter Schuldgefühle. Es läuft ein Film der Taten – in Endlosschleife.
  • Hier erzählt Anna Müller, wie sie den Missbrauch entdeckte, wie die grausame Tat seitdem ihre Familie beeinflusst hat und wo sie sich in Köln Hilfe für sich selbst und ihre Tochter holte.
  • Außerdem erklärt sie, warum die Anzeige gegen den Täter später fallen gelassen werden musste.
  • Unser großes Wochenend-Dossier.

Köln – „Schreien“, sagt Anna Müller. „Ich konnte nur noch schreien.“ Schreien, „weil diesem tollen Kind etwas so Grausames passiert ist“. Schreien, „weil keiner etwas gemerkt hat“. Schreien, um die eigene Angst zu bewältigen.

Annas 13 Jahre alte Tochter Sophia ist sexuell missbraucht worden. Wann genau das war, vermag heute niemand mehr zu sagen. Auch Sophia nicht. Die Erinnerungen an den Übergriff, lange verdrängt, vergraben, vergessen, sind erst im vergangenen Jahr in Bruchstücken wiedergekommen.

Anna, die wie alle Familienmitglieder in dieser Geschichte einen anderen Namen trägt, erinnert sich noch genau, wann Sophia ihr zum ersten Mal von dem Missbrauch erzählte. „Der Vorfall kam am 16. Juli vergangenen Jahres heraus.“ Sie müsse ihr etwas sagen, habe die Tochter herumgedruckst. „Ich habe gleich gespürt, dass es etwas Ernstes war. Also haben wir uns in der Küche zusammengesetzt. Man konnte ihr richtig ansehen, wie viel Kraft es sie kostete, das zu sagen, was sie mir sagen wollte. Sie konnte mich überhaupt nicht angucken, weil sie sich so geschämt hat.“ Der Benny, ihr sechs Jahre älterer Cousin, der habe etwas mit ihr gemacht, was sie nicht gewollt habe, habe Sophia schließlich erzählt. Er sei „da dran“ gewesen. „Ich habe gefragt, womit er da dran gewesen sei. Dann hat sie es mir gesagt.“

Sophia, soviel lässt sich heute sagen, hatte damals – vielleicht im Rahmen einer Familienfeier – eine Schwester ihres Vaters und deren drei Söhne besucht. Menschen, die sie liebte und mit denen sie gern zusammen war. „Sie lag nachmittags mit dem jüngeren Cousin im Bett. Irgendwann legte sich der Älteste dazu und hat sie missbraucht. Das ist zweimal passiert, ob am gleichen Tag, weiß sie nicht mehr“, fasst Anna die Katastrophe kurz zusammen. „Als sie diesen Cousin im vergangenen Jahr bei einer Familienfeier mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß sah, kamen plötzlich die ersten Erinnerungen hoch.“ Bis heute hat die 13-Jährige Flashbacks – Erinnerungsbrocken, die Mutter und Tochter gleichermaßen das Leben schwer machen.

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Mittlerweile könne sie über den „Vorfall“ reden, ohne sofort in Tränen auszubrechen, sagt Anna. „Vor vier Monaten war das noch nicht möglich. Da hätte ich sofort losgeheult.“ An jenem Abend habe sie eine Weile gebraucht, um das Gehörte zu begreifen. „Die Information kam zwar an, aber die Emotion war noch nicht da.“ Dass ihre Tochter die Wahrheit sagt, daran zweifelt die 31-Jährige keinen Augenblick. „Natürlich habe ich ihr geglaubt.“ Sie habe Sophia spontan in den Arm genommen und ihr versichert, dass sie stark und mutig sei und dass es richtig gewesen sei, mit ihr darüber zu reden. „Plötzlich merkte ich, dass mein ganzer Körper anfing zu zittern. Ich habe sie noch einmal in den Arm genommen und sie dann gebeten, kurz in ihr Zimmer zu gehen.“

Stunden voller Tränen

Kaum habe die Tochter die Küche verlassen, habe sie einen Nervenzusammenbruch bekommen. „Ich habe geheult und gebrüllt und mit den Fäusten gegen die Spüle geschlagen. Dass jemand meiner wunderbaren Tochter so etwas antut und ihr eine solche Last aufbürdet. Dass jemand so grausam sein kann. Das war jenseits meiner Vorstellungskraft.“ In ihrer Not ruft sie erst ihre Mutter an, dann die Mutter des Täters – „ich habe sehr, sehr böse Sachen gesagt, die ich nicht bereue“ – und schließlich die Polizei. „Ich war völlig von der Rolle und konnte nicht reden, ohne zu weinen“, erinnert sich Anna an Stunden voller Tränen. „Und mein armes Kind stand daneben, hatte Schuldgefühle und Mitleid und wollte sich um mich kümmern. Sie war total darauf fixiert, dass es mir gut geht.“ Einer Notfallseelsorgerin, herbeigerufen von zwei überforderten Polizeibeamten, gelingt es schließlich, die aufgelöste Frau ein wenig zu beruhigen.

Am nächsten Tag wendet sich Anna auf den Rat der Notfallseelsorgerin an „Zartbitter“, die Kölner „Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen“. Dort vermittelt man Mutter und Tochter zwei Therapieplätze. In ihrem Kopf habe „totale Verwirrung“ geherrscht, sagt Anna. „Ich hatte so viele Fragen. Muss ich mit meiner Tochter zum Arzt? Wie verhalte ich mich ihr gegenüber? Wie kann ich ihr helfen? Soll ich sie in Ruhe lassen oder Fragen stellen? Ist es normal, dass ich anfange zu heulen, sobald sie mir gegenübersteht?“

Hat er ihr wehgetan?

In ihrem Kopf laufen in Endlosschleife „Filme“ ab, was damals wohl passiert sein könnte. „Ich habe mir vorgestellt, was meine Tochter gefühlt haben mag. Dass sie Angst hatte und ich nicht da war, um sie zu beschützen. Hat er den Übergriff als Spiel getarnt? Hat er ihr wehgetan? War sie in Panik? Und warum hat niemand eingegriffen?“

Auch die Frage nach ihrem eigenen Anteil an dem „Vorfall“ belastet sie. „Ich hatte dieses Bauchgefühl, wenn Laura die Familie besuchte: drei Jungs, einer davon schon in der Pubertät. Aber sie hat sich immer so auf diese Besuche gefreut.“ Einmal habe sie sogar mit der Mutter des späteren Täters über ihre Sorge gesprochen. Die habe nur gelacht und gesagt: „Du bist ja bescheuert. Das ist doch Familie.“

Angst, Schuld, Vorwürfe

Ursula Enders von „Zartbitter“ kennt Reaktionen wie diese: Wut, Angst, Schuldgefühle, Selbstvorwürfe. „Oft sind die Eltern von missbrauchten Kindern ebenso belastet wie die Kinder selbst“, sagt die Leiterin der Kölner „Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen“. Das Schlimmste für die Eltern sei, dass sie Fantasien über den Missbrauch ihres Kindes entwickelten. „Diese Fantasien sind oft massiver als das, was wirklich passiert ist, und laufen wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab.“ Als erstes müsse man ihnen daher helfen, diese Filme im eigenen Kopf zu stoppen. „Sie müssen lernen, wie sie sich im Alltag aus diesen Zuständen rausbekommen.“ Gelänge das nicht, könne auch das Kind in seinem Verarbeitungsprozess behindert werden. „Kein Kind will, dass man es ständig traurig anguckt.“

Viele Eltern quälten nach dem ersten Schock zudem die Befürchtung, ihr Kind könne durch den Missbrauch lebenslange Schäden davontragen oder später in seiner Sexualität beeinträchtig sein. Auch diese Angst versucht man ihnen bei „Zartbitter“ zu nehmen. „Wenn man dem Kind glaubt, es beschützt, begleitet und wenn man therapeutisch interveniert, hat es eine hohe Heilungschance“, versichert Ursula Enders. „Wir sagen den Eltern: Allein dadurch, dass Sie Ihrem Kind glauben, zu ihm stehen und in die Beratung gekommen sind, hat es eine 50-prozentige Verarbeitungschance. Jetzt müssen wir uns die zweite Hälfte angucken.“

Knapp 16.000 Fälle allein 2019 angezeigt

Unterstützungsangebote wie diese sind wichtiger denn je. Knapp 16.000 Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder wurden 2019 laut Polizeilicher Kriminalstatistik in Deutschland angezeigt – über 1000 mehr als 2018. Hinzu kamen mehr als 12 000 Anzeigen wegen „Verbreitung von Kinderpornografie“. Hier waren die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr sogar um 65 Prozent gestiegen. Lügde, Bergisch Gladbach und zuletzt Münster. Anfang der Woche wurde bekannt, dass die Polizei allein in der Causa Bergisch Gladbach gegen 30 000 unbekannte Tatverdächtige ermittelt. Die mehr als 100 Kriminalisten umfassende Ermittlungsgruppe „Berg“ war im vergangenen Jahr einem in allen Bundesländern aktiven Pädokriminellen-Netzwerk auf die Spur gekommen. 70 namentlich bekannte Verdächtige hatten sie bislang im Blick gehabt. Die ersten Prozesse gegen die Täter haben begonnen.

Rund zwei Drittel der gemeldeten Übergriffe finden innerhalb der Familien und im Verwandten- und Bekanntenkreis der Kinder und Jugendlichen statt: durch Väter und Stiefväter, Onkel, Großväter, Cousins, Nachbarn, Sporttrainer, Musiklehrer und „beste Freunde“ der Eltern. Die Dunkelziffer liegt noch wesentlich höher, denn längst nicht jeder Missbrauch wird angezeigt. Auch der Täterkreis ist größer, als die Statistik widerspiegelt: Etwa die Hälfte aller Übergriffe, so vorsichtige Schätzungen, erfolgt durch Kinder und Jugendliche. Fassungslosigkeit und Schmerz hinterlässt jeder einzelne Fall – bei den Opfern wie auch in ihrem familiären und sozialen Umfeld.

Anna findet zunächst nur mühsam ihr inneres Gleichgewicht wieder. Sie kann nicht schlafen. Sie kann nicht arbeiten. Sie kann kaum aufhören zu weinen. „Sie müssen lernen, die Tür zuzumachen“, herrscht einer ihrer Chefs sie an, als sie nach eineinhalb Wochen Auszeit mit verheulten Augen und unfähig, sich zu konzentrieren, zurückkehrt an ihren Arbeitsplatz.

Anzeige wird fallengelassen

Inzwischen hat sie Benny, den Täter, angezeigt. Zwar wird die Anzeige später fallengelassen, doch damit, sagt Anna, habe sie gerechnet. Zu vage sind die Angaben, die Sophia machen kann. Ob der Cousin zum Tatzeitpunkt bereits strafmündig war, lässt sich nicht mehr feststellen. „Am liebsten hätte ich ihn umgebracht, aber das ging ja nicht“, sagt Anna. „Er sollte sich wenigsten mit seiner Tat auseinandersetzen und wissen, dass wir wissen, was er getan hat.“ Der Kindsvater ist in diesen Tagen keine Hilfe – im Gegenteil. Anna war 17, als sie von ihm schwanger wurde, zwei Jahre später kam die Trennung; um die Vater-Tochter-Beziehung steht es seit Jahren nicht zum Besten.

Als Anna ihn über den Missbrauch an Sophia informiert, zeigt er sie beim Familiengericht wegen akuter Kindesgefährdung an. „Er glaubte mir zwar, dass etwas vorgefallen ist, aber nicht, dass es in seiner Familie passiert ist“, sagt Anna. „Er nutzte die ganze Sache, um mir einen Vorwurf zu machen. Ich trug die Schuld daran, dass unsere Tochter missbraucht wurde.“

„Mama, wir müssen reden“

Sophia hat inzwischen mit ihrer Therapie begonnen, doch die Mutter bleibt ihre wichtigste Ansprechpartnerin. „Mir hat sich schon der Magen zusammengezogen, wenn sie kam und sagte: Mama, wir müssen reden. Gesagt habe ich: Komm, wir reden.“ Sophia leidet unter Schuldgefühlen, die Flashbacks nehmen zu. Die 13-Jährige macht sich Vorwürfe, dass sie ihre Mutter mit ihren Erinnerungen belastet. Dass sie sich nicht zur Wehr gesetzt hat, als der Cousin sie bedrängte. Dass ihr seine Berührungen sogar gefallen haben könnten. „Ich habe ihr erklärt, dass nicht sie schuld an dem Vorfall ist, sondern ganz allein der Täter“, sagt Anna. „Selbst wenn sie vielleicht lustig fand, was passiert ist, ist das in Ordnung. Ein Kind in dem Alter kann noch nicht sexuell denken und weiß nicht, was der andere mit ihm macht.“

Ratschläge geben, die eigenen Bilder im Kopf „in eine Schublade sperren und wegschließen“, bis sie bereit ist, sich ihnen zu stellen – inzwischen kann Anna das.

Auch musste sie erst lernen, wie sie ihrer Tochter am besten helfen kann. Sie ist nicht die einzige, der das so geht. Viele Eltern seien nach einem Missbrauch zunächst verunsichert im Umgang mit ihrem Kind, sagt Ursula Enders. Bei „Zartbitter“ erhalten sie daher praktische Tipps für den Alltag. „Wir erklären ihnen, warum sich das Kind wie verhält und was sie tun können, wenn es Stimmungsschwankungen hat oder seine Wut gegen die Eltern richtet.“

Kind nicht nur als Opfer sehen

„Zuhören, akzeptieren, wenn das Kind nicht reden will, Stärke zeigen“, rät auch Gabriele Komesker, Leiterin der „Kinderschutzambulanz am evangelischen Krankenhaus Düsseldorf“ allen Betroffenen. Die Einrichtung ist Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, die in irgendeiner Form Gewalt erlebt haben. Eltern von Missbrauchsopfern empfiehlt Gabriele Komesker, das Vorgefallene „nicht zu bagatellisieren, aber auch nicht zu dramatisieren“. Man solle dem Kind nicht die eigenen Bilder und Vorstellungen aufdrängen, die es vielleicht gar nicht begreife. Wichtig sei vielmehr, „sich selber zurückzunehmen, dem Kind Sicherheit zu vermitteln und ihm klarzumachen, dass es nicht schuld ist an dem, was vorgefallen ist“. Keinesfalls dürfe man das Kind nur als Opfer sehen. „Setzen Sie weiterhin liebevoll Grenzen und akzeptieren Sie nicht jedes Verhalten, weil das Kind missbraucht wurde.“

Zum ersten Mal verliebt

Das Verhältnis zwischen Sophia und ihr sei heute enger denn je, sagt Anna. „Einmal in der Woche setzen sich Mutter und Tochter zusammen, um über alles zu reden, was die 13-Jährige bedrückt. Anna hat ihr ein Notizbuch geschenkt, in der sie alle Fragen notiert, die ihr im Laufe der Woche einfallen. „Wenn sie sich diese Fragen bis zu dem Abend, an dem wir reden, nicht selber beantworten kann, bearbeiten wir sie gemeinsam.“ Vor einigen Wochen hat sich Sophia ein erstes Mal verliebt. Auch das hat sie mit der Mutter besprochen. „Sie war extrem verunsichert und hat sich unwohl gefühlt, weil sie diese Gefühle für einen Jungen hatte.“

Heute sei Sophia stabil, sagt Anna. Stabiler vielleicht als sie selber. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke, was passiert ist. Aber ich habe akzeptiert, dass es zu unserem Leben gehört. Ich versuche, die Fortschritte zu sehen. Ich sehe, dass meine Tochter redet. Dass sie offen und stark ist und sich verknallen kann. Ich sehe, dass wir Alltag haben. Ich sehe, dass sie kein Opfer ist.“  

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