Siavash Hosseini wurde wohl als erster von dem islamistischen Attentäter angegriffen. Hier erzählt er seine Geschichte und warum er den Angriff überlebte.
Solingen-Opfer hat Angst vor AbschiebungKölner Iraner wurde bei Attentat schwer verletzt
Die Schnittwunde an der Schulter, genäht mit 21 Stichen, ist noch leicht entzündet, rund um die schwarze Naht schimmert ein rosa Rand. Nachts, sagt Siavash Hosseini, „brennt und pocht es, ich kann nicht gut schlafen“. Er macht eine Pause, bevor er fortfährt: „Vor meinen Augen wurde drei Menschen die Kehle durchgeschnitten. Ich bekomme die Bilder nicht aus dem Kopf.“ Die Narbe, sie wird bleiben. Für Siavash Hosseini. Und, wie die angstbesetzte und frei drehende Debatte in der Folge des islamistischen Attentats von Solingen nahelegt: für das ganze Land.
Der 32 Jahre alte Hosseini, vor 14 Monaten geflüchtet aus dem Iran, ist ein sportlicher Typ mit langen Haaren und offenem Blick. Jeden Morgen gehe er ins Fitnessstudio, erzählt er, ansonsten bestünden seine Tage aus „Arbeiten und Deutsch lernen“. Alkohol trinke er eigentlich nie - nicht aus religiösen Gründen, mit Religion habe er nichts am Hut - allein, weil er Sportler sei. „Vielleicht hat es mir an dem Abend das Leben gerettet, dass ich nichts getrunken hatte und gut reagieren konnte.“
Siavash Hosseini war wahrscheinlich der erste Konzertbesucher, auf den der syrische Attentäter Issa-al H. beim Festival der Vielfalt am 29. August in Solingen zustürmte, um ihm mit einer 15 Zentimeter langen Klinge die Kehle durchzuschneiden. „Es war dunkel vor der Bühne, ich habe nur gesehen, wie ein Mann auf mich zusprang, der etwas in seiner Hand versteckte, und habe instinktiv versucht, ihn abzuwehren.“ Sekunden später lagen mehrere Menschen mit aufgeschnittenen Hälsen vor ihm auf dem Boden. Er habe gesehen, wie der Mann mit seinem Messer gezielt auf die Kehlen zielte, „ich habe mir an die Schulter gefasst und das Blut gefühlt“. Er schüttelt den Kopf. „Das Leben ist so kurz, das weiß ich jetzt. Aber ich lebe noch.“
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Opfer des Solingen-Attentats: In zwei Wochen zehn Kilo abgenommen
Die süßen Baklava, die die Kellnerin bringt, rührt Hosseini nicht an. Fast zehn Kilo habe er in den vergangenen zwei Wochen abgenommen. 15 Tage nach dem Attentat, bei dem drei Menschen ermordet und acht zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden, sitzt Siavash Hosseini in einem Café in der Kölner Innenstadt und erinnert sich. Er hat sich so hingesetzt, dass er die vorbeilaufenden Menschen im Blick hat. „Bahn fahren oder in Menschenmengen gehen, fällt mir schwer“, sagt er, „ich versuche, mich immer an eine Wand zu stellen und jeden zu sehen.“ Schon fünf Tage nach dem Attentat hat er wieder gearbeitet. Hosseini hat Architektur studiert, er lebt seit neun Monaten in Köln. Bei VW macht er eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker.
Er zeigt ein Handybild, das ihn bei der Trauerfeier von Solingen mit Bundeskanzler Olaf Scholz zeigt. Zwischen dem historischen Selfie, das die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem strahlenden irakischen Flüchtling Shaker Kedida machte, und jenem von Olaf Scholz mit Siavash Hosseini liegen genau neun Jahre.
„Wir schaffen das“, der Merkel-Satz von damals, der mit diesem milde lächelnden Kanzlerinnen-Selfie verbunden wurde, ist vielerorts mit Leben gefüllt worden — durchgesetzt hat sich das Mantra in der Republik nicht. Spätestens nach dem islamistischen Anschlag von Solingen wird der gegenteilige Satz propagiert: Stopp, wir schaffen das nicht!, tönt es überall. Keine Zuwanderung mehr aus Syrien und Afghanistan!, fordert der CDU-Chef. Mehr Härte! Mehr Abschiebungen!, der Kanzler und der Bundespräsident. Siehste!, feixt die populistische bis rechtsextreme und verfassungsfeindliche AfD, haben wir immer gesagt!
Auf dem aktuellen Flüchtlings-Kanzler-Foto sind zwei ernste Männer mit schwarzen Anzügen und schlanker schwarzer Krawatte zu sehen, ihr Blick bedrückt. Der Kanzler hat linken Daumen und Zeigefinger ritualisiert zusammengelegt und den Arm in Bauchnabelhöhe angewinkelt, es sieht so aus, als halte er sich am Anzugsknopf fest. Die Scholz-Geste wirkt verkrampfter als die Merkel-Raute, weniger offen. Die Uhr im Hintergrund steht auf 28 Minuten nach 12.
Siavash Hosseini sagt, Olaf Scholz sei sein „Favourite Kanzler“, ein „super Typ, dem ich sehr dankbar bin“. Nach dem Attentat hatte Scholz ihm, dem vom islamistischen Attentäter schwer verletzten Flüchtling, seine Anteilnahme zugesichert. „Wir kümmern uns um Sie und sind für Sie da, hat der Kanzler gesagt, das fand ich gut. Er ist mein Favorit.“ Ob das so stimmt, dass Scholz für ihn, den Geflüchteten mit offenem Asylverfahren, da sei, sich um ihn kümmert, „da bin ich mir im Rückblick nicht so sicher“, sagt Hosseini jetzt. „Deutschland schiebt ja auch wieder in den Iran ab.“ Und sein eigenes Asylverfahren gehe nicht voran.
Nach dem Attentat, zu dem sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bekannte und das kurz vor den Wahlen in Thüringen und Sachsen eine beispiellose Welle von Forderungen nach einer härteren Migrationspolitik auslöste, hatte Hosseini ein paar kurze Interviews gegeben. Als er tags darauf in seine Kölner Flüchtlingsunterkunft zurückkehrte, „haben gläubige muslimische Bewohner mich gefragt, warum ich gesagt hätte, dass ich nicht gläubig sei“, erinnert er sich. „Einer hat gesagt: Es wäre besser gewesen, wenn Du gestorben wärst.“ Es sei egal, ob die Menschen aus Afghanistan, Syrien, dem Iran, Irak oder sonst wo herkämen, findet Hosseini: „Der politische Islam und religiöse Fanatiker sind gefährlich. Ich weiß das aus meiner Heimat.“
Siavash Hosseini ist Atheist. Sein Vater ist getötet worden in der Zeit der Proteste nach dem Mord an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini vor zwei Jahren. Er selbst sei auch auf die Straße gegangen, um gegen das Regime zu protestieren. „Irgendwann kam ein Zeitpunkt, da habe ich mich im Iran nicht mehr sicher geführt.“ Sein Vater sei Schriftsteller gewesen – und dem Regime offenbar ein Dorn im Auge. Er selbst habe nach seinem abgeschlossenen Architekturstudium „keine Chance auf einen Job gehabt. Dafür muss man regimetreu sein. Meine Schwester hat nie eine Arbeit als Krankenschwester in Teheran gefunden. Es gab für regimekritische Menschen wie uns keine Zukunft“.
Für seine Familie habe Bildung über allem gestanden, sagt Hosseini. „Für mich bedeutet Aufklärung: Die Religion sollte niemals die Macht über die Politik haben.“ In Deutschland sei das zum Glück so. „Ich bin sehr dankbar, hier zu sein.“ Trotz dieses Attentats eines Flüchtlings, das ihn fast das Leben gekostet hätte und das womöglich seinen eigenen Flüchtlingsstatus infrage stellen könnte, weil die Gesetze verschärft werden könnten.
Er hält jetzt einen kleinen Monolog über seine Dankbarkeit. „Mein Chef hat angerufen und gefragt, wie es mir geht, die Polizisten waren supernett, das Ausländeramt war nett, Olaf Scholz, Nancy Faeser, Hendrik Wüst und Herr Steinmeier waren auf der Trauerfeier nett. Die Menschen in Köln sind offen und freundlich. Alle Deutschen sind wie Engel zu mir.“
Seine Freunde – Hosseini nickt der Dolmetscherin zu, die er nur braucht, wenn er etwas für ihn sehr Wichtiges und gleichzeitig Komplexes sagen möchte – hätten ihm vom Rassismus in Deutschland erzählt, von der AfD, der härteren Asylpolitik – auch und gerade nach dem Anschlag. „Ich habe Rassismus noch nicht direkt erlebt. Aber religiöse Fanatiker leider auch in Deutschland“, sagt er. Jetzt, nach dem Attentat, rufe er fast täglich bei den Behörden an, um nach dem Stand seines Asylverfahrens zu fragen. Immer wieder werde er vertröstet. „Ich habe Sorge, dass der Islamismus und dieses Attentat dazu führen, dass der Rassismus und Faschismus in Deutschland stärker wird“, sagt er.
Hosseini spricht 14 Monate nach seiner Ankunft in Deutschland exzellent Deutsch, er hat eine Ausbildungsstelle bei Volkswagen und geht in Düsseldorf zur Berufsschule. Im Iran hatte er neben dem Architekturstudium eine Kfz-Ausbildung abgeschlossen, in Dubai in einer großen Werkstatt Lamborghinis, Bugattis, Ferraris und Rolls Royce repariert.
Siavash Hosseini, Atheist, fleißig, weltoffen, traumatisiert durch ein islamistisches Attentat, ist ein Musterbeispiel gelungener Integration. Angst, sagt er, habe er nicht in erster Linie vor einer Abschiebung. Angst habe er vor allem vor einem erneuten Übergriff. Wegen der Interviews, auch des Fotos mit dem Kanzler, sei er „ein bisschen bekannt geworden“. In seinem Kölner Wohnheim gebe es Menschen, die ihm den Tod wünschen. „Ich würde gern umziehen“, sagt er, „aber eine Wohnung zu finden, ist sehr schwierig in Düsseldorf.“
Wegen der Verfolgung durch ein islamistisches Regime ist Siavash Hosseini geflüchtet, in Solingen wurde er Opfer eines islamistischen Attentats. Deutschland ist er dankbar. Aber er hat weiterhin Angst, vor Islamisten, vor Rassisten und Faschisten. Sicher fühlt er sich hier nicht.