Corona-Protokoll mit Künstlerin Marie Köhler„Wie fett waren wir eigentlich?“

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Marie Köhler

Künstlerin Marie Köhler

Köln – Ich habe beschlossen, die großen Krisen unserer Zeit - Krieg(e), Klimawandel, Corona - nicht mehr in jedem Moment als Drama zu begreifen, das mir ständig und immer mehr die Luft zum Atmen und den Raum für andere Gedanken nimmt. Es gäbe einige Gründe dafür, das zu tun – zum Beispiel weiß ich nicht genau, wie ich in ein paar Monaten noch meine Miete bezahlen soll, wenn die Energiekosten weiter steigen und die Gaspreisbremse irgendwann nicht mehr greift. Aber ist es wirklich so schlimm, das heute nicht zu wissen?

Tatkraft statt Depression

Wenn wir nur noch ausschließlich mit Dramen konfrontiert sind, mit vermeintlicher Aussichtslosigkeit, dem Wegfall von Sicherheiten, dann verlieren wir unsere Sensibilität für die guten Dinge um uns herum und am Ende vielleicht auch unsere Tatkraft etwas an der momentanen Situation zu verändern. Für mich besteht dadurch die Gefahr, leicht in depressive Stimmungen und Selbstmitleid zu versinken und nur noch um sich selbst zu kreisen.

So erlebe ich die Gesellschaft in Deutschland gerade an vielen Stellen: angeschlagene, müde und gereizte Gesichter, wohin man schaut. Es sieht so aus, als seien wir auf dem Weg in eine kollektive Depression. Wir müssen den Gürtel enger schnallen, heißt es an jeder Ecke. Wir verlieren einen Teil unseres Wohlstands, unsere Freiheit, ist die Sorge der Menschen um mich herum. Wir können uns dies oder das nicht mehr leisten. Und die Zukunft: oh, ganz düster.

„Ist jede Entbehrung schlecht?“

Die Fragen, die sich mir da stellen: Wie fett waren wir eigentlich? Und: Hat uns der ständige Konsum (als Gütesiegel des Wohlstands) so gut getan, wie es überall erzählt wurde? Andersherum: Ist jede Entbehrung schlecht? Oder liegt darin vielleicht nicht auch eine Chance? Liegt es nicht immer noch entscheidend an jedem von uns, wie unsere Zukunft aussieht? Und zeigen uns nicht zumindest einige der Krisen, dass wir in der Vergangenheit doch nicht alles richtig gemacht haben, wie wir gern behaupten, wenn wir zurückschauen?

Auf welche Kosten haben wir denn immer so gut gelebt? Warum konnten wir nach unseren westlichen Prinzipien in Bezug auf Freiheit und Gerechtigkeit so gut leben? Und aus welcher Position heraus spreche ich gerade und mache ich mir gerade eigentliche diese Sorgen?

Marie Köhler

Marie Köhler

Es mag eine Utopie sein, aber ich denke, die Krisen der Gegenwart könnten (und sollten!) unseren Blick weiten: Das Bewusstsein dafür sensibilisieren, dass wir unseren Wohlstand seit Jahrzehnten auf Kosten von Menschen finanzieren, die ausgenutzt und ausgebeutet werden. Die in Regionen der Welt leben, in denen Dürren und Flutkatastrophen viel verheerender sind als im globalen Norden. Und so werden nach wie vor westliche Annahmen und Werte als universell erstrebenswert propagiert und die Handlungsmacht liegt immer noch größtenteils bei weißen Menschen.

Spenden gegen das schlechte Gewissen

Mechanismen der Kontrolle und der wirtschaftlichen Ausbeutung bestehen bis heute und fußen zu großen Teilen auf tradierten Strukturen, Mustern und Praktiken der Kolonialzeit.

Ich denke, dass wir, die wir zufällig in einem Land leben, das wirtschaftlich besser dasteht als die allermeisten anderen, mit wachsendem materiellem Wohlstand maßlos und träge geworden sind. Wenn wir ein schlechtes Gewissen hatten, dass wir billige Klamotten aus Bangladesch kaufen, haben wir bei der nächsten Flutkatastrophe in Bangladesch etwas gespendet. Und vielleicht die Grünen gewählt. Inzwischen ahnen wir: damit ist es nicht getan.

In Krisenzeiten geht es darum, neue Lebenskonzepte zu entwerfen. Kritisch seine eigenen Privilegien zu hinterfragen und eventuell infrage zu stellen. Und trotzdem dabei optimistisch zu bleiben. Kunst und Kultur können dazu wichtige Beiträge leisten: Architekt:innen entwerfen Konzepte für CO2-neutrales Wohnen. Der Diskurs über Kunst(raub) zu Zeiten des Kolonialismus trägt zur Aufklärung über historische Zusammenhänge globaler Ungerechtigkeit bei. Indem die Kunst internationaler und diverser wird, weitet sie Perspektiven und Denkweisen und kann Ängste vor dem mit mir nicht identischen abbauen.

Warum die Kunst für die Demokratie so wichtig ist

Kunst kritisiert, differenziert, stellt Fragen. Sie bietet Einblicke in andere Kulturen – und andere Perspektiven auf uns. Ich bin überzeugt, dass sie jetzt wichtiger denn je ist, damit wir langfristig unsere so wertgeschätzte Demokratie und unsere Vorstellungen von Freiheit behalten können. Wir müssen Räume öffnen, in denen diverse Positionen, Blickwinkel und Denkweisen möglich seinen können und zum Austausch einladen.

Kunst kann als Mittlerin dienen, neue gesellschaftliche Konzepte zu entwickeln. Wenn Kultur verschwindet – was in der freien Kunstszene coronabedingt schmerzhaft zu besichtigen war, auch viele Freund:innen von mir haben sich andere Jobs gesucht – schwindet das Verständnis dafür, wie eine Gesellschaft geworden ist, was sie ist und auch was sie sein könnte. Und da die Kunst, unsere Kultur, die eigene Identität stärkt und für ein gesundes Identitätsverständnis beitragen kann, habe ich die Sorgen, dass durch das Schwinden der Künste aus der Gesellschaft heraus, das eigene Identitätsverständnis leidet und sich auf die Gemeinschaft hin negativ verändert.

Ich hoffe, dass das reiche Deutschland, angeblich das Land der „Dichter und Denker“, das nicht hinnimmt und nicht mal wieder zuerst an der Kultur spart, um Bundeswehr, Energie und was sonst noch kommen mag zu finanzieren.

Neue Arbeit über rassistische Frauen

Ich bin froh, trotz der Krisen und auch gerade wegen der Krisen weiter als Künstlerin arbeiten zu können. Das geht auch deswegen, weil ich mehrere Lehraufträge an Universitäten habe. Mein nächster kleiner Beitrag zu einem Perspektivwechsel ist eine Ausstellung über mächtige, rassistische Frauen in den vergangenen 150 Jahren, deren Rolle oft übersehen wurde – und die doch wesentlich sind für unser Identitätsverständnis und unser Miteinander heute. Magda Goebbels prägt Vorstellungen davon, was eine deutsche Frau, eine Mutter angeblich sein soll(te), bis heute – in die Geschichte ging ihr Mann ein, als Propagandaminister und rechte Hand Hitlers.

Frieda von Bülow oder Marie Pauline Thorbecke stehen stellvertretend für Frauen, die als Helferinnen in Afrika vermeintlich Gutes taten, deren Handeln aber rassistische Haltungen zugrunde lagen – und die dazu beitrugen, dass Entwicklungshilfe bis heute neokolonial strukturiert ist. Kunst ist auch dazu da, Geschichte immer wieder neu zu erklären und einzuordnen, vor dem Hintergrund der Gegenwart. Wenn ich eine Ausstellung über weiblichen Komplizinnen in der Kolonialzeit und im Dritten Reich vorbereite, merke ich mal wieder, dass nicht alles schlechter geworden ist – wie ja auch immer wieder gern gesagt wird.

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Künstlerin Marie Köhler

Denn die Welt war zu jeder Zeit schlecht, grausam und furchtbar, nur eben meistens nicht für uns im globalen Norden.- Und sie war auch schon immer wunderbar. Das Leben in all seinen Facetten war und ist auch schön und unbeschreiblich großartig. Vergessen wir das nicht.

Die Welt ist nicht schlechter geworden - im Gegenteil

In vielen Bereichen ist unsere Gesellschaft vielfältiger geworden. Frauen sind nicht in allen Bereichen gleichberechtigt, aber wir machen Fortschritte. Nicht jeder lebt nachhaltig und verbraucht wenig CO2 – aber wir sind uns bewusster, dass wir die Klimaerwärmung nur gemeinsam verlangsamen können.

Um die Aufklärung voranzubringen, hat es immer Krisenzustände gebraucht. Insofern sind Krisen auch Chancen. So möchte ich das zumindest sehen und entsprechend was tun. Als Künstlerin und Mensch.

Ab dem 8. Dezember ist Marie Köhlers neue künstlerische Arbeit The white hero complex Vol 2 / Weiße Komplizinnen in der Galerie der Alten Feuerwache zu sehen. Donnerstag, 8.12., 18:30 – 21 Uhr, Vernissage. Freitag, 9.12. bis Sonntag, 18.12., 16 – 21 Uhr, Eintritt frei. 

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