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Feile, Tunnel, StraßenbahnEin Kölner Justizbeamter spricht über spektakuläre Fluchten aus dem  Klingelpütz

6 min
jva koeln ossendorf

Ein Gefangener grub sich in der Kölner JVA 1985 durch einen 25 Meter langen Tunnel unter zwei Mauern und einer Straße in die Freiheit.

Hermann Jäger kennt die Schwachstellen des Strafvollzugs wie kaum ein anderer. Jahrzehntelang hat der Justizbeamte im Gefängnis gearbeitet – auch in Köln.

Hubschrauber haben nach ihm gesucht und mehrere Streifenwagenbesatzungen. Als der 18-jährige Häftling seinen beiden Bewachern nachts nach einer Behandlung im St. Franziskus Hospital in Köln-Ehrenfeld davon lief, hatte er die Hände vor dem Bauch gefesselt. Die Polizei kennt seinen Namen und seine Wohnanschrift. Und trotzdem fehlt seit viereinhalb Wochen jede Spur von dem Heranwachsenden, der wegen Raubes in U-Haft saß. „Er ist weiter auf der Flucht und wird gesucht“, berichtet ein Polizeisprecher auf Anfrage.

„Ausführungen sind ein großer Schwachpunkt“, sagt Hermann Jäger (Name geändert). Zum Gespräch trifft der „Kölner Stadt-Anzeiger“ den erfahrenen JVA-Beamten nachmittags in einem Kölner Lokal. Jahrzehnte hat Jäger als Justizbediensteter hinter Gittern gearbeitet, fast 20 Jahre im Kölner Klingelpütz.

Köln: Gitterstäbe mit einer Diamantfeile durchgesägt

Wenn Gefangene ins Krankenhaus, zum Arzt oder zu anderen Terminen außerhalb der JVA begleitet werden, bestehe immer ein erhöhtes Risiko, dass sie entkommen, sagt Jäger. „Der Unterschied ist: Als Beamter kennst du deine Anstalt genau, du weißt, wo was ist, kennst die Räume, die Wege. Aber draußen ist alles anders, ungewohnt, freier, größer. Da ist es schwieriger, jemanden zu bewachen.“ Er mache jedem Häftling vor einer Ausführung eine deutliche Ansage, sagt Jäger: „Pass auf, sage ich zu ihm, solange du bei mir bist, kommst du nicht weg. Ich weiche dir keinen Zentimeter von der Seite. Versuche es gar nicht erst.“ Laufe mal einer weg, sei es „eigentlich immer menschliches Versagen“, weiß der Beamte aus Erfahrung. Ihm sei das zum Glück nie passiert.

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Der Ablauf bei Ausführungen sei immer derselbe, „hundertfach im Jahr“, betont Ralf Peters, stellvertretender Leiter der JVA Köln. Man könne immer nur versuchen, eine Flucht „so gut wie möglich“ zu verhindern. „Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht.“

Die gibt es nicht einmal im Knast, wo die Beamten immerhin jeden Winkel kennen und – so könnte man meinen – jede Schwachstelle. In Köln ist ein Ausbruch aus der JVA seit Jahren nicht gelungen. Aber Jäger erinnert sich noch an den Juli 1999, als sei es gestern gewesen. Zwei Untersuchungshäftlinge, 27 und 30 Jahre, hatten nachts gegen 4 Uhr die daumendicken Stahlstäbe ihrer Zelle im Erdgeschoss von Haus 3 durchgesägt – mit einer Diamantfeile, die ihnen ein Anwalt in den Knast geschmuggelt haben soll. Mit einem aus Stuhlbeinen gebastelten Brechinstrument bogen sie die Stäbe auf, kletterten hinaus und über ein Baugerüst auf ein Nebengebäude, liefen über die Dächer der JVA und hangelten sich im Besuchsbereich an der Fassade hinab – aus etwa vier Metern Höhe.

Wir haben danach alle Kontrollen extremst sorgfältig und doppelt und dreifach gemacht
Hermann Jäger, JVA-Beamter

„Der eine wurde ein paar Tage später von Zivilpolizisten auf der Widdersdorfer Straße entdeckt und festgenommen, in der Nähe des Wohnhauses seiner Familie“, erinnert sich Hermann Jäger. „Als er wieder bei uns war, habe ich ihn gefragt, wo er denn draußen war, da sagte er kleinlaut: na, bei meiner Familie.“ Die Polizei hatte das vorausgesehen. Sein Komplize indes soll über die Niederlande in seine Heimat Afrika entkommen und dort später gestorben sein.

Unter den Bediensteten habe in den Tagen nach dem Ausbruch ein Klima der Angst und Nervosität geherrscht, berichtet Hermann Jäger. „Jeder hat sich gefragt, ob er vielleicht mitschuldig war, weil er irgendetwas übersehen hatte.“ Fest steht: „Wir haben danach alle Kontrollen extremst sorgfältig und doppelt und dreifach gemacht. Für Wochen war der Klingelpütz sicher wie nie.“

Strafbar ist eine Flucht aus dem Gefängnis in Deutschland nicht, der Gesetzgeber bewertet den natürlichen Drang nach Freiheit höher. Es sei denn, der Ausbrecher begeht während seiner Flucht Straftaten. Gitter durchzusägen etwa kann später als Sachbeschädigung bestraft werden – ebenso wie die Flucht zu mehreren. Denn Gefangene, die „sich zusammenrotten und mit vereinten Kräften gewaltsam ausbrechen“ begehen laut Strafgesetzbuch Meuterei und werden mit mindestens drei Monaten Haft bestraft.

Köln: Tunnelöffnung lag im Vorgarten eines Wohnhauses

Die womöglich spektakulärste Flucht aus dem Kölner Gefängnis in Ossendorf gelang im November 1985 Adnan H. Monatelang hatte der 31-jährige verurteilte Räuber unbemerkt einen 25 Meter langen Tunnel unter der Gefängnismauer und der Straße gegraben. Mit einer selbst gebastelten Säge hatte er zunächst einen Querstab aus dem Fenstergitter seiner Zelle gelöst. Zum Abseilen benutzte er den Bettbezug. So gelangte er Nacht für Nacht in einen Innenhof. An einem gegenüberliegenden Gebäude fand er ein Kellerfenster zu einem flachen Gang, der für Wartungsarbeiten an Leitungen genutzt wurde. H. sägte die Vergitterung des Kellerfensters auf und kroch durch den Gang, der nicht betoniert war, sondern aus befestigter Erde bestand, bis er auf die Hausmauer stieß. An diesem Punkt war er etwa 18 Meter von der Außenmauer der Haftanstalt entfernt.

Mit einem Eisenstück begann er zu graben. Gegen Morgen kletterte er zurück in seine Zelle. Aus Stryropor soll er sich eine Nachbildung der Gitter gebastelt haben, sodass seine nächtlichen Aktivitäten unbemerkt blieben. Der Häftling untertunnelte nicht nur die beiden Mauern, sondern auch einen asphaltierten Weg innerhalb des Gefängnisgeländes sowie die Straße, die um die Außenmauer herumführt. Die Tunnelöffnung lag im Vorgarten des Einfamilienhauses eines Justizvollzugsbeamten, etwa 25 Meter von dem Kriechgang entfernt.

Morgens um 2 Uhr kroch Adnan H. aus dem Loch. Seine Freiheit währte aber nur kurz. 80 Minuten später fiel er einer Polizeistreife auf, als er mit einer Plastiktüte in der Hand und ziemlich erschöpft über den Hildeboldplatz am Kaiser-Wilhelm-Ring schlurfte. 14 Jahre später, am 22. Dezember 1999, wurde Adnan H. von der Polizei erschossen, nachdem er in der Landeszentralbank in Aachen Geiseln genommen hatte.

Aber es sind bei weitem nicht nur die Schwerverbrecher, die ausbrechen. „Manche Kollegen machen einen Fehler und denken: Der ist ja nur ein Eierdieb, der kommt eh bald raus, auf den muss ich nicht so aufpassen“, sagt der Justizbeamte Hermann Jäger. Dabei müsse man immer alle gleich behandeln. „Es gibt Leute, die würden alles dafür tun, um rauszukommen“ – selbst wenn sie nur noch 16 Tage bis zur Entlassung absitzen müssen; so wie der Gefangene, der Anfang der 2000er Jahre aus dem Klingelpütz entkam. Er war Teil einer Putzkolonne aus bewährten Häftlingen, die unter Aufsicht eines Beamten den Parkplatz vor der Anstaltsmauer an der Rochusstraße fegen sollten.

„Und plötzlich rennt der los, springt in einen Waggon der Linie 5 und weg ist er“, erzählt Hermann Jäger. Eilig überschlug die Polizei, wo der Ausbrecher am ehesten aussteigen würde, am wahrscheinlichsten erschien der Hauptbahnhof. Beamte postierten sich dort auf dem U-Bahnsteig – und tatsächlich: Als der Gefangene in seiner blauen Anstaltskleidung am Dom aus der Bahn stieg, nahmen sie ihn fest.