„Tränen in den Augen“Kalker Intergrationshaus hilft ukrainischen Geflüchteten

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Kalker I-Haus

Alexander Estis, Larysa Leontieva, Lev Leontiev und Elizaveta Khan mit gespendeten Waren im Kalker I-Haus.

Köln-Kalk – Das Online-Training funktioniere hervorragend, bestätigt der 15-Jährige, der als ehemaliger Junioren-Weltmeister im Dame-Spiel durchaus anspruchsvoll ist. Auch der Schulunterricht laufe hervorragend, seine  Lieblingsfächer sind Mathematik, Physik und Informatik: „Aber hin und wieder hört man im Hintergrund eine Sirene – Bombenalarm. Dann ist der Unterricht wieder für längere Zeit unterbrochen.“ Denn Lev Leontievs Lehrer sind noch in Winnyzja, einer Stadt mit fast 350000 Einwohnern südwestlich von Kiew.

Homeschooling aus Winnyzja

Aus Winnyzja ist er mit seiner Mutter geflohen, seit Anfang April leben die beiden in Köln, im Belgischen Viertel. Doch das Gespräch findet im Kalker Integrationshaus statt. Denn dessen Leiterin Elizaveta Khan wurde in Moskau geboren, Russisch ist ihre Muttersprache, und eine ihrer Mitarbeiterinnen stammt direkt aus der Ukraine. Für viele Flüchtlinge ist das I-Haus daher ein wichtiger Anlaufpunkt, häufig werden die Ankömmlinge vom deutsch-ukrainischen Verein Blau-Gelbes Kreuz, der in der Beratungsstelle der Stadt am Breslauer aktiv ist, hierher geschickt. „Wir helfen bei der Beschaffung der nötigen Papiere, dafür bekommen wir vom Verein einen Teil der Spenden ab“, erklärt Khan.

Jugendliche aus Mariupol

In den Gängen des Integrationshauses stehen Regale und Kartons voll mit Dingen des täglichen Gebrauchs, mit Konserven, Instant-Kaffee, Pampers etwa. Immer wieder kommen ukrainische Frauen und holen vorgepackte Papiertaschen ab. „Die Leute sind alle untergebracht, und das ist auch sehr wichtig. Aber oft ist zum Beispiel nicht klar, wann und vom wem das Essen kommt“, erzählt Elizaveta Khan. „Das betrifft vor allem jene, die in Hotels leben.“ Glücklicherweise zeigten sich auch die Kalker sehr solidarisch, viele Spenden gingen direkt ans Integrationshaus. „Ich glaube, letztens haben die den ganzen DM-Markt leergekauft“, so Khan. Viel Erfahrung hat man beim I-Haus gesammelt, wenn es um die Beschaffung von Papieren bei der Ausländerbehörde geht, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Ankunft der Flüchtlinge aus Syrien, aus Afghanistan und einigen afrikanischen Staaten seit  Herbst 2015. „Fiktionsbescheinigung“ ist die eigenwillige Bezeichnung der Verwaltung für ein Dokument, das den Verbleib im Lande gestattet, bis der Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis bearbeitet ist. Das kann derzeit dauern, die Ämter sind überlastet, auch Integrationskurse samt Deutschunterricht sind Mangelware. „Einige Leute sitzen den ganzen Tag am Smartphone und versuchen, online einen Termin beim Ausländeramt zu kriegen“, berichtet Khan. „Zuletzt habe ich gehört, dass zwischen 20 und 23 Uhr manchmal Termine freigegeben werden. Die muss man dann schnell anklicken.“

Psychologische Hilfe gefragt

Etwa 200 Neuankömmlinge aus der Ukraine melden sich derzeit pro Woche beim Integrationshaus, viele wollen auch einfach ihre Geschichte erzählen. „Jugendliche, die 20 oder 30 Tage in einem Keller in Mariupol verbracht haben, ältere Menschen, die Fotos ihres zerstören Hauses mitbringen – viele sind traumatisiert, in Schockstarre“, sagt Elizaveta Khan. Auch der Autor Alexander Estis, ebenfalls in Moskau geboren und bis vor kurzem als Veedelsschreiber in Kalk unterwegs, hilft zuweilen im I-Haus aus. „In der Ukraine gibt es bestimmt zehn Millionen gemischte, russisch-ukrainische Familien, die können überhaupt nicht verstehen,  weshalb dieser Krieg ausbrechen musste.“  Psychologische Hilfe wäre nötig, aber für so viele Betroffene fehlten auch in diesem Bereich die Kapazitäten.

Ungewisse Zukunft

Und die Zukunft ist ungewiss. Levs Mutter Larysa Leontieva beispielsweise glaubt nicht, dass die beiden so bald zurück zu ihrem Mann können, der in Winnyzja geblieben ist. Ihr Sohn hat immerhin einen Platz an einem bilingualen Bonner Gymnasium mit Unterricht in Deutsch und Englisch in Aussicht. Sie möchte, wenn möglich, hier arbeiten und lernt dafür schon Deutsch. „Guten Tag“ kann sie schon sagen, sogar „Bützjer“ und „Strüßjer“ hat Khan ihr beigebracht. Sie seien sehr dankbar, dass sie so freundlich aufgenommen wurden, sagt Leontieva, politisch kontrovers diskutierte Fragen wie die nach der Nord Stream 2-Pipeline oder möglichen Lieferungen von schweren Waffen könnten das nicht beeinträchtigen: „Wir stehen außerhalb der Politik. Das ist alles viel zu komplex.“

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Für die politischen Aspekte interessiert sich Alexander Estis allerdings sehr. Er ist regelmäßig in Russland unterwegs, zuletzt war er im November 2021 in Moskau, um für den Schweizer Tagesanzeiger die Macher des Putin-kritischen Fernsehsenders Doschd zu interviewen (der inzwischen vom Netz genommen wurde). „Die Redakteure sind heute im Exil in Istanbul oder Tiflis und veröffentlichen  ihre Beiträge über Facebook oder You Tube“, erzählt er. Estis versucht, russischen Schriftstellern und Journalisten Zugang zu deutschsprachigen Medien zu verschaffen, damit sie ihre Berichte  veröffentlichen können. „Es gibt sehr viele unterschiedliche Oppositionsgruppen, ein großes Potenzial. Das wird hier aber zu wenig wahrgenommen und eingebunden“, meint er.

Scham wegen russischem Pass

Dringlich und kräftezehrend sei aber vor allem die Betreuung der Flüchtlinge vor Ort. „Das sind schlimme Schicksale, manchmal weint unser ganzes Team“, sagt Elizaveta Khan und spricht auch von einem Gefühl der Verantwortung, das sie als Frau mit russischem Pass habe: „Oft schäme ich mich einfach.“

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