Die Stadt der ZukunftModell-Projekt in Köln soll die Gesellschaft von morgen zeigen

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Aus dem stillgelegten „Mirker Bahnhof“ in Wuppertal ist die „Utopiastadt“ geworden, ein Anlaufpunkt für gute Ideen und Experimente zur Frage, wie die Stadt in ein paar Jahren aussehen könnte.

Aus dem stillgelegten „Mirker Bahnhof“ in Wuppertal ist die „Utopiastadt“ geworden, ein Anlaufpunkt für gute Ideen und Experimente zur Frage, wie die Stadt in ein paar Jahren aussehen könnte.

  • In Wuppertal ist aus einem stillgelegten Bahnhof eine „Utopiastadt“ geworden, die zeigen soll, wie Städte der Zukunft aussehen können.
  • Diese sogenannten Reallabore experimentieren häufig mit Kunst, Co-Working-Space und Stadtentwicklung, liefern aber handfeste Erkenntnisse für Städteplaner.
  • Nun entsteht in Köln-Mülheim die „Zukunfts-Werk-Stadt“ auf dem ehemaligen KHD-Gelände. Mit 60.000 Quadratmetern ist es wohl das größte Reallabor Europas.

Köln – Die Zukunft beginnt im Norden Wuppertals. Aus dem stillgelegten „Mirker Bahnhof“ ist die „Utopiastadt“ geworden, ein Anlaufpunkt für gute Ideen und Experimente zur Frage, wie die Stadt in ein paar Jahren aussehen könnte. Kleine Firmen, Ateliers, Menschen, die im Co-Working-Space arbeiten, und Initiativen haben sich zu einem pulsierenden Netzwerk verbunden. Man kommt zusammen, um in einem ehemaligen Wartesaal Kunst und Konzerte zu erleben. Werkzeuge, Fahrräder und Arbeitsplätze werden geteilt. Gemeinsam profitiert man vom Potenzial Einzelner, um Gebäude zu sanieren und Brachflächen zu entwickeln.

Hinter dem Tresen im „Café Hutmacher“ in der ehemaligen Bahnhofsschalterhalle, an dem Bio-Bier aus der Region ausgeschenkt wird, ist zu lesen: „Utopia ist eine Entscheidung“. Bei Debatten um wichtige Zukunftsfragen geht es um Mobilität, Ernährung oder digitale Technik. Die offene Gemeinschaft im Bahnhof veranstalte einen „andauernden Gesellschaftskongress“, wie es die Macher nennen. Aus kleinen Aktionen und „spinnerten Ideen“ könnten Modellprojekte mit Breitenwirkung werden, sagt der Geschäftsführer der gemeinnützigen GmbH „Utopiastadt“, Christian Hampe.

Eine Werkstatt, um Utopia auszuprobieren

„Utopia“ – das ist der Traum von der besten Gesellschaftsordnung, in der alle friedlich und glücklich zusammenleben, aufgeschrieben in vielen literarischen und politischen Texten seit dem namensgebenden Werk von Thomas Morus aus dem Jahr 1516. Dass der Traum nun in einem Wuppertaler Bahnhof Wirklichkeit geworden ist, würde auch Hampe nicht behaupten. „Das ist nicht Utopia, aber doch eine Werkstatt, um Dinge auszuprobieren, mit denen man Utopia näher kommt.“

Hampe ist von Anfang an dabei. Zusammen mit Beate Blaschczok gründete er 2011 die „Utopiastadt“. Aus der Idee, einen alten Bahnhof neu zu beleben, wurde ein sogenanntes Reallabor. Als bundesweit gefragter Experte für nachhaltige Stadtentwicklung wirbt Hampe dafür, „Stadt anders zu denken“. So wie bislang könne man nicht weitermachen. Man müsse bestimmte Dogmen aufbrechen.

Zum Beispiel dieses: Die Förderung von Wirtschaft und Arbeitsplätzen ist die Bedingung für ein gutes Leben. „Das Ziel, die Lebensqualität von Menschen zu verbessern, kann auch auf direkterem Weg erreicht werden.“ Das, was im Bahnhof geschieht, sei „ein Baustein von vielen, die dazu beitragen, dass wir die drohende Insolvenz dieser Erde ein Stück weit in den Griff kriegen“. Spätestens in diesem Jahr ist aus dem, was ein bisschen abgehoben und sehr idealistisch klingt, ein ganz konkreter kommunalpolitischer Plan geworden.

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Nicht nur der Bahnhof, sondern ganz Wuppertal soll zum internationalen Vorreiter für die Stadt der Zukunft werden. Das zumindest fordert ein Wissenschaftler und Forscher, der nun auch Oberbürgermeister werden möchte. Der gebürtige Kölner Uwe Schneidewind, Professor für „Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit“ an der Bergischen Universität Wuppertal, wirbt für ganz neue Herangehensweisen beim Thema Stadtentwicklung.

Die Stadt sei der „Schmelztiegel der Großen Transformation“ ist in seinem dicken Buch über die „Kunst des gesellschaftlichen Wandels“ zu lesen. Energiewende, Ressourcenwende, Konsumwende, Ernährungswende, industrielle und urbane Wende – es gibt viel zu tun, so Schneidewind. Die Städte müssten vorangehen, weil hier alles auf dichtem Raum zusammenkommt. Und das bergische Städtchen Wuppertal, das vor ein paar Jahren noch als heruntergekommenes Opfer der Deindustrialisierung galt, soll hier als Vorbild für europäische Städte vorangehen.

Die Zukunftsstadt soll ökonomisch nachhaltiger und sozial gerechter sein

Schneidewind spricht von der „Transformationsstadt“, die dem Ziel einer ökonomisch nachhaltigeren sowie sozial gerechteren Form des Zusammenlebens näherkommen will. Auch der Weg dahin, den der Wissenschaftler empfiehlt, klingt spannend und für politische Prozesse ungewohnt: „Man kann nicht immer warten, bis alles fertig ist. Einfach mal machen, korrigieren, weitermachen – so geht Entwicklung!“, ist auf der Wahlkampf-Seite des 54-Jährigen im Internet zu lesen.

Als langjähriger Chef des „Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie“ ist Schneidewind eng mit dem Projekt „Utopiastadt“ verbunden. Der Bahnhof sei „ein Experimentierraum für die ganze Stadt“, in dem mit den üblichen politischen und ökonomischen Sachzwängen gebrochen werde. Das könne eine „Blaupause“ für vieles sein. So könnten sich Leitideen für die Stadt der Zukunft ableiten lassen. Das ist gemeint, wenn Experten von einem Reallabor sprechen.

Dass mit Schneidewind nun ein Wissenschaftler Chef einer Stadtverwaltung werden will, könnte man als weiteres Reallabor-Experiment ansehen. Ob es ihm gelingt, bürgerschaftliches Engagement, Wissenschaft und Forschung sowie Stadt und Verwaltung mit einem gemeinsamen Ziel zu vernetzen, ist offen. Weil das Mitglied der Grünen auch von der CDU unterstützt wird, hat Schneidewind gute Chancen, zumindest schon mal die erste Hürde zu nehmen und bei der OB-Wahl gegen den Amtsinhaber von der SPD zu gewinnen.

Reallabore oft nur im Mikro-Kosmos, um nur eine Frage zu beantworten

Solche „Living Labs“ und urbanen Experimentierräume gibt es mittlerweile an vielen Orten der Welt. In Frankreich etwa wird zurzeit über neue Funktionen für ungeliebte Siedlungen aus den 1970er Jahren nachgedacht.

Die meisten Reallabore aber sind sehr viel kleiner und beschäftigen sich mit einzelnen, sehr konkreten Fragestellungen: Mal geht es um die Zukunft der Paketzustellung oder die papierlose Verwaltung, mal um ökologische Fragen oder digitale Projekte wie autonomes Bus- oder Autofahren. In Hamburg sammelt man Erfahrungen in einem generationsübergreifenden Wohnprojekt, und in Wiesbaden verhandelt man die Frage, wie man Bürger, die bislang wenig Einfluss haben, intensiver an stadtentwicklungspolitischen Prozessen beteiligen kann.

Da es keine einheitliche Definition des Begriffs „Reallabor“ gibt, ist recht viel möglich, was vom Bundesministerium für Wirtschaft und anderen Zuschussgebern unterstützt wird.

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Das Wirtschaftsministerium spricht von „Testräumen für Innovation und Regulierung“, in denen man ganz praktisch und unter realen Bedingungen Erfahrungen sammeln kann, die dann auch anderswo angewandt werden können. Verhandelt werden nicht nur der Einsatz neuer Technologien, ökologische Zielsetzungen oder neue Geschäftsmodelle. Im Ministerium will man auch herausbekommen, ob bestehende Regeln und gesetzliche Vorgaben geändert werden müssen, falls diese Innovationen behindern.

Das Projekt in Wuppertal ist im Vergleich zu anderen vorbildlich, weil es sich nicht auf einen einzelnen Aspekt konzentriert, sondern viele verschiedene miteinander verknüpft. Doch ein ganz zentraler, stadtentwicklungspolitischer Zukunftsaspekt fehlt noch unterm Dach des Bahnhofs an der Wuppertaler Nordbahntrasse: Man kann hier nicht wohnen.

Die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum unter Beachtung von ökologischen Kriterien gehört zu den größten Herausforderungen einer Stadt. Diese Zukunftsfrage in einem Reallabor zu verhandeln hat sich ein breites Bündnis von Akteuren aus Kultur, Politik und Wissenschaft in Köln gesetzt. Seit Jahren kämpfen sie für die Rettung eines Teils des ehemaligen Geländes der Motorenfabrik von Klöckner-Humboldt-Deutz im Stadtteil Mülheim. Auch Uwe Schneidewind gehört zu den Unterstützern. Köln solle von Wuppertal lernen, fordert der Fortgezogene. Seine Heimatstadt habe eine große Chance, etwas Besonderes auf die Beine zu stellen.

Kunst verbindet sich mit Stadtentwicklungspolitik

Die Vorarbeiten haben Künstler geleistet. Anja Kolacek, Marc Leßle und ihr Team von der Initiative „Raum 13“ haben in den vergangenen Jahren aus der ehemaligen, riesigen KHD-Hauptverwaltung das „Zentralwerk der schönen Künste“ gemacht und dort hinter der prächtigen, denkmalgeschützten Backsteinfassade bei vielen Aktionen und in Diskussionsrunden mit Experten an Zukunftskonzepten für das Areal gearbeitet. Aus Kunstaktionen im „Land Utopia“, wie sie ihre ersten Programme nannten, wurde die „Zukunfts-Werk-Stadt“. Kunst verband sich mit Stadtentwicklungspolitik.

Das Areal, das hier zum größten Reallabor der Republik und vielleicht sogar Europas werden könnte, ist sechs Hektar groß. Auf 60.000 geschichtsträchtigen Quadratmetern mit erhaltenswerten Industriedenkmälern könnten tatsächlich alle Bereiche des städtischen Lebens miteinander verknüpft werden. Der Kölner Architekt Paul Böhm spricht von einer „Mustersiedlung für die Stadt des 21. Jahrhunderts“.

Noch gibt es große Hürden, die auf dem Weg dahin zu nehmen sind: Das Land, dem ein Teil des Geländes gehört, ist bislang genau wie der private Eigentümer der ehemaligen KHD-Hauptverwaltung wenig begeistert. Und der Stadtverwaltung scheint es noch an einer erfolgversprechenden Strategie zu fehlen, mit der sich das ändern ließe. „Es muss gelingen die Flächen dem Spekulationsmarkt zu entziehen“, sagt der Wuppertaler Vordenker Hampe. „Die Verwertung von Flächen darf nicht mehr wirtschaftlich motiviert sein, sonst schafft man keine Rahmenbedingungen für neue Entwicklungsmöglichkeiten.“

Fehler der Vergangenheit sollen sich nicht wiederholen

Immerhin: Klare Beschlüsse des Kölner Stadtrates gibt es schon. Trotz Wahlkampfzeit herrscht über das Ziel Einigkeit. Das große Gelände an der Deutz-Mülheimer Straße soll nicht wie die umliegenden Areale von privaten Investoren mit hohen Rendite-Aussichten entwickelt werden. Die Stadt will das Gelände zum „Wohl der Allgemeinheit“ übernehmen, ihr Vorkaufsrecht nutzen und eine „gemeinwohlorientierte Entwicklung“ ermöglichen. Der Vorgang ist in der bisherigen Stadtentwicklungspolitik Kölns recht einmalig. Fehler der Vergangenheit sollen sich hier nicht wiederholen. Mehr noch: Verwaltung und Politik greifen eine zivilgesellschaftliche Initiative auf, die seit Monaten von Akteuren aus allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen vorangetrieben wird.

Aus der Zeit vor dieser Initiative stammt die Vorgabe eines ersten Planverfahrens für das Gelände, nach der hier 35 000 Quadratmeter an neuem Wohnraum entstehen sollen. Dieses Ziel soll nicht aufgegeben werden. Hunderte Menschen sollen im Reallabor wohnen können. Allerdings sollen diese Wohnungen nicht in Neubauten und erst recht nicht in einem damals angedachten Hochhaus entstehen, so die Idee der Initiative. In den alten Plänen war man davon ausgegangen, dass die ehemaligen Fabrikhallen fast ausnahmslos abgerissen werden müssen, um 400 bis 500 Wohnungen, Gewerbeflächen und die nötige Infrastruktur bauen zu können. Nun soll der alte Baubestand weitestgehend erhalten bleiben. Die Hallen sollen mit innovativen Konzepten neu genutzt werden können, ein Teil der Wohnungen könnte im alten Verwaltungsgebäude entstehen, das bislang dafür nicht eingeplant war.

„Mit dem Erhalt der Industriearchitektur wird nicht nur ein Beitrag zum nachhaltigen Bauen geleistet. Es gelingt so auch, einen weltweit bedeutsamen Ort der Industriegeschichte im Bewusstsein zu halten“, sagt Leßle. Die Künstler haben mit vielen Experten recht konkrete Vorstellungen entwickelt. Aufgrund der Größe des Projekts wäre es denkbar, dass unter einem alles verbindenden Dach viele kleine Projekte von verschiedenen Trägern verantwortet werden. Das Areal könnte parzelliert werden, einzelne Hallen und Flächen nach Konzepten vergeben werden. „Viele stehen in den Startlöchern“, sagt Leßle. Unklar ist, wie viele Spielregeln und Ziele vorgegeben werden müssen. In einem Workshop soll die Frage der Organisationsformen geklärt werden.

Stadt müsste in ungewohnter Rolle Kontrolle abgeben

Auch für die Stadt würde das Projekt zu einem Lernfeld, weil sie sich in eine ungewohnte Rolle begeben, Kontrolle abgeben und von erprobten Planungsprozessen Abschied nehmen müsste, sagt Schneidewind. „Dafür wird man mit sehr guten Ergebnissen belohnt.“ Der Wuppertaler Oberbürgermeister Andreas Mucke (SPD), der nun von Zukunftsforscher Schneidewind herausgefordert wird, zieht aus den Erfahrungen in seiner Stadt den Schluss, dass man mit klassischer Verwaltungsmentalität und üblichem Zuständigkeitsdenken nicht weiterkommt. Man müsse lernen, „auch mal schräge Gedanken zuzulassen“. Politik und Verwaltung müssten geduldig, zurückhaltend und experimentierfreudig sein, sagt auch Architekt Böhm. Gleichzeitig komme ihnen aber auch die Aufgabe zu, anzuschieben und dafür zu sorgen, „dass das Projekt nicht einschläft“.

Bleibt die ebenfalls spannende Frage, wer das Ganze denn bezahlen soll. Zunächst einmal ist die Stadt am Zug, um mit Steuergeld das Areal zu erwerben. Möglicherweise muss sie sich dann auch noch einmal finanziell beteiligen, wenn es darum geht, die in die Jahre gekommenen Industrie-Hallen so herzurichten, dass sie den Anforderungen des Brandschutzes standhalten und anschließend neu genutzt werden können. Danach sollte das „Reallabor“ aber ohne Zuschüsse auskommen – vorausgesetzt, die Flächen werden in Erbpacht vergeben. „Geld ist nicht das Problem“, sagt Manuel Ehlers von der Triodos Bank aus Berlin, der die Kölner Idee unterstützt.

Die Bank finanziert nachhaltige, gemeinwohlorientierte und künstlerisch-soziale Immobilienprojekte mit bis zu 25 Millionen Euro. Es gebe genug Investoren, die nicht auf Kosten der Allgemeinheit spekulieren wollen, sondern Interesse an nachhaltigen Projekten haben und sich mit kleinen Renditen zufriedengeben. Geldgeber könnten auch Stiftungen und der Stadt verbundene Investoren sein, die ein solches „Referenzobjekt als Visitenkarte“ nutzen können, so Schneidewind.

Das Kölner Reallabor müsse kein Zuschussprojekt sein, sagt auch Architekt Böhm. „Aber es gibt keine schnellen Renditen.“

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