Rainer Broicher war Arzt und Künstler. Nach einem schweren Unfall machte er mit mundgemalten Bildern auf sich aufmerksam.
NachrufRainer Broicher war Arzt, Karnevalist und Mundmaler

Rainer Broicher entdeckte nach seinem Unfall die Mundmalerei für sich.
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Ein gelber Helikopter schwebt im wässrig-hellblauen Himmel über dem Flachdach eines hellen Klinikgebäudes, vor dem sich eine unebene Rasenfläche ausbreitet. Links steht ein grauer Turm mit einer Kanzel, an deren Spitze ein rot-weißer Windsack zur Seite weht. Das mit noch groben Pinselstrichen gemalte Bild zeigt den ADAC-Rettungshubschrauber der Bergwacht Murnau und findet sich ganz vorne im neuen Köln-Kalender mit Werken von Rainer Broicher, der im vorigen Dezember verstorben ist.
2015 erschien zum ersten Mal ein Kalender des Kölner Arztes, Karnevalisten und Mundmalers, der seit einem Unfall vom Hals an abwärts gelähmt war. In Erinnerung an den Künstler hat die Familie nun als Jubiläums-Ausgabe den 10. „Köln Kalender“ herausgebracht. Er versammelt nicht nur die Titelbilder aus den vorangegangenen Jahren, sondern auch unveröffentlichte Motive.

In Erinnerung an den Künstler Rainer Broicher hat seine Familie nun als Jubiläums-Ausgabe den 10. „Köln Kalender“ herausgebracht.
Copyright: Broicher
Das für den Januar ausgewählte Bild fällt aus dem Rahmen, weil es als einziges kein Kölner Motiv ist. Den Helikopter malte Broicher 2014 im Zentrum für Querschnittverletzte im oberbayerischen Murnau. Im September 2013 war er in Köln mit einem solchen ADAC-Rettungshubschrauber nach seinem folgenschweren Unfall in die Uniklinik gebracht worden. Das Bild gelang ihm so gut, dass ihn Ärzte und Therapeuten ermutigten, mit der Mundmalerei fortzufahren. Damit fand er eine erfüllende Beschäftigung, die einen großen Teil seines weiteren Lebens bestimmte. Eines Lebens, das am 28. September 2013 eine abrupte Wendung genommen hatte.

Der Kölner Karneval war für Rainer Broicher wichtiger Bestandteil seines Lebens.
Copyright: Broicher
Geboren wurde Rainer Broicher am 1. März 1965, einem Rosenmontag. Sein Vater, ein Arzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Sport- und Zahnmedizin, hatte seine HNO-Praxis in Mülheim. Auch er war im Karneval aktiv. In der Session 1964 verkörperte er die Jungfrau des Kölner Dreigestirns. Rainer Broicher, der jüngste von drei Brüdern, wuchs in Weiden auf. 1977 war er Kinderprinz des Lövenicher Dreigestirns.
Nach dem Abitur am Apostelgymnasium in Lindenthal arbeitete er als Zoopfleger und machte eine Ausbildung zum Tierarzthelfer, studierte dann Tiermedizin und später Humanmedizin, jeweils bis zur Promotion. Anfang 2002 übernahm er die Praxis seines Vaters. „Er war Arzt aus Leidenschaft und hat seinen Beruf geliebt“, sagt seine Frau Claudia. Der Umgang mit Kindern habe ihm besonders gelegen. Um ihnen die Angst zu nehmen und von der oft schmerzhaften Behandlung abzulenken, trug er gerne Krawatten mit Motiven wie etwa Elefanten und Delfinen.
Rainer Broicher lernte seine Frau im Kölner Karneval kennen
Seine Frau hatte er 1995 im Karneval kennengelernt, beim „Mummenschanz“ der Ehrengarde der Stadt Köln, deren Kadettenkorps er damals angehörte. 1999 heiratete das Paar; ein Jahr darauf kam die erste Tochter zur Welt. Neben der Arbeit in der Praxis operierte Broicher in verschiedenen Krankenhäusern, unterhielt eine Belegarzt-Abteilung im St. Remigius-Krankenhaus in Leverkusen-Opladen und betreute Senioren-Pflegeheime. In der Ehrengarde, in der er Generalfeldpostmeister war, setzte er sich vor allem für die Kinder- und Jugendtanzgruppe ein, die er zehn Jahre lang leitete.

Rainer Broicher mit seiner Familie auf einem Karnevalswagen.
Copyright: Broicher
Es kam der Tag, an dem er aus seinem ausgefüllten Leben herausgerissen wurde. Bei Gartenarbeiten stürzte er von einem Baum und konnte seitdem nur noch seinen Kopf bewegen. „Von dem Tag an hat er an der Hoffnung festgehalten, dass er wieder laufen kann“, sagt seine Frau. „Er hat an sich gearbeitet, viele Therapien gemacht und nie aufgegeben.“ Willensstärke und Geduld hätten ihn ausgezeichnet. „Er war ein Kämpfer, für viele ein Vorbild und Ratgeber.“ Jens Stracke, ein guter Freund seit frühen Tagen, spricht von seinem „absoluten Respekt“ davor, was Broicher sich abverlangte und wie er sein Schicksal bewältigte. „90 Prozent der Leute wären daran zerbrochen.“
Rainer Broicher kam im Krankenhaus zur Mundmalerei
Von der Uniklinik kam Broicher in eine Reha-Einrichtung in Bonn. Weil sich dort keine Fortschritte einstellten, wurde er ins Zentrum für Rückenmarkverletzte der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Murnau verlegt; das Zentrum gilt als führendes seiner Art in Deutschland. Als ergotherapeutische Freizeitbeschäftigungen wurden den Patienten Korbflechten und Mundmalerei angeboten. Broicher, der früher gerne gebastelt und ein gutes Auge für gestalterische Details hatte, entschied sich fürs Malen. Und blieb dabei. „In meinem zweiten Leben bin ich Künstler“, sagte er häufig.
Nach dem Aufenthalt in Murnau kam er für einige Wochen in ein Altenheim, weil der behindertengerechte Umbau im eigenen Zuhause noch nicht abgeschlossen war. „In dieser Zeit bin ich fast eingegangen und habe mich komplett auf die Kunst als letzten Zufluchtsort konzentriert“, sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ im November 2022, als in der Volksbühne am Rudolfplatz die letzte Ausstellung mit seinen Werken eröffnet wurde.

Rainer Broicher mit einem von ihm erstellten Kalender, welcher impressionistische Malereien von Kölner Plätzen zeigt.
Copyright: Thomas Dahl
Diese Werke schuf er mit der „Einpinseltechnik“, das heißt in einem Durchgang, ohne den Pinsel zu wechseln. Im elektrischen Rollstuhl sitzend, führte er den Pinsel, der an einem langen Mundstab steckte, über ein Blatt Papier, das auf dem Zeichenbrett einer Tischstaffelei befestigt war. Auf einem Tischchen links daneben stand eine Palette mit Acrylfarben, dahinter ein Laptop, auf dessen Bildschirm sich der Maler inspirierende Motive holte.
„Ich muss mir vorher nicht nur die Struktur des Bildes genau überlegen, sondern auch, welche Bereiche als erste die hellste Farbe bekommen, bevor ich die dunkleren Tupfer setze“, sagte er. Seine Darstellungsart war realistisch-naiv. Bekam er zu hören, seine Bilder seien wie von Kinderhand gemalt, empfand er dies als Kompliment. „Wenn ich Köln mit Kinderaugen wiedergeben kann, habe ich alles richtig gemacht. Denn Köln ist meine Vaterstadt und Heimat, und die besondere Beziehung, die Kölner zu ihrer Stadt haben, ist wie die von Kindern zu ihren Eltern.“ Freilich blendete er die unvorteilhaften Aspekte nicht aus. So manches in der Stadt liege „im Argen“, fand er.

Rainer Broicher hielt auf diesem mundgemalten Bild das Flair der Kölner Altstadtgassen fest.
Copyright: Thomas Dahl
Gleichviel, Köln-Motive rangierten an erster Stelle: der Dom, Straßenszenen, Plätze, das Altstadtpanorama. Auf seiner Homepage www.mundmalkunst.de werden bis heute nicht nur seine Kalender, Köln-Taschen und Weihnachts- und Postkarten vertrieben, sondern ebenso Kunstdrucke und auf Nachfrage auch Originale. Teile der Einnahmen spendete Broicher oftmals für einen guten Zweck.
Malerei, Glaube und Familie gaben Halt
Außer der Malerei gab ihm der christliche Glaube starken Halt. Und die Familie. Seine Frau und die Töchter Leonie, Annabelle und Caroline seien „sehr stark, lieb und umsorgen mich sehr“, sagte er ein Jahr nach seinem Unfall. Er, der Macher, der anderen gerne geholfen hatte, musste nun lernen, selber Hilfe zu erbitten und anzunehmen – keine leichte Aufgabe. „Er war immer für einen da“, sagt Jens Stracke, sein guter Freund. Der hebt außerdem hervor, Broicher sei sehr „meinungsstark“ gewesen und habe in Diskussionen – etwa über Politik oder die Spieler-Aufstellung des 1. FC Köln, den er liebte – Leute „zur Weißglut bringen“ können. „Allerdings war er nicht böse, wenn jemand eine andere Meinung hatte, und nie nachtragend.“
Dank einer Sprachsteuerung war Broicher imstande, Lichtschalter, Telefon, Fernseher und Rollladen alleine zu bedienen; den PC und das Smartphone handhabte er, indem er den Touchscreen mit dem Mundstab berührte. Regelmäßig kamen Therapeuten und Pfleger. „Er war super diszipliniert, die Therapie war ihm heilig“, sagt Claudia Broicher. „MundArt – doch ich stehe wieder auf“, lautete sein Motto, das sich auf der Todesanzeige wiederfindet. Fest glaubte er daran, verloren gegangene Fähigkeiten reaktivieren zu können, etwa mit mentalen Übungen: Konzentriert stellte er sich vor, er würde laufen. Als die Hoffnung schwand, setzte Broicher auf neuartige Medizintrends und den Fortschritt der Technik.
Zum ohnehin mühsamen Alltag kamen immer wieder Erkrankungen: Wegen seiner Lähmung als Tetraplegiker war Broicher anfällig für Lungenentzündungen. Fast jedes Jahr verbrachte er einige Monate im Krankenhaus, wo er für die Beatmung zeitweise ins künstliche Koma versetzt werden musste und auf der Intensivstation mehrmals um sein Leben kämpfte. Sein Kampfgeist, sein Optimismus und seine Geduld seien unerschöpflich gewesen, sagt Claudia Broicher. Bis zum Ende habe er den Lebensmut bewahrt und den Humor nie verloren. „Er hatte noch so viel vor.“
Der „Köln Kalender 2024“ kostet 25 Euro (zuzüglich Versandgebühr) und kann im Internet bestellt werden unter www.mundmalkunst.de.