Auto fahren, Pumps tragen, arbeitenWie eine Kölnerin mit Glasknochen ihre eigenen Lebensregeln machte

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Annette Kellinghaus-Klingberg - hier beim Boulespielen - starb im Alter von 55 Jahren in Köln.

Annette Kellinghaus-Klingberg – hier beim Boulespielen – starb im Alter von 55 Jahren in Köln.

Annette Kellinghaus-Klingberg kam mit Glasknochen zur Welt und wollte doch alles vom Leben – oder genau deshalb. Jetzt ist sie mit 55 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

Dass sie nicht laufen kann, aber knallrote Pumps trägt, ist für Annette Kellinghaus-Klingberg kein Widerspruch. Sie fährt ja auch mit dem Auto in Urlaub – Tausende Kilometer nach Frankreich, Portugal oder Spanien. Sie arbeitet als Sozialpädagogin an der Gesamtschule Holweide, macht eine Ausbildung zur Gestalt-Therapeutin, engagiert sich als Sachkundige Bürgerin in der Kölner Politik, sie spielt Theater, versucht sich im Rollstuhltanz, geht ins Schwimmbad und in die Sauna. „Es gab für Annette nichts, was nicht möglich war“, sagt ihr Mann Thomas Klingberg. „Alles musste möglich sein. Immer.“ Er lacht.

Annette Kellinghaus-Klingberg kommt mit Osteogenesis-imperfecta zu Welt, bekannt als Glasknochenkrankheit. Weit mehr als 100 Knochenbrüche habe sie in ihrem Leben gehabt, erzählte sie vergangenen Dezember, als es für eine Geschichte im „Kölner Stadt-Anzeiger“ um persönliche Engel ging. Irgendwann habe sie aufgehört, die Knochenbrüche zu zählen. Während dieses Gesprächs im Dezember lag sie im Gipsbett. Nach Wut über Streitigkeiten sei sie im Bad mit dem Rollstuhl weggerutscht, auf die Steinfliesen gefallen und habe sich „zum ich weiß nicht wie vielen Male“ den Oberschenkel gebrochen.

Annette Kellinghaus-Klingberg und ihr Mann Thomas Klingberg bei ihrer Hochzeit, sie in weiß, er in schwarzem Anzug

Hochzeit mit altem Schulfreund: Thomas Klingberg war Freund, Pfleger und wie sie Kämpfer für Inklusion

Da es in dem Bericht um einen einzigen „Engel“ gehen sollte, sie aber darauf beharrte, mit ihrer Pflegerin, ihrer Haushaltshilfe, ihrem Mann und ihrem Kater mindestens vier Wesen ihres Lebens zu würdigen, sagte sie für die Geschichte ab. „Entweder, es wurde so gemacht, wie sie wollte, oder gar nicht“, sagt ihr Mann. „Das war Annette.“  Zu einem verabredeten Porträt über sie und ihren Mann sollte es nicht mehr kommen.

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Annette Kellinghaus-Klingberg beharrt stets darauf, nicht als behindert betrachtet zu werden – obwohl sie auf einen Rollstuhl, ein Beatmungsgerät, ein Hörgerät, viele Tabletten, eine Haushaltshilfe, eine Krankenschwester und eine Arbeitsassistentin angewiesen ist. Behindert, sagt sie gern, sei eine Gesellschaft, die Menschen mit Behinderung nicht als gleichberechtigt akzeptiere und Gleichberechtigung nicht ermögliche. „Das war ihr Credo, davon ist sie nicht abgewichen“, sagt ihr Mann.

Mit behindertengerechtem Auto fährt sie Tausende Kilometer in den Süden

In ihr Auto lässt sie eine Rampe einbauen, auf die sie eigenständig rollen kann, der Sitz lässt sich um die eigene Achse drehen, Gas gibt sie mit der Hand. Wenn sie mit ihrem Mann in den Urlaub fährt, sitzt immer sie am Steuer – Thomas Klingberg hat wegen einer spastischen Lähmung und Gleichgewichtsstörung keinen Führerschein.

Annette kommt mit gebrochenen Knochen zur Welt. Als Kind traut sich niemand, sie anzufassen – manchmal muss sie sich nur falsch drehen, um sich wieder etwas zu brechen. Als sie in die Schule kommt, bricht man ihr in einer Klinik mehrere Beinknochen, um die verbogenen Extremitäten zu begradigen – in der Hoffnung, sie könne dann eigenständig laufen. Es klappt nur leidlich.

Krankenhäuser hat sie gehasst und gefürchtet – weil sie so viel Zeit in ihnen verbringen musste
Petra und Heinrich Wulf, Tante und Onkel

In der Folge sei sie traumatisiert gewesen, erinnern sich Petra und Heinrich Wulf, Onkel und Tante, gleichzeitig enge Freunde und Betreuer von ihr, beim Kaffeetrinken mit Thomas Klingberg. „Krankenhäuser hat sie gehasst und gefürchtet – weil sie so viel Zeit in ihnen verbringen musste.“

Lange will Annette als Kind keinen Rollstuhl akzeptieren. Das störrische Mädchen lässt sich in die Schule tragen, auf einen Stuhl setzen, in einer Pause von Eltern oder anderen Verwandten auf die Toilette bringen, wieder in die Klasse tragen, nach der letzten Stunde abholen. An der Realschule in Dorsten ist sie die erste Schülerin mit einer schweren körperlichen Behinderung – sie beharrt darauf, in eine normale Schule zu gehen.

Annette Kellinghaus-Klingberg im Rollstuhl auf dem Steg eines Sees.

Dass sie mit ihrem ebenfalls körperlich eingeschränkten Mann Thomas durch Europa reiste, war für Annette Kellinghaus-Klingberg völlig normal.

Ihr Großvater gibt Annette den Spitznamen „Konfliktenprofessor“– „weil sie schon als Kind Konflikte in der Großfamilie erkannte und sich stets berufen fühlte, diese ‚psychologisch‘ anzugehen und im Gespräch Lösungen zu finden“, sagt Petra Wulf. Meinungsstark und nicht eben konfliktscheu sei das Mädchen gewesen.

Als Jugendliche fühlt sie sich seinerzeit noch progressiven Ideen wie der Gleichberechtigung oder der Umweltbewegung nahe – und diskutiert mit ihrem konservativen Vater am Tisch, bis das Essen kalt ist.

Er hat eine spastische Lähmung, sie die Glasknochenkrankheit

Nach der Realschule macht sie in Köln ihr Fachabitur, wohnt bei einer Tante – und lässt sich von deren Mann jeden Tag hoch in den vierten Stock und wieder runter ins Erdgeschoss tragen.

Sie studiert Sozialpädagogik an der katholischen Fachhochschule, hat anfangs einen Zivildienstleistenden als Helfer, später übernimmt das Thomas Klingberg, mit dem sie auf die gleiche Schule für Körperbehinderte in Gelsenkirchen gegangen ist. Beim Treffen zehn Jahre nach dem Abschluss ist er nicht da, sie lässt sich von einem Freund von ihm seine Telefonnummer geben und besucht ihn in Köln. Eigentlich wollen sie nur Kaffee trinken und den Dom anschauen, doch in der Folge kommt sie öfter. Sie werden ein Paar, ziehen zusammen, heiraten.

Annette Kellinghaus-Klingberg mit Headset am Computer

Annette Kellinghaus-Klingberg arbeitete Vollzeit – in der Corona-Zeit im Homeoffice, sonst als Sozialpädagogin an der Gesamtschule Holweide.

Thomas Klingberg hat eine beidseitige Spastik und Gleichgewichtsstörungen, manchmal ist ihm schwindelig. Er bekam bei der Geburt eine Zeitlang keinen Sauerstoff. So eingeschränkt wie sie ist er nicht, im Gegensatz zu ihr akzeptiert er aber seine Behinderung als Behinderung und geht entspannt damit um. Die beiden sind perfekte Antagonisten.

Sie fährt Auto, er tankt und saugt das Auto, sie kocht, er spült, sie redet, er hört zu, sie macht, er grübelt, sie legt sich in die Sonne, er in den Schatten, sie übernimmt Finanzen und Verwaltung, er Handwerksarbeiten. Sie trägt gern schreiende Farben, geht ins Freibad und in die Sauna, trägt Leggings trotz deformierter Beine – er trägt gedeckte Farben und bleibt lieber unauffällig, bestärkt sie aber in ihrem Sturm und Drang nach gleichberechtigtem Leben. „Ich habe ihr immer gesagt: Du hast schöne Beine! Natürlich sollst Du sie nicht verstecken“, sagt Thomas Klingberg.

Ihre Behinderung soll nicht der Rede wert sein – trotzdem oder gerade weil sich ihr Leben darum dreht

Ihre schwere Behinderung soll nicht der Rede wert sein – trotzdem oder gerade weil sich ihr Leben darum dreht. In der Gesamtschule kümmert sich Annette Kellinghaus-Klingberg um die Belange von 90 Schülerinnen und Schülern mit Behinderung. Als Sachkundige Bürgerin setzt sie sich in der Kommunalpolitik für Barrierefreiheit ein – wie oft fühlt sie sich ausgeschlossen, weil Gebäude oder Bahnhofsgleise nicht über Aufzüge erreichbar sind!

Sie schreibt Aufsätze über Inklusion und berufliche Möglichkeiten für junge Menschen mit Behinderung, für ihre Diplomarbeit interviewt sie Verwandte dazu, wie es für sie ist, mit einem behinderten Menschen wie ihr zu leben. Sie engagiert sich im Vorstand der Gesellschaft für Osteogenesis-Imperfecta-Betroffene, fährt zu Seminaren und Tagungen zum Thema Inklusion.

„Sie musste immer unterwegs sein, arbeiten, reisen oder sich fortbilden“, sagt Thomas Klingberg. „Stillstand war für sie so gar nichts.“ Die Arbeit für gleiche Rechte, Teilhabe und Inklusion habe seine Frau mit den Jahren immer mehr frustriert. „Am Ende sagte sie immer wieder: Die Gesellschaft will das einfach nicht.“

Mit der Corona-Pandemie kommt im Frühjahr 2020 der Stillstand. Die soziale Isolation setzt ihr zu, dazu kommt die Angst vor einer Infektion, die für sie lebensgefährlich wäre. Schon zwei Jahre vor dem ersten Lockdown hat Annette Kellinghaus-Klingberg sich zum ersten Mal seit Jahrzehnten den Oberschenkel gebrochen. Auf den Bruch im Winter 2022 folgt ein weiterer im Frühjahr, von dem sie sich nicht erholt.

Thomas Klingberg sagt: „Die Isolation durch Corona, der Frust über die vergeblichen Bemühungen um Inklusion, dazu die Knochenbrüche, die plötzlich wieder ständig auftraten, ständige Knochenschmerzen, all das zusammen war sogar für eine Powerfrau wie sie zu viel.“

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