NachrufKölner Stephan Thonett liebte das Radfahren und die Umwelt

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Stephan Thonett auf dem Lastenrad Brox mit zum Hochzeitswagen umgestaltetem Anhänger

Köln – Im Sommer 1993 beschloss Stephan Thonett, sein Leben zu ändern. Im September zuvor hatte er die Diagnose Krebs bekommen. Zwar war er nun geheilt, doch ihm war klar, dass er nicht so weiterleben wollte wie bisher. Seine Arbeit als Tontechniker und Computergrafiker beim KAOS-Film- und Video-Team empfand er als interessant. Sie war gut bezahlt und brachte ihn weit herum.

Doch er hatte begonnen, sich an der immer schnelleren technischen Entwicklung der Videoproduktion und Computergrafik zu stören. Und er fand es zunehmend fragwürdig, Flugreisen und Autofahrten zu weit entfernten Drehorten zu machen, auch wenn er mit den Fernsehbeiträgen einverstanden war. „So war ich trotz guter Inhalte nicht mehr bereit, hierfür mit großer Selbstverständlichkeit so viel Energie und Rohstoffe zu verbrauchen und Unmengen Dreck zu machen“, schrieb er im Rückblick.

Berufswechsel aus Liebe zur Natur 

Eines Tages war er mit seinem Motorrad im Bergischen Land unterwegs. Mit einem Mal kam es ihm unsinnig vor, zum puren Vergnügen durch die Gegend zu fahren. „Ich verbrenne Sprit, mache Lärm und vergifte die Umwelt“, ging ihm durch den Kopf. Er verkaufte das Motorrad, brachte sein altes Rennrad in einen guten Zustand und legte sich einen Fahrradanhänger zu.

Nachrufe

In unserer Serie Nachrufe erinnern wir an Kölner, die in jüngerer Vergangenheit verstorben sind. Wenn Sie vom Tod eines interessanten Kölners erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben können, melden Sie sich bitte bei uns unter 02 21/2 24-23 23 oder ksta-koeln@dumont.de. 

Die Anschaffung diente dazu, seinen Lebensunterhalt auf andere Weise zu verdienen. „Es war Mitte Dezember, und mit der Idee, den Leuten ihren Weihnachtseinkauf nach Hause zu fahren, fing die ganze Sache an“, sagte er Jahre später dem Magazin „Radl“. Thonett verlegte sich darauf, Transporte mit dem Fahrrad anzubieten als Alternative dazu, dass Autos mit geringen Ladungen durch die Stadt fuhren. Radkurierdienste gab es bereits, aber nur für Briefe und Päckchen, nicht für schwereres Gut. Mit seiner 1993 gegründeten Firma „Radlast“ wurde er zum ersten Fahrradkurier weit und breit, der große Lasten transportierte.

Ein Dutzend Räder und mehrere Anhänger

„Wir stellten uns in die Fußgängerzone mit einem Schild: Ich transportiere Waren mit dem Rad“, erzählt Lisa Rüther, die über 30 Jahre lang Thonetts Lebensgefährtin war und als Altenpflegerin arbeitet. Manch einer habe ihren Freund damals belächelt. Doch die Geschäftsidee kam an, es fanden sich immer mehr Kunden. In dem Haus in der Bismarckstraße, wo das Paar wohnte, hatte Thonett zwei Garagen gemietet, die sich allmählich mit Spezialfahrzeugen füllte. Zunächst schaffte er sich ein Filibus an, das dazu eignet ist, Gegenstände bis zu 40 Kilogramm zu befördern, zusammen mit einem Anhänger das Doppelte.

Für sperriges Gut bis zu 100 Kilo empfahl sich das Long John mit seinem tiefen Schwerpunkt. Um sich ein Schwerlastrad des Typs Brox zu besorgen, fuhr Thonett nach Manchester; daraus entstand eine lange Freundschaft mit Rob Brock, dem Erfinder dieses Rads. Es verkraftet eine Last von 150 Kilo, die sich mit einem Anhänger verdoppeln lässt. Nicht nur Schwerguttransporte übernahm Thonett, sondern auch Botenfahrten mit einem Faltrad und der Bahn. Nach einiger Zeit stand in seinen Garagen ein Fuhrpark mit über einem Dutzend Rädern und mehreren Anhängern.

Thonett stamm aus einer Künstlerfamilie 

Den Autoverkehr zu verringern und Dinge umweltverträglich zu transportieren – mir eigener Muskelkraft setzte Thonett dieses Ziel Jahr um Jahr um. „Ich mag es, hart zu arbeiten, da weiß man wenigstens, was man getan hat, und das ist mir wichtig“, sagte er. 1958 wurde er als ältestes von drei Geschwistern in eine Künstlerfamilie hineingeboren. Sein Vater Will, der früh starb, arbeitete als Maler und Holzbildner und gestaltete Glasfenster. Mutter Marianne Tralau hat Kunst studiert, war Videodesignerin beim KAOS Film- und Videoteam und leitete zwölf Jahre die Kölner KAOS-Galerie.

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Thonetts Bruder Markus ist ebenfalls Künstler, seine Schwester Cordula Puppenspielerin. Der Abstecher aufs Gymnasium sei ihrem älteren Bruder nicht bekommen, erzählt sie: „Er zog sich die Kapuze übers Gesicht und zeigte damit: Ich bin nicht da.“ Er kehrte zur Hauptschule zurück, machte dort seinen Abschluss und anschließend eine Lehre zum Elektriker.

Eine 300 Kilo schwere Ladung mit Harry-Potter-Romanen

Bis 2008 betrieb er die Radkurierfirma, die seiner Überzeugung entsprach, „dass sich jeder Mensch seiner ökologischen Verantwortung stellen sollte“, wie Lisa Rüther sagt. Allerdings war selbst „Radlast“ in seinen Augen ein „Kompromiss“, denn er transportierte auch Güter, „von denen ich eigentlich sagen würde, dass sie überhaupt nicht befördert beziehungsweise hergestellt werden sollten“. Beispielsweise fuhr er auch Motorteile und Reifen für eine Motorradwerkstatt. Alles Mögliche fand auf den Rädern und Anhängern Platz: Bierfässer, Getränkekästen, Pflanzen, Baumaterial, Leergut und Tiere.

Cordula Thonett erinnert sich, dass ihr Bruder einmal für eine Buchhandlung Harry-Potter-Romane mit einem Gewicht von 300 Kilo fuhr. Im Auftrag von Bündnis 90/Die Grünen beförderte er Wahlkampfmaterial und hängte Plakate auf. Sporadisch half sein Freund Walter Krenz aus. Thonett habe seinen Beruf als „Berufung“ empfunden, sagt er: „Er ist darin aufgegangen.“ 

Umweltbewusst - immer und überall 

Auch privat habe Stephan Thonett konsequent Rücksicht auf die Umwelt genommen, sei nicht Auto gefahren, habe auf Flugreisen verzichtet und unnötigen Konsum vermieden, sagt seine Lebensgefährtin. „Er hat das nicht als Verzicht empfunden, sondern als eine Befreiung, er hat es mit Lust uns Freude gelebt.“ Dazu gehörten Touren mit dem zum Tandem umfunktionierten Brox-Vierrad, gemeinsame Fahrten nach England und zum Spezialradfest „Spezi“ in Germersheim. 

In einer Kneipe nahe dem Rudolfplatz hatte sich das Paar kennen gelernt. Lisa Rüther zog in die Wohngemeinschaft in der Palmstraße ein, die Thonett, seine Mutter, deren zweiter Mann und weitere Bewohner bildeten. Zwölf Jahre wohnte das Paar in der Bismarckstraße. Bis das Leben in der Stadt beiden zu anstrengend wurde. Sie zogen nach Overath, drei Jahre darauf nach Lindlar in ein Haus mit Holzofen. In der ersten Zeit pendelte Thonett zwischen Land und Stadt, weil er „Radlast“ noch nicht aufgegeben hatte, obwohl die Arbeit ihm an die Substanz zu gehen begann.

Eines Tages entdeckte seine Lebensgefährtin in der Zeitung eine Annonce: Das LVR-Freilichtmuseum Lindlar suchte jemanden, der in der Seilerei Besuchern vorführt, wie Taue und Schnüre hergestellt werden. Thonett bekam die Stelle. „Er hat die Anzeige immer in seinem Portemonnaie bei sich gehabt“, erzählt Museumskollegin Elisabeth Walter, mit der er befreundet war. „Das war mehr als ein Job.“ Seine neue Aufgabe habe er „mit Leib und Seele“ erfüllt, bestätigt Lisa Rüther. Dabei sei es ihm auch hier wichtig gewesen, ökologische Denkanstöße zu geben, „neben dem Handwerklichen und Tüfteln und der Wertschätzung und Freude an historischen Gebäuden, Materialien und Gerätschaften“.

Kölner blieb trotz allem optimistisch

Auch ehrenamtlich war er tätig. Für den sozialen Fahrdienst „Limo“ fuhr er Menschen zum Einkaufen, Arzt oder Gottesdienst; auch für den Verein „Bürgerbus“ stellte er sich als Fahrer zur Verfügung. Im Sommer 2018 machte Thonett mit seiner Freundin eine Radtour durch Ostdeutschland. Als sie durch ein abgelegenes Gebiet kamen, erlitt er einen Herzinfarkt. Er stürzte zu Boden, schlug mit dem Gesicht auf. Wochenlang lag er im einem Cottbuser Krankenhaus im Koma. Von dort wurde er in eine Reha-Einrichtung in der Nähe von Koblenz verlegt. Mühsam lernte er wieder sprechen und essen, machte Gehversuche. „Er hat sich ins Leben zurückgekämpft“, sagt Lisa Rüther. Doch er blieb pflegebedürftig, war auf einen Rollstuhl angewiesen und so gut wie blind.

Zuerst wohnte in einem Seniorenheim in Köln-Brück, dann in einem Heim in Lindlar. „Er hat nie aufgegeben“, sagt Lisa Rüther, „er ist mit seinem Schicksal zurechtgekommen und war nicht verbittert.“ Viele Menschen habe er damit beeindruckt. „Er hat das Leben echt geliebt“, sagt seine Schwester. Thonett nahm Französischunterricht, beschäftigte sich mit Vogelstimmen, begann mit seiner Musiktherapeutin zu singen, verfolgte im Radio Wissenschaftssendungen. Besonders wichtig war es ihm, Musik zu hören; dies hat ihn nach den Worten seiner Lebensgefährtin „durch manche Verzweiflung getragen“.

Corona erschwerte seine Situation

Im vorigen Jahr verschlechterte sich sein Zustand zusehends; seine Situation wurde durch die Corona-Besuchsbeschränkungen zusätzlich stark erschwert. Cordula Thonett: „Er verlor immer mehr den Körperkontakt zu anderen. Therapie war nicht mehr möglich.“ Lisa Rüther betont, das Personal habe alles getan, ihrem Freund diese Situation zu erleichtern. „Sobald die Regeln gelockert waren, konnte ich ihn wieder besuchen, aber da hatte er tragischerweise nur noch einige Tage zu leben.“

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„Kritisch war sein Denken und konsequent sein Handeln. Und dein Abschied war im Herzen stark“, heißt es auf der Trauerkarte der Familie. Lisa Rüther hat auch eine drucken lassen. Darauf findet sich ein Zitat von Michael Gräf: „Entdecker sein, barfuß gehen, nichts anerkennen außer dem Leben.“

Beigesetzt worden ist der Fahrradkurierpionier Stephan Thonett auf dem Friedhof in Lindlar-Hohkeppel.

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