Ein Gespräch über Kürzungen im Sozialbereich und den Bedeutungsverlust der katholischen Kirche unter Kardinal Rainer Maria Woelki.
Peter Krücker geht in RuhestandCaritas-Chef: „In Köln wird Geld für die falschen Dinge ausgegeben“
Herr Krücker, Sie verlassen die Caritas nach 31 Jahren zu einer Zeit, in der die katholische Kirche aus ihrer Dauerkrise nicht herauskommt, Sozialleistungen gekürzt werden und die Politik nach einfachen Antworten zum Beispiel bei der Migration sucht. Sind Sie erleichtert oder fällt es schwer, zu gehen, wenn es so viel zu tun gibt?
Peter Krücker: Da bin ich total ambivalent. Eine Seite von mir sagt: Zum Glück habe ich bald mehr Zeit und dann auch mit diesen schwierigen Themen beruflich nichts mehr zu tun. Diese Seite kommt vor allem beim Thema öffentliche Finanzen durch: Was ist mit dem kommunalen Haushalt, was machen Land und Bund? Welche Angebote müssen gekürzt, welche Stellen gestrichen werden? Das ist hart.
Andererseits ist es gerade in so einer Zeit wichtig, die Stimme zu heben. Ich denke oft: Eigentlich wirst Du gerade besonders gebraucht. Wir begreifen uns bei der Caritas ja auch als politische Lobbyisten für ein menschenwürdiges Sozialsystem – und da habe ich unsere Standpunkte immer gern und wie ich hoffe auch deutlich eingebracht.
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In Köln geht die Sorge um, der Etat für soziale Leistungen könnte erheblich gekürzt werden. Ist es nicht demotivierend, immer wieder darauf aufmerksam machen zu müssen, dass sich an den Schwächsten der Zustand einer Demokratie zeigt – und dass dann trotzdem genau hier gespart werden soll?
Unsere Arbeit ist eine Arbeit gegen das Vergessen. Es gab lange auch in Köln eine Sozialpolitik, die ihren Namen verdient hat. Köln hat sich lange als explizit soziale Stadt begriffen und das auch gelebt. Heute drohen massive Kürzungen im Sozialbereich aufgrund der schlechten finanziellen Lage der Stadt Köln. Da wird das Geld für die falschen Dinge ausgegeben: Missmanagement in den Kliniken, Missmanagement bei Kulturbauten und so weiter. Wir verlieren im Kampf für eine soziale Stadt nicht nur in Köln immer mehr an Boden.
Liegt das auch an den multiplen Krisen in der Welt? Ist einfach zu wenig Geld da, um einen Wohlfahrtsstaat zu finanzieren?
Es gibt einen Mechanismus in unserer Gesellschaft, alles zu ökonomisieren. Wenn sich die Wohlfahrt an Ausschreibungen beteiligen soll, ist sie nicht mehr automatisch ein wichtiger Partner, sondern ein Anbieter und Wettbewerber von vielen. Dann soll es der Billigste machen. Wir haben in der Wohlfahrt Tarifverträge wie auch der öffentliche Dienst selbst – und die müssen finanziert werden. Aber die Ökonomisierung durch Ausschreibungen gilt für fast alle Bereiche. Diesem Mantra werden auch wir unterworfen. In unserer Gesellschaft ist genügend Geld vorhanden, es wird aber für die falschen Dinge ausgegeben.
Mit was für Konsequenzen?
Es führt zu einem dramatischen Qualitätsverlust beim Sozialen. Es wird schwieriger, die Leistungen anzubieten und zu managen. Es ist auch schwieriger, Personal befristet für ein oder zwei Jahre zu finden als unbefristete Mitarbeitende zu haben. Viele Arbeitsplätze im sozialen Bereich basieren auf Projekten, die nur ein oder zwei Jahre laufen. Das ist mehr geworden – und verursacht große Unsicherheit, da fehlt die Planungssicherheit, wie auch aktuell wieder in der Flüchtlingsberatung. Die Betreuung von Geflüchteten wird in ihrer Qualität und Quantität erheblich beschädigt. Aber wenn bei der Flüchtlingsberatung massiv gekürzt wird, gefährdet das den sozialen Frieden und freut die Demokratieverächter.
Weil die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Menschen sich nicht integrieren und ihnen das politische System samt Grundgesetz fremd bleibt…
Schon jetzt ist der Personalschlüssel in vielen Unterkünften zum Beispiel für unbegleitete minderjährige Geflüchtete katastrophal. Diese Menschen werden teilweise sich selbst überlassen, statt sich um sie zu kümmern, ihnen Perspektiven zu eröffnen und auch klarzumachen, an welche Regeln sie sich halten müssen. Dass dann in ihrem Frust und ihrer Perspektivlosigkeit einige anfällig für ein Leben in der Kriminalität oder für religiöse Fanatiker werden, wundert mich nicht. Das kann aber keiner wollen – das ist völlig destruktiv. Im Endeffekt destabilisieren Kürzungen in diesen Bereichen das Gemeinwesen und gefährden die Demokratie.
Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass Parteien, die sich den sozialen Ausgleich auf die Fahnen geschrieben haben, stark in der Wählergunst verlieren, während solche, die vor allem mit einfachen Antworten zum Thema Migration oder Ukraine-Krieg arbeiten, gewinnen?
Ernsthafte Sozialpolitik zu betreiben, wird vom Wähler inzwischen bestraft. Es geht nur noch um ein pauschales Schwarz-Weiß-Denken – das immer falsch ist, egal ob von links oder rechts. Die Wirklichkeit ist immer grau. Aber in einer immer komplizierteren Gesellschaft ist die Differenzierung wahrscheinlich eine Überforderung. Demagogische Gruppierungen profitieren davon. Viele Menschen würden sich darüber freuen, wenn es so einfach wäre: Keine Waffen mehr für die Ukraine, dann gibt es Frieden, oder: Grenzen dichtmachen, dann geht es Deutschland gut. Die Wirklichkeit ist aber nicht so simpel.
Köln gilt als Stadt mit gut ausgebauten sozialen Sicherungssystemen. Wo haben sich Dinge zum Besseren verändert, seit sie vor mehr als 30 Jahren bei der Caritas begonnen haben?
In der Versorgung von Geflüchteten haben wir gute Beiträge geleistet. Da gab es eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den Trägern und der Stadtverwaltung. Ein anderes Feld ist die Pflegeinfrastruktur, die sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat. Als ich angefangen habe, gab es in einem Pflegeheim in Deutz noch Vier-Bett-Zimmer. Das ist heute nicht mehr vorstellbar. Alle Caritas-Pflegeeinrichtungen in Köln sind inzwischen neu gebaut, es gibt in allen Einrichtungen nur noch Einzelzimmer. Ich hoffe, dass es da keine Rolle rückwärts gibt.
Sie sind drei Jahrzehnte bei der Caritas geblieben – trotz Missbrauchsskandals im Erzbistum Köln und einem Kardinal, den Sie mehr als einmal scharf kritisiert haben. Warum?
Weil ich täglich die Sinnhaftigkeit meiner Arbeit gespürt habe. Die wichtigsten Erfolge sind die ganz Kleinen: Wenn ein Geflüchteter eine Perspektive bekommt, Arbeit und Wohnung findet. Wenn ein alter Mensch, dem es nicht gut geht, sich gut versorgt weiß. Ein Mensch in Frieden und Würde sterben kann. Die kleinen Dinge, die kaum jemand sieht, sind die wichtigsten. Davon gibt es bei der Caritas jeden Tag Tausende – auch dank unserer über 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dafür bin ich sehr dankbar.
Sie haben kürzlich gesagt, Sie haben sich nie so unwohl und verzweifelt im Erzbistum gefühlt wie heute. Rainer Maria Woelki müsse sich nicht nur juristisch um die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals kümmern, sondern auch moralisch Haltung zeigen. Wirkt sich Bedeutungsverlust der katholischen Kirche auf die Schlagkraft der Caritas aus?
Eine spürbar ernsthafte Aufarbeitung der zahlreichen Fehlentwicklungen im Bistum würde den Bedeutungsverlust der Kirche verlangsamen, der durch Leugnung von Verantwortung und fehlende Anpassung an gesellschaftliche Realitäten geprägt ist. Ich glaube, dass der Status Quo weder für den Papst und den Erzbischof von Köln noch für kirchlich geprägte Menschen im Bistum gut ist. Die Schlagkraft und die Bedeutung der Caritas dagegen steigen mit allen gesellschaftlichen Entwicklungen immer weiter, da die Caritas Leistungen von Familien unterstützt und zum Teil sogar ersetzen muss.
Zur Person: Peter Krücker (65), aufgewachsen in einer katholischen Familie in Dormagen, hat Schaufenstergestalter beim Kaufhof gelernt, bevor er Soziale Arbeit studierte. Fürs Kölner Jugendamt arbeitete er in Chorweiler, vor 31 Jahren ging er zur Caritas Köln, deren Vorstandssprecher er in den vergangenen 13 Jahren war. Ende September hört der 65-Jährige dort auf, sein Nachfolger wird Markus Peters, der zuletzt neun Jahre lang als Vorstandsvorsitzender des SKM Köln tätig war. Krücker, der verheiratet ist und zwei erwachsene Söhne hat, ist auch Sprecher des Runden Tischs für Flüchtlingsfragen in Köln und Mitglied der Delegiertenkonferenz und des Caritasrates des Deutschen Caritasverbandes.