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Eskalierte ZwangsräumungWie es zu den Todesschüssen in Köln-Ostheim kam

Lesezeit 7 Minuten
Das Mehrparteienhaus in der Gemsheimer Straße 17, in der es zu der Zwangsräumung kam.

Im August sollten Polizisten eine Wohnung in der Gemsheimer Straße 17 in Ostheim zwangsräumen. Der Mieter war psychisch extrem labil - im Verlauf des Einsatzes wurde er erschossen.

In Ostheim eskaliert eine Zwangsräumung, ein Mann wird erschossen. Die Geschehnisse werden hier dargelegt - und doch bleiben viele Fragen offen.

Die drohende Gefahr war den Polizisten bewusst, als sie an einem Augustmorgen 2022 in Ostheim zu einer Wohnungsräumung ausrückten. Die Zivilbeamten der Inspektion Mülheim hatten sich intensiv auf den Zugriff in der Gernsheimer Straße vorbereitet. Für den Sturm der Wohnung hatte man sich eigens ein ballistisches Plastik-Schild mit der Aufschrift „Polizei“ ausgeliehen. Die Vorkehrungen erschienen nötig, hatte Mieter Louzef B. doch massive Gegenwehr angekündigt. So leicht, ließ er über seinen gesetzlichen Betreuer ausrichten, bekomme man ihn nicht aus seiner Bude heraus.

Der russische Straßenmusiker sollte Recht behalten. Mit einem Messer in der Hand starb er durch zwei Schüsse aus den Waffen zweier Einsatzkräfte. Offenbar handelten die Beamten in Notwehr. So wie in ähnlichen Fällen jüngst in Zülpich und Bergisch-Gladbach. Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer bestätigte dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, dass ein „betreffendes Todesermittlungsverfahren eingestellt worden ist, weil sich keine konkreten Hinweise auf strafbar relevantes Fehlverhalten Dritter ergeben haben.“  

Christoph Arnold, Anwalt einer der beiden Polizeischützen, erklärte: „Die Staatsanwaltschaft hat die beiden Beamte stets als Zeugen und nicht als Beschuldigte geführt, allein dieser Umstand beweist doch, dass die Handlungsweise der Polizisten korrekt war.“

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Ein Mann, den kein Hilfsangebot erreichte

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat den Fall akribisch recherchiert. Am Ende stellt sich heraus, dass die Polizei ein Problem mit einem psychisch labilen, alkoholkranken Menschen notfalls gewaltsam lösen sollte, der durch alle Raster sozialer und kommunaler Hilfsmaßnahmen fiel.

Die Nachforschungen der Staatsanwaltschaft werfen Fragen auf: Wieso kam Louzef B., der seit Jahren Selbstmordgedanken äußerte, nicht dauerhaft in einer geschlossenen Einrichtung unter? Warum landete der gebürtige Russe gleich vier Mal im Jahr 2022 wegen Suizidversuchen in einer psychiatrischen Klinik des Landschaftsverbandes Rheinland, ohne dass ein Gericht ihn länger einwies? Wieso entließen die Ärzte in Köln-Merheim den schwer alkoholkranken Künstler nach kurzem Aufenthalt wieder, nachdem er am 10. März beim ersten erfolglosen Räumungsversuch mit einem Schraubenzieher zwei Polizisten bedroht hatte? Damals quoll aus seinen aufgeschnittenen Pulsadern laut späterer Anklage das Blut heraus, Musik dröhnte durch den Raum, als die Beamten ihre Pistolen auf den Delinquenten richteten. Letztlich ergab sich Louzef B.. Auf dem Weg in die Klinik beschimpfte er die Polizisten wüst. Mit Fußtritten wehrte er sich dagegen, ans Krankenbett gefesselt zu werden.

Die Psychiater diagnostizierten damals das so genannte Korsakow-Syndrom: Gedächtnisverlust, Persönlichkeits- und Wahrnehmungsstörungen hervorgerufen durch exzessiven Alkohol- oder Drogenkonsum. Bei Louzef B. kam beides zum Tragen: Wodka, Unmengen von Bier daneben Kokain und Marihuana.

Gerichtsvollzieherin bat um Amtshilfe für Zwangsräumung

Meist unter Alkoholeinfluss bettelte er per WhatsApp mehrfach um seinen Tod. Er tyrannisierte volltrunken seine Nachbarschaft. Er verweigerte dem Wohnungseigentümer den Zugang in sein Quartier, obwohl dieser überfällige Reparaturen hätte ausführen müssen. Weil er den Aufforderungen des Vermieters nicht Folge leistete, hatte eine Gerichtsvollzieherin die Polizei um Amtshilfe zur Zwangsräumung gebeten.

Die Zeugenaussagen der eingesetzten Polizeibeamten sowie weitere Ermittlungen legen nach Informationen dieser Zeitung folgenden Ablauf des Geschehens nahe: Gegen acht Uhr an jenem 3. August 2022 knacken die Einsatzkräfte das Schloss des Eingangs zum Hochhaus und schleichen sich nach oben. Im dritten Stock positionieren sich die Beamten hinter ihrem Kollegen Werner S. (Name geändert). Der 32-jährige Polizeioberkommissar greift zum Schild, läuft die Treppen zur vierten Etage hinauf, öffnet die Glastür zu den Wohnungen.

Lass das Messer fallen, leg dich auf den Boden!
Polizist in B.s Wohnung

Eine Polizeikommissarin rammt B.s Wohnungstür auf, ihre Kollegen stürmen hintereinander in den engen Flur hinein. Sie brüllen „Polizei“, während Werner S., den Schild als Schutz hoch in der Hand haltend, die Tür zum Wohnzimmer auftritt - und erstarrt.

Nur knapp zwei Meter vor ihm steht Louzef B. neben der Küchenzeile. Er hält ein großes Küchenmesser in seiner rechten Faust, hebt es drohend in Schulterhöhe. Die Beamten rufen: „Lass das Messer fallen, leg dich auf den Boden!“

Längst hat Sicherungsschütze Werner S. seine Pistole gezückt und zielt über das Schild hinweg auf den Delinquenten. Hinter ihm zieht ein weiterer Polizist seine Waffe und versucht B. mit Pfefferspray außer Gefecht zu setzen. Polizeioberkommissar Werner S. wird später zu Protokoll geben, er habe gehofft, dass sein Gegenüber endlich das Messer fallen lassen würde. Doch Louzef B. reagiert laut Zeugenangaben nicht. Im Gegenteil. Er soll einen Schritt nach vorne getan haben. Das Messer weiterhin in einem Meter Entfernung drohend auf die Beamten gerichtet. Werner S. fürchtet um sein Leben und das seiner Kollegen. Er schießt B. in den linken Oberschenkel, ein Kollege zeitgleich in den Oberkörper. Den Einsatzrichtlinien zufolge dürfen die Polizisten schießen, sollte der mit einem Messer bewaffnete Angreifer näher als sieben Meter herankommen.

Schwer getroffen, torkelt Louzef B. zurück und bricht zusammen. Das Gemüse-Messer mit einer 15 Zentimeter langen Klinge liegt in einer Blutlache an der Seite des Schwerverletzten. Die Beamten rufen einen Krankenwagen, binden die Wunde am Bein ab, drücken das Einschussloch nahe der Schulter mit Kompressen zu, versuchen den Angeschossenen wach zu halten. Vergebens. Gut eine Stunde nach dem Zugriff stirbt Louzef B.

Alkohol, Wutausbrüche, Lärmbelästigung - das Mietverhältnis wurde gekündigt

B. wurde in Sankt Petersburg geboren, siedelte Mitte der 90er Jahre nach Köln um, studierte Musik, verdiente nebenbei durch Auftritte auf der Straße Geld. Zeitweilig war er liiert, ein Sohn kam zur Welt. Doch die Beziehung ging in die Brüche. Alkohol, Wutausbrüche, vor allem gegen die Nachbarn, die er beschimpfte und bedrohte und mit lauter Musik in der Nacht belästigte.

Mitunter schlief B. beim Befüllen seines Aquariums ein, das Wasser lief dann bis in den ersten Stock hinunter. Vom Vermieter bestellte Handwerker ließ B. nicht in die Wohnung. Louzef B. wurde untragbar, das Mietverhältnis gekündigt.

In B.s Kriminalakten finden sich 25 Strafanzeigen. Beleidigung, Sachbeschädigung, Bedrohung, Betrug, Raub, gefährliche Körperverletzung, Drogendelikte sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Ende März 2018 griff Louzef B. Mitarbeiter des städtischen Ordnungsamtes an und musste festgesetzt werden. Im Juni 2019 randalierte er in einem Supermarkt. Als die Polizei ihn festnehmen wollte, trat er einer Beamtin in den Bauch. Mitte Oktober beschimpfte er volltrunken Passanten in Deutz, wehrte sich gewaltsam gegen seine Festnahme und wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Betreuer Bernd Müffeler erinnert sich: „Das war ein schwieriger Fall. Man kam nicht leicht an ihn heran, er verweigerte jegliche Hilfsmaßnahme oder den Zutritt zu seiner Wohnung.“ Angebote des sozialpsychiatrischen Dienstes der Stadt Köln nahm er nur teilweise an. Ein alternatives Wohnungsangebot habe B. laut einer Sprecherin abgelehnt. Als der Räumungstermin naht, steht B. immer noch unter Bewährung, weil er neben Hartz-IV als Straßenkünstler Corona-Hilfen abkassiert hat.

Ärzte sehen keine Selbstgefährdung - Handynachrichten sprechen eine andere Sprache

Sein Betreuer setzt sich für ihn ein, sucht nach psychiatrischer Hilfe oder einem Platz in einer Entzugsklinik. Doch Louzef B. wird nach kurzen Aufenthalten in der geschlossenen Abteilung immer wieder entlassen. Jedes Mal lautet die ärztliche Diagnose: Eine Gefahr der Selbst- oder Fremdgefährdung bestehe nicht.

Kurz vor dem ersten Räumungsversuch schickt B. an Müffeler Fotos von seinen aufgeschnittenen Pulsadern mit dem Hinweis, dass er sich beim Verbluten Zeit lassen würde. Mitte April, kurz vor dem nächsten Räumungstermin, übersendet er eine Aufnahme mit folgendem Kommentar: „Scheiß auf das Geld, ich habe noch ein Skalpell.“ Ende Juni postet er ein Foto von Tabletten, mit denen er sich umbringen will. Eine Woche vor der Zwangsräumung dann ein Bild von der Hohenzollernbrücke. Text: Er könne nicht mehr, „sollen doch die Bullen kommen“, um ihn abzuschießen.

Sein Betreuer versucht vergeblich gegen die Zwangsräumung zu klagen. Begründung: Suizidalität des Mandanten. „Zwei Tage vor dem Termin forderte mich das zuständige Gericht auf, einen ärztlichen Befund einzureichen, der dies bestätigen würde“, berichtet Müffeler, „das war in der Kürze der Zeit nicht möglich.“

Müffeler macht nicht die Polizei für den Tod seines Schützlings verantwortlich: „Es ist das System, durch das solche psychisch auffälligen Menschen fallen.“ Für viele seiner 40 Klienten sucht der Kölner vergebens psychiatrische Hilfe. „Die Kliniken sind voll mit derartigen Problemfällen. Liegt keine aktuelle Fremd- oder Eigengefährdung vor, kommen sie bald wieder raus.“ Chancen hätten nur diejenigen, die sich selbst helfen lassen wollten: Spielt der Betreute nicht mit, „dann machst du nichts daran.“

Der Sohn des Verstorbenen hat den Strafverteidiger Simon Kantz als Nebenkläger mit seinen rechtlichen Interessen betraut. Der Anwalt will nun „prüfen, ob es Ansätze für ein Fehlverhalten gibt, die Amtshaftungsansprüche zulassen würden.“

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