Kölner Bildungsexpertin im Interview„Der Schulstoff muss unbedingt reduziert werden“

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Ein Tablet PC wird zum Lernmittel - in der Schule wie auch beim E-Learning zuhause.

  • Die Kölner Bildungsexpertin Myrle Dziak-Mahler kritisiert, dass Schulministerin Gebauer angesichts stark steigender Infektionszahlen an Schulen weiter beschwörend auf Präsenzunterricht und Lüften setzt statt Alternativkonzepte zu entwickeln.
  • Es wird an den Schulen nach der Pandamie keine Rückkehr zur alten Normalität von vor Corona geben.
  • Sie fordert von allen Lehrern digitales Umdenken und erläutert, warum der ganze Lehrplan auf den Prüfstand gehört.

Köln – Frau Dziak-Mahler, Sie haben sich angeschaut, wie Schulleitungen im ersten Lockdown agiert haben und welchen Einfluss das auf die Kollegien hatte. Was war Ihr Fazit? Es sind die Schulen die Gewinner gewesen, deren Schulleitungen mit Mut, Experimentierfreude und ohne Anspruch auf Perfektion digital vorangegangen sind. Dort haben dann auch die Kollegien mitgezogen. Es gab tolle Formate an vielen Schulen – etwa Mikrofortbildungen: digital affine Kollegen haben andere geschult, etwa wie Erklärvideos gehen. Bis zu den Sommerferien ist da ganz viel ausprobiert worden.

Und seitdem?

Seitdem liegt der Fokus in den Schulen nur noch auf Präsenzunterricht. Und darauf, mit allen Mitteln den Normalbetrieb von vor Corona zu rekonstruieren.

Jetzt steigen die Corona-Zahlen an den Schulen rapide. Die ersten Schulen sind geschlossen und der Druck steigt, auf Wechselunterricht analog und digital mit geteilten Klassen umzustellen. Sind die Schulen darauf vorbereitet?

Nein. Dafür hat das Bildungsministerium nicht gesorgt. Obwohl die Virologen im Sommer genau diese Situation vorausgesagt haben. Das Land NRW hat die Schulen nicht ausreichend ausgestattet - fragen Sie mal in einigen Schulen nach, was da an Geräten angekommen ist. Das Ministerium verkündet in der Presse, es gibt neue Lehrerstellen oder Laptops. Aber diese kommen vielfach vor Ort nicht an. In den Schulen gibt es eine große Ohnmacht und Frust. Auch verbindliche und verpflichtende Richtlinien für den Hybridunterricht - also die Kombination aus analog und digital – wurden vom Ministerium nicht erstellt.

Stattdessen ist Eiszeit in Klassenzimmern angesagt - teilweise mit Mütze und Decken...

Das einzige Konzept der Landesregierung heißt Präsenzunterricht, das wie eine Beschwörungsformel täglich wiederholt wird. Und Querlüften. Jetzt stehen wir aber plötzlich vor einer Situation, in der das nicht mehr geht. Und Lüftungsanlagen für alle Klassen sind zu teuer, sagt Frau Gebauer. Warum eigentlich, frage ich mich? Bildung hat keine Lobby, das ist der Grund.

Was bräuchten die Kölner Schulen denn - außer digitaler Ausstattung?

Einen anderen Fokus. Wir reden ausschließlich darüber, wie der Präsenzunterricht aufrechterhalten werden kann. Das ist völlig verkürzt. Die Probleme, die uns jetzt auf die Füße fallen, sind Probleme der Versäumnisse von vor 10, 20 Jahren – die Nicht-Digitalisierung von und die massiv fehlenden Personalressourcen. Diese grundlegenden Probleme kann man diese nicht mit kurzfristigem Geld für Technik oder Schulungen lösen.

Wenn Geld kurzfristig nicht die Lösung ist, was dann?

Auf Seiten der Schulen braucht es Haltung. Man könnte jetzt sagen, wer experimentieren will, braucht erstmal Ressourcen. Aber die Innovationsforschung sagt etwas anderes: Die besten Innovationen entstehen aus Mangel. Von daher ist die Situation geeignet, um kreative Lösungen zu suchen. Was es braucht, ist jetzt wieder überall die Bereitschaft, kreativ zu experimentieren. Schulleitungen müssen deutlich machen, ich möchte, dass ihr euch ausprobiert. Viel gravierender aber ist, dass das Schulministerium als vorgesetzte Behörde genau eine solche Entwicklung und Experimentierhaltung verhindert.

Inwiefern?

Die Leine ist viel zu kurz. Die Schulen sind extrem von oben gesteuert, für alle gilt das gleiche. Dabei bräuchten die Schulen vor allem Freiraum, etwas selbst zu entscheiden, weil eben eine Lösung für alle nicht richtig ist. Das Ministerium steuert in jeden Klassenraum hinein: Ein Erlass für alle, am besten freitags um 22.30 Uhr für montags. Die Vorgaben sind total kleinteilig und von Regelungswut geprägt: Montag muss das vorgegebene Hygienekonzept umgesetzt werden, Dienstag macht Frau Gebauer Vorgaben zum Lüften. Das erleben die Schulleiter nicht als etwas frei machendes.

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Auf der anderen Seite gibt es keine inhaltlichen Leitplanken, sondern nur eine Materialsammlung für den Digitalunterricht, von der keiner weiß, welche Verbindlichkeit diese hat. Schulen befähigen würde heißen: Sie erhalten den Auftrag, ein Hybridkonzepte zu haben. Wie das Konzept aussieht, kann jede Schule selbst entscheiden. Macht inhaltlich und organisatorisch, was geht, wir vertrauen euch - das wäre die notwendige Botschaft.

Dann darf Digitalunterricht aber nicht heißen: Der Lehrer mailt pdf-Dateien oder oder die Kinder sitzen sechs Stunden vor dem Bildschirm, wo der Lehrer im Frontalunterricht zu ihnen spricht...

Entscheidend ist, dass alle Lehrer verinnerlichen, dass Digitalunterricht didaktisch komplett anders funktioniert als Präsenzunterricht. Ich muss mir als Lehrer die Mühe machen, komplett neu zu denken. Ich muss gar nicht sagen, Lerngruppe a morgens in Präsenz und Lerngruppe b nachmittags im Digitalunterricht. Vielleicht kann ich in Projekten arbeiten, oder Schüler in Onlinekonferenzen zusammenarbeiten lassen. Die Frage ist, wo ist das Analoge sinnvoll und was sind sinnvolle digitale Formate. Vokabeltests per App entlasten den Lehrer. Im Deutschunterricht kann ich online-Schreibkonferenzen organisieren. Für das kreative Schreiben ist das hervorragend geeignet. Ich habe einen Gegenstand und an dem entlang schaue ich, wo habe ich digital einen Mehrwert. Ich denke von der Sache her und passe das den Gegebenheiten an. Und nicht: Ich habe ein Zeitmodell und presse meine Inhalte da hinein. Dann müsste man aber damit leben, dass nicht genau die Stundentafel abgearbeitet wird.

Das würde aber voraussetzen, im Ministerium nicht weiter so zu tun, als sei dies ein normales Schuljahr, in dem man um jeden Preis den geplanten Stoff durchziehen muss...

Unbedingt. Der Stoffumfang muss reduziert werden. Weniger ist jetzt mehr. Ist es wirklich so schlimm, wenn Schüler über einen Zeitraum der Pandemie bestimmte Inhalte nicht lernen? Das war schon im Frühjahr völlig verrückt: Diese starke Fixierung darauf, dass die Abiturprüfungen unbedingt stattfinden müssen. Der einseitige Fokus darauf, ob die Schüler diesen oder jenen Inhalt drauf haben. Während wir gleichzeitig in Köln flächendeckend Schüler verloren haben: In unglaublich hoher Zahl hatten Lehrer über Monate keinen Kontakt mehr zu ihren Schülern. Die Schwächeren, die wir da verloren haben, spielten keine Rolle. Hauptsache die Abschlussprüfungen fanden statt. Sehr befremdlich.

Das ist jetzt wieder so: Letzte Woche haben sich die Kultusminister geeinigt, in einem Zentralabitur ab 2021 einheitliche Abituraufgaben in den Kernfächern zu schaffen.

Dass die Kultusminister mitten in der Pandemie Zeit hatten, über dieses Thema zu diskutieren, das finde ich an der Grenze zum Skandalösen. Wir haben echt andere Probleme. Bildungspolitik ist extrem konservativ. Sie steht da wie ein fetter Fels, den keiner bewegen kann. Um ihn müssen alle drumrum tanzen. Warum betrachtet man den Stoff wie ein Gesetz? Warum stellt man nicht ruhig mal alles in Frage? Es geht immer noch viel zu sehr darum, Wissen zu reproduzieren. Dabei müssen wir endlich die veränderten Realitäten anerkennen, dann können wir auch das Curriculum abspecken, statt weiter die Quadratur des Kreises zu versuchen.

Was ist denn die neue Realität?

Dass Lehrer sind keine Wissensvermittler mehr sind. Wissen und Fakten finden die Schüler überall. Die Aufgabe des Lehrers ist jetzt, den Lernprozess zu begleiten, zu moderieren und die Schüler auf lebenslanges Lernen in einer sich ständig wandelnden Welt vorzubereiten. Statt uns dem zu stellen, denken wir mit unserem tradierten Kanon aus der Vergangenheit.

Was muss ein Schüler in der digital transformierten Welt von morgen können?

Wir brauchen 2030 Menschen, die vorbereitet sind, gut kollaborativ zu arbeiten. Die OECD nennt das die 4 „Ks“: Kommunikationskompetenz, Kollaboration, Kritisches Denken und Kreativität. Die Schüler brauchen Veränderungskompetenz, weil die schnelle permanente Veränderung vielen Angst macht. Und natürlich Digitalkompetenz: um Informationen im Netz bewerten zu können und die Funktion von Algorithmen zu verstehen. Merken Sie? Da ist nichts Fachliches dabei.

Dieses neu Denken kostet viele Ressourcen. Dabei sind viele Kollegien schon nach acht Wochen im Pandemie-Schuljahr am Rande der Belastungsgrenze. Schulleiter melden, dass Lehrer reihenweise auf den Burnout zusteuern.

Das stimmt. Da sind wir wieder am Ausgangspunkt: Wenn Rahmenbedingungen - also Ressourcenausstattung - und Management von oben nicht stimmen, läuft man ins Burnout. Aber eines muss allen klar sein: Es gibt kein Zurück in die alte Normalität vor Corona. Deshalb müssen wir mit der konzeptuellen Arbeit anfangen. Jetzt.

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