Harald Rau zum Schulstart„Sehen für Köln noch erheblichen Regelungsbedarf“

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Gesundheitsdezernent Harald Rau in seinem Büro im Stadthaus

  • Seit Monaten beeinflusst die Corona-Pandemie das öffentliche Leben in Köln – und die Gefahr einer zweiten Welle besteht.
  • Erstmals spricht nun Gesundheitsdezernent Harald Rau im exklusiven Interview über die Krise.
  • Warum die Infektionszahlen wieder steigen, welche lebenslangen Spuren der Unterrichtsausfall für Kinde haben kann und wie Köln sich bisher geschlagen hat, lesen Sie hier.

Herr Rau, zu welchem Zeitpunkt haben Sie gemerkt, wie ernst die Bedrohung durch das Coronavirus tatsächlich ist? Ich war am Anfang einer derjenigen, die sagten, dass die echte Grippe, die Influenza, genauso gefährlich sei. Ich kann es nicht mehr genau datieren, aber als die ersten Fälle auftauchten, war ich zwei, drei Wochen eher der Behutsame, der keine Panik aufkommen lassen wollte. Dann wurde uns zunehmend der Ernst der Lage klar. Befreundete Intensivmediziner hatten engen Kontakt zu Kollegen in der Lombardei. Sie haben uns vom Ernst der Lage überzeugt und dringend härtere Maßnahmen eingefordert.

War das noch vor Karneval?

Nein, nach Karneval. An der Stelle haben wir in Köln ein Stück weit Glück gehabt. Uns hätte Heinsberg auch passieren können. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte die Tragweite noch niemand auf dem Schirm.

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Hätte man rückblickend in der ersten Phase der Pandemie etwas anders machen müssen?

Ich glaube nicht. Wir haben in dieser Pandemie alle gigantisch viel gelernt, weil wir am Anfang nicht wirklich wussten, womit wir es zu tun haben. Wir kannten beispielsweise die Wirksamkeit von Masken nicht, haben sie eher für Placebo gehalten; Aerosole waren kein vorrangiges Thema. Mit dem Kenntnisstand von Januar und Februar haben wir daher nicht wirklich etwas falsch gemacht oder uns etwas vorzuwerfen.

Es gab bereits vorab Pandemiepläne, die allerdings maßgeblich auf Influenzaviren ausgerichtet waren. War Köln dennoch gut vorbereitet?

Zum damaligen Wissensstand sind die Merkmale der Infektionsverläufe sehr vergleichbar gewesen, sodass die Pandemiepläne übertragbar waren und wir sie so auch angewendet haben. Insofern waren wir schon richtig vorbereitet.

Zahlenmäßige Überforderung beim Kölner Gesundheitsamt

Woran liegt es, dass man den Eindruck hat, dass Köln bisher ganz gut durch die Pandemie gekommen ist?

Ganz am Anfang war es wie gesagt ein bisschen Glück. Aber vor allem hat unser Gesundheitsamt – das größte in Deutschland – eine ausgewiesen hohe Kompetenz im Infektionsschutz und ist sehr erprobt im Kontaktpersonenmanagement. Es bildete sich aber relativ schnell die zahlenmäßige Überforderung ab. Am Tag waren ein paar Hundert Kontaktpersonen zu kontaktieren, außerdem mussten individuelle Verfügungen ausgestellt werden, um Quarantäne anzuordnen. Zudem mussten die Kontaktpersonen täglich nach ihrem Befinden befragt werden. Unter anderem den letzteren Teil konnten wir dann glücklicherweise ziemlich schnell digitalisieren. Wir haben das Personal im Gesundheitsamt fast verdoppelt – zum Schluss waren es rund 700 Personen. Und ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir rechtzeitig die Katastrophenqualität der Pandemie erkannt und die Katastrophenspezialisten der Feuerwehr einbezogen haben. Ich glaube, das war ein sehr entscheidender Prozess.

Seit mehr als einer Woche haben wir steigende Infektionszahlen. Woran liegt das?

Es besteht die Gefahr einer zweiten Welle. Aber dass wir wirklich jetzt schon davon reden müssen, geben die Zahlen noch nicht her. Wir haben keinen exponentiellen Anstieg. Viele Menschen haben ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Situation, tragen eine Maske und halten Abstand. Viele andere werden jetzt aber mutiger oder sogar sorgloser. Ich glaube, dass unser bisheriger relativer Erfolg ein Stück weit die Sorge der Menschen kleiner werden lässt. Wir sind bisher nicht wirklich in eine große Notlage geraten, die Krankenhäuser waren nie überfordert. Die Leute haben in Köln nicht wahrgenommen, dass man etwa nicht mehr hätte versorgt werden können – anders als zum Beispiel in Italien oder in Teilen der USA.

Zunehmende Reisetätigkeiten – Ausbreitung in anderen Ländern

Und die Pandemie ist noch nicht überstanden...

Nein, wir dürfen jetzt nicht lockerlassen und müssen uns folgendes vergegenwärtigen: Es waren am Anfang wahrscheinlich weniger als 50 Menschen, die das Virus nach Heinsberg gebracht haben. Das hat ausgereicht. Jetzt haben wir deutlich mehr als 100 aktiv infizierte und infektiöse Menschen in Köln. Das heißt, wir haben in unserer Stadt deutlich mehr als am Anfang in der Region. Außerdem haben wir wieder zunehmende Reisetätigkeiten und in manchen Teilen der Erde eine recht hohe Ausbreitung. Das Virus ist in größerer Dichte in der Bevölkerung, als es im Dezember und Januar der Fall war.

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Bis auf Abstand und Mundschutz ist von den Corona-Regelungen nicht viel übrig. Wie sehen Sie die Lockerungen?

Wir alle sind herantastend und lernend. Im vergangenen halben Jahr haben wir viele Maßnahmen, sowohl Restriktions- als auch Lockerungsmaßnahmen, nach Gefühl oder fachlicher Einschätzung, aber ohne sehr belastbare Datengrundlage umgesetzt. Erst jetzt sind wir zunehmend dabei, eine solche Datengrundlage zu schaffen. Und: auch unser Verhalten hat sich erheblich verändert. Wir werden auf längere Sicht keine Großveranstaltungen haben, und ich behaupte, dass wir in diesem Jahr kein volles Rhein-Energie-Stadion und keine volle Lanxess-Arena erleben werden. Denn nach aktuellem Wissensstand sind hohe Menschendichten ohne hinreichende Abstandsregulierung und Nachverfolgbarkeitslogik als Gefahr zu betrachten. Es ist auch pädagogisch schwierig. Wir bringen unseren Kindern bei, Abstand zu halten – sie durften eine Zeit lang nicht auf den Spielplatz. Sie würden dann aber erleben, wie andere in ein volles Stadion gehen.

Es wird angestrebt, dass Schulen nach den Sommerferien zum Regelbetrieb zurückkehren. Ist das sinnvoll?

In Köln haben wir – wie alle Städte – noch keine konkrete Vorstellung davon, wie die Landesregierung sich das dezidiert vorstellt. Deshalb sage ich für Köln, dass wir noch erheblichen Regelungsbedarf sehen. Ich gehe nicht davon aus, dass nach den Sommerferien ein Schulbetrieb wie vor der Pandemie möglich sein wird – Anpassungen wird es geben müssen.

Unterrichtsausfall kann lebenslange Spuren bei Kindern hinterlassen

Welche Auswirkungen könnte das auf die Kinder haben?

Wir haben bisher unsere biologisch-infektiologische Gesundheit über unsere psychosoziale Gesundheit stellen müssen. Doch es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, dass bei Kindern mit eher bildungsfernem Umfeld bereits ein dreimonatiger Unterrichtsausfall lebenslang messbare Spuren hinterlassen kann.

In welcher Form?

Kognitive und kognitiv-soziale Entwicklungen können nachhaltig beeinträchtigt werden. Abhängig davon, in welchem Entwicklungsstadium und in welcher sonstigen Förderumgebung sich ein Kind befindet. Wenn ich die Folgen massiver Restriktionen auf unsere Gesellschaft betrachte, müssen wir bei alten Menschen, Familien und Kindern definitiv auch die psychosozialen Gesichtspunkte im Blick halten. Es ist wichtig, dass wir Restriktionen intelligent, das heißt, wirksam und sparsam gestalten, damit Lebensqualität und Entwicklungsmöglichkeiten nur verhältnismäßig eingeschränkt werden. Dass wir nicht nur wirtschaftliche Kollateralschäden haben, sondern auch psychisch-soziale, macht klar, in welchem Spagat wir uns mit den Restriktionen und deren Lockerung befinden.

Sie arbeiten aktuell an einem Forschungsprojekt, das die Situation in Pflegeheimen und Schulen analysieren soll.

Ja, unser Gesundheitsamt führt gemeinsam mit der Uniklinik Köln Testungen in Schulen und Heimen durch und möchte mit diesen Daten die Ausbreitungsbedingungen besser kennenlernen. Im Rahmen des „Nationalen Forschungsnetzwerks Universitätsmedizin Covid-19“ bin ich Mitglied der Task Force der Universitätsklinik und wir haben etliche Forschungsanträge in der Begutachtung.

Was genau untersuchen Sie?

Wir wollen mittels systematischer Vergleiche herausfinden, welche Auswirkung unterschiedliche Bedingungen von Lockerungen auf den Grad der Infektionsausbreitung hat. Dafür vergleichen wir die jeweiligen behördlichen Bedingungen mit erweiterten Bedingungen der Lockerungen in Heimen. Das passiert natürlich kontrolliert und medizinisch begleitet und in Übereinstimmung mit der Ethikkommission. Eine belastbare Bewertung von Lockerungsbedingungen wird es erst dann geben, wenn wir in systematischen Vergleichen wissenschaftliche Daten erzeugt haben. Solches Wissen haben wir bisher noch nicht in ausreichender Qualität, darum können wir viele Entscheidungen derzeit noch nicht „evidenzbasiert“ treffen.

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