„Die Boutiquen im Belgischen Viertel sind nur schrecklich“Zwei Kölner kleiden sich wie zu Kaisers Zeiten

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Ein Mann mit Hut und hellem Anzug mit Weste und Krawatte und eine Frau mit einem mit Blumen besetztem Hut auf dem Kopf und einem rüschenbesetzten weißen Kleid sitzen an einem Tisch in einem Café.

Teatime im Café Feynsinn mit Valerio und Sophia

Mit Hut, Gehstock und gestärktem Kragen: Sophia und Valerio tragen nur Vintage-Sachen von vor mindestens 100 Jahren.

„Nein, ich bin in keiner Sekte, ich bin auch nicht religiös, und ich möchte auch nicht den Kaiser wiederhaben. Ich bin für Frauenwahlrecht und Gleichberechtigung und lebe sehr gerne im 21. Jahrhundert. Aber bei der Kleidung ist es anders, ich trage nur die Mode aus dem 19. Jahrhundert“, sagt Sophia gleich zur Begrüßung und erklärt, dass dies die Fragen seien, die man ihr immer stelle. Die 27-Jährige, die ihren Nachnamen nicht öffentlich machen möchte, besitzt kein T-Shirt und auch keine Jeans, in ihren Schränken hängen ausschließlich Kleider, wie sie in den Jahren von 1890 bis 1910 Mode waren.

Vintage-Lover: Bayerin lebt seit Kurzem erst in Köln

Ihre bewusst altmodischen Kleidungsstücke trägt sie jeden Tag, auch im Büro. Sophia kommt aus dem bayrischen Bayreuth und hat Bekleidungstechnik studiert. Seit sechs Monaten wohnt sie in Köln und arbeitet als Designerin in einer Kölner Bekleidungsfirma. Anfangs hätten die Kollegen schon merkwürdig geschaut, inzwischen hätten sie sich an ihr extravagantes Outfit gewöhnt. „Ich gehe niemals zum Shoppen in die Stadt, die Kleiderständer sind voll mit Polyester und Plastik und da würde ich eh nichts finden. Die Boutiquen im Belgischen Viertel sind nur schrecklich. Das, was ich trage, nähe ich selbst“, sagt die Neukölnerin und zupft an ihrem Sommerkleid aus puren Leinen, an dem sie drei Tage genäht hat.

Als Vorlage diente ihr ein Foto aus dem Jahre 1905. „Ich nähe auch meine Mieder und den Petticoat. Das komplette Outfit inklusive Hut, Handtasche, Schuhe und Schirm kostet ungefähr 2000 Euro. Leinen ist nicht teuer, auch wenn ich sieben Meter gebraucht habe. Aber ich rechne natürlich meine Handarbeit und den enormen Zeitaufwand in die Summe mit ein.“ Sophia näht ihre Kleider stets originalgetreu nach. Ihr Bekannter Valerio hingegen, auch ein Anhänger von Kleidung aus der Kaiserzeit, brauchte fast drei Jahre, bis er sein Outfit zusammen hatte.

Es ist nicht so einfach, eine Original-Leinenjacke aus den 1910er-Jahren zu finden
Valerio

„Ich stehe auf das Original. Es ist nicht so einfach, eine Original-Leinenjacke und eine Weste aus den 1910er-Jahren zu finden. Die weiße Baumwollhose, die ich gerade trage, stammt aus dem Jahre 1910. Das ist eine absolute Rarität, so etwas findet man vielleicht alle sieben Jahre einmal irgendwo zu kaufen“, sagt der 30-Jährige, der promovierter Philosoph ist und bald als Unternehmensberater arbeiten wird. 

Valerio und Sophia stehen in einem Hauseingang.

Valerio und Sophia vor einem Kölner Altbau, der zu ihrem Kleidungsstil passt.

Im Gegensatz zu Sophia hat Valerio auch seine moderne Seite, nur ein bis zweimal die Woche schlüpft er in die Originalkleider aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Für den täglichen Gebrauch seien seine Anziehsachen viel zu selten, zu empfindlich und einfach zu wertvoll. Die Gefahr, dass abends in der Kneipe mal ein Kölsch oder ein Rotwein über die Hose gekippt würde, die sei ihm viel zu groß.

„Hätte ich unzählige Stücke davon, dann würde ich mich täglich so anziehen. Es ist der einzige Stil, in dem ich mich wohlfühle und ich bekomme auf Kölner Straßen meistens ein positives Feedback“, so der Italiener, der seit 2015 in Köln wohnt. Auch für ihn gilt das Motto Vintage-Stil statt Vintage-Werte. Politisch und gesellschaftlich möchte er die Jahre 1900 bis 1920 keinesfalls zurückhaben, aber die Mode sei damals einfach fantastisch gewesen.

Kölner teilen ihre Vintage-Leidenschaft bei Instagram

Die hohen Einschaltquoten für die Streaming-Serien Peaky Blinders, Babylon Berlin und Der große Gatsby, die alle zwischen 1910 und 1930 spielen, symbolisieren vielleicht, dass auch moderne Menschen die Jahre zu Beginn des letzten Jahrhunderts irgendwie faszinieren. „Es gibt Menschen, die versuchen, nach Anleitungen die Mode zu kopieren, aber die beschäftigen sich damit nur oberflächlich und nicht so gründlich wie wir. Wir ziehen das voll durch, auch im Gesamtauftritt“, sagt Valerio und schwingt seinen Gehstock.

Über Instagram haben Sophia (Instagram: @kessui_cos) und Valerio (@vlr.bn) einen weiteren Gleichgesinnten in Köln gefunden, der zu dieser extravaganten Mode-Leidenschaft unter dem Namen Vintagebursche einen deutschen und einen englischen Youtube-Kanal mit mehr als 50.000 Followern betreibt. Aber zu den Vintage-Liebhabern gehören weitaus mehr. „Wir sind alles Privatleute, maximal 25 Personen, verteilt in ganz Europa. Zweimal im Jahr, im Sommer und im Winter, treffen wir uns. Das ist komplett privat. Wir mieten dann eine viktorianische Villa für eine Woche, und machen es uns gemütlich“, erzählt Sophia, die am liebsten Metal Rock hört.

Ich nähe meine Klamotten selbst, dafür wird niemand ausgebeutet
Sophia

Obwohl ihr Stil und ihre Kleidung altmodisch sind, hat die 27-Jährige eine klare Meinung zum Thema Nachhaltigkeit. „Ich arbeite in der Modebranche und sehe, was da täglich an Ressourcen verbraucht wird, welche Massen an Billigkleidung produziert werden. Ich nähe meine Klamotten selbst, dafür wurde niemand ausgebeutet. Ich werfe meine Kleider nicht nach einer Saison weg, sondern trage sie länger“, betont sie.

Beide, Sophia und Valerio, legen sehr großen Wert darauf, dass sie sich nicht verkleiden. Im Gegenteil, sie ziehen die Sachen an, in denen sie sich wohlfühlen, auch wenn sie in der KVB oder in Cafés neugierig angeschaut werden. „Wir sind Exoten, hoffentlich werden wir bald mehr. Wäre schön, wenn vor den Kölner Fassaden aus dem 19. Jahrhundert auch Leute in stilvoller Kleidung flanieren würden“, wünscht sich Valerio.

Die Fotos für ihren Instagram-Account machen die beiden am liebsten vor den noch wenigen verbliebenen Kölner Fassaden aus dem 19. Jahrhundert.

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