Kölner Polizeidirektor hört aufStammtischgeplapper ist „postmortales Klugscheißen“

Lesezeit 8 Minuten
Volker Lange räumt auf Stinauer

Volker Lange räumt nur noch sein Büro auf - und nicht mehr auf der Straße.

Köln – Hätte er den Schießbefehl geben sollen? Oft hat sich Volker Lange diese Frage gestellt. Am 28. Juli 1995 war er als Kommandoführer mit einer Spezialeinheit zur Deutzer Messe gerufen worden, wo ein 31-jähriger Mann einen Reisebus mit 26 Touristen gekapert und den Fahrer erschossen hatte. Schon zu Beginn des Einsatzes hatte ein SEK-Kollege den Geiselnehmer im Visier und hätte abdrücken können. Lange entschied sich dagegen: zu gefährlich. Am Bus hingen Schnüre, die auf Sprengfallen hindeuteten, und die SEK-Männer wussten nicht, dass die mutmaßlichen Sprengvorrichtungen, die der Täter an sich trug, Attrappen waren und ob ein Komplize im Bus war.

Fast acht Stunden dauerte das Geiseldrama, bei dem ein Beamter einer Polizeistreife und ein Tourist schwer verletzt wurden. Als der Geiselnehmer schließlich eine Touristin erschoss, erteilte der Einsatzleiter das Kommando für den Zugriff. Inzwischen hatte er die Gewissheit, dass es ein Einzeltäter war. Bei der Erstürmung wurde der Mann angeschossen; auf dem Boden liegend, jagte er sich eine Kugel in den Kopf.

Opfer dankt Kölner Polizeidirektor

26 Jahre später sitzt Lange auf der Terrasse seines Hauses im Kölner Süden, in dem er mit seiner Frau lebt, und erzählt davon. Hätte er anders handeln sollen? Bei jeder Selbstbefragung sei er zu dem Ergebnis gekommen: „Ich würde es wieder so machen.“ Lebhaft erinnert er sich, wie ihm eine Touristin, die er aus dem Busfenster hob, nass vor Tränen dankte: „Sie sind der Anker meines Lebens.“ Dazu sagt er: „Ich habe nur meine Aufgabe erfüllt.“ Ärgern kann er sich über Stammtischgeplapper ahnungsloser Leute nach schwierigen Einsätzen mit Toten. „Postmortales Klugscheißen“ nennt er das. „Wer von vorne führt, weiß wenigstes, was Sache ist.“

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Seit 40 Jahren ist er Polizist in Köln. Zwar geht er erst im September in Pension, doch faktisch ist schon jetzt Schluss; 100 Urlaubstage und rund 500 Überstunden haben sich angehäuft. Sein Büro bei der Polizeiinspektion-West in Ehrenfeld, deren Leiter er seit September 2010 ist, hat er bereits ausgeräumt.

volker lange geht stinauer

Sein Büro hat Volker Lange bereits geräumt. 

„188.000 Einwohner in elf Stadtteilen auf 49 Quadratkilometern“, so umreißt der 59-Jährige, der sich Zahlen ausgezeichnet merken kann und als „lebendes Archiv" bezeichnet wird, sein letztes Einsatzgebiet; es sei „bunt, anspruchsvoll, spannend und liebenswert“.

Über seine Arbeit Auskunft zu geben ist er gewohnt. Unzählige Pressegespräche habe er hinter sich gebracht, „bekannt für offene, authentische Lagedarstellungen“. Schließlich sei er stets „mittendrin“ gewesen. Er zitiert Friedrich Engels: „Eine Unze Praxis ist besser als eine Tonne Theorie.“ Die „große Klappe“, die er sich zuschreibt, bringt er mit seinem Vater in Verbindung, der aus Berlin stammte und Dezernent der Stadt Gelsenkirchen war, wo Lange geboren wurde. Das organisatorische Talent habe er von seiner Mutter geerbt, einer Stuttgarterin, die „auf der Leitungsebene großer Hotels“ gearbeitet habe.

Volker Lange: „Ich sollte das SEK nach hinten abschotten“

Bis 1981 absolvierte Lange in Bochum eine Ausbildung bei der Polizei. Nach dem Streifendienst in Nippes holte er das Fachabitur nach. Das Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Köln beendete er 1988 als Diplomverwaltungswirt und Polizeikommissar. Im Sommer, während seines Abschlusspraktikums, erlebte er die spektakuläre Geiselnahme mit, die mit einem Bankraub in Gladbeck begann, durch die halbe Republik bis in die Niederlande führte und auf der A3 bei Bad Honnef mit dem Zugriff des SEK der Kölner Polizei endete; drei Menschen kamen ums Leben. „Ich sollte das SEK nach hinten abschotten“, sagt Lange. Im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Vorgängen sagte er als Zeuge aus.

Zwei Jahre war Lange Leiter der Zivilfahndung in Sülz, bevor er Kommandoführer für Spezialeinheiten wurde. Die Geiselnahme in Deutz ist bei weitem nicht die einzige, von der er berichten kann. Im August 1993 hielt ein Ägypter eine Boeing 737 gut elf Stunden in seiner Gewalt und forderte die Freilassung von Scheich Abd ar-Rahman, der als Drahtzieher des Bombenanschlags auf das World Trade Center galt. In Düsseldorf stürmte ein GSG9-Kommando das Flugzeug ohne Blutvergießen. Er habe vom Tower aus den Verhandlungen mit dem Entführer beigewohnt, sagt Lange, und „die Ohren aufgesperrt“, um an taktisch wichtige Informationen für den Zugriff zu kommen.

Im Mai 1995 nahmen zwei Schwerverbrecher in der JVA Celle einen Aufseher als Geisel, brachen aus und fuhren mit ihm in einem Sportwagen fast zwei Tage durch Niedersachsen; die Flucht endete, als Spezialkräfte der Polizei den Wagen in Osnabrück rammten. Auch hier war Lange „mittendrin“. Nach der Befreiung habe die Geisel besorgt gefragt: „Werden die beiden jetzt getötet?“ Offenbar habe der Mann ein Stockholm-Syndrom entwickelt, also Sympathie mit den Tätern, sagt Lange. Seine Antwort gibt er als Beschreibung der polizeilichen Aufgabe wieder: „Wir wenden Gewalt an, bis die Leute gefesselt sind. Dann führen wir sie der Justiz zu.“

1998 war Lange im Rahmen eines EU-Austauschprogramms 14 Tage als „Interventionsmanager“ bei der „Special Detective Unit“ Irlands und erlebte in Dublin mit, wie ein Bombenanschlag der Terrororganisation IRA verhindert wurde. Mit einem Auto, in dem rund 450 Kilogramm Sprengstoff versteckt waren, wollte ein Mann auf eine Fähre gelangen. Der Einsatzleiter rammte den Wagen, und Lange, der neben ihm gesessen hatte, half bei der Festnahme. „So konnten die Friedensverhandlungen, die zum Karfreitagsabkommen führten, erfolgreich zu Ende gebracht werden“, sagt der Polizeidirektor mit Genugtuung.

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1999 bis 2001 studierte er an der Polizeiakademie in Münster-Hiltrup und qualifizierte sich für den höheren Polizeivollzugsdienst: „Jetzt trug ich goldene Sterne.“ Sechs Jahre lang war er wiederum in Köln Führungsstellenleiter der Organisationseinheit Bereitschaftspolizei/Polizeisonderdienste; rund 700 Beamte hatte er unter sich. Zu schützen waren beispielsweise der Köln-Marathon, die „Kölner Lichter“, Radsportereignisse wie „Rund um Köln“ und Staatsbesuche. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz habe er einmal dafür gesorgt, dass US-Verteidigungsmister Donald Rumsfeld ungestört „von A nach B kam“, erzählt er. Ebenso hatte er mit etlichen Demonstrationen zu tun, etwa am 1. Mai in Berlin oder bei Castor-Transporten ins Atommülllager Gorleben. Das Thema des Protests spiele aus professioneller Sicht keine Rolle, betont er. Aufgabe der Polizei sei es, „die Versammlungsfreiheit zu garantieren".

„Der Einsturz hat mich erschüttert“

Um die Sicherung von Massenereignissen ging es – neben vielem anderen – auch in der Zeit von 2007 bis 2010, als Lange in der Polizeiinspektion Mitte war. Die Bandbreite reichte von der Feier des Christopher Street Day über den Straßenkarneval bis zu Jubelfeiern und zum Public Viewing bei internationalen Fußball-Meisterschaften. Im Rahmen der Ordnungspartnerschaft „OPARI“ war Lange maßgeblich daran beteiligt, Kontrollen im Nachtleben auf den Ringen und in der Altstadt zu organisieren. Nach dem Einsturz des Stadtarchivs am 3. März 2009 war er 26 Stunden vor Ort und trug Mitverantwortung dafür, das Chaos zu bewältigen; danach war er Teil des Krisenstabs. „Der Einsturz hat mich erschüttert“, sagt er.

Als Leiter der Polizeiinspektion Ehrenfeld war er für das 50.0000 Zuschauer fassende Rhein-Energie-Stadion zuständig und koordinierte häufig Einsätze bei Spielen des 1. FC Köln. Mit den Ultras, die sich ihrem Verein mit Leib und Seele verschrieben haben, suchte er das Gespräch. „Die ganz überwiegende Zahl der Fußballfans ist sportbegeistert und polizeilich völlig unauffällig“, schreibt Lange in einem Beitrag für das Deutsche Polizeiblatt. Doch auch gewaltbereite Ultras, Hooligans und „andere so genannte event-orientierte Krawallmacher“ kämen in die Stadien. Daher habe er „den Spaß am Fußball langfristig verloren“, sagt er.

Volker Lange Fußball

Rauchbomben im Rhein-Energie-Stadion

„Schläger, Störer und Straftäter“ beanspruchten zu viel Aufmerksamkeit. Extrem aufgeheizt war die Stimmung, als am 5. Mai 2012 beim Spiel gegen Bayern München der Abstieg des FC bevorstand.

Pyrotechnik im Stadion Volker Lange

Volker Lange hat den Spaß an Fußball verloren.

Besucher zündeten Rauchbomben, brannten Pyrotechnik ab, einige kletterten über Absperrungen und stürmten aufs Feld. Die Polizei musste massiv eingreifen. Die übrigen Zuschauer hätten mit Beifall und Gesang gedankt, erinnert sich Lange zufrieden.

„Ich bin jeden Tag gerne zur Arbeit gefahren“, sagt er. „In keiner Polizeidienstvorschrift steht, dass der Dienst keinen Spaß machen darf! Das habe ich in 43 Jahren zumindest nicht gefunden.“ Sechs Mal habe er von der Schusswaffe Gebrauch machen müssen, drei Mal, um aggressive Hunde auszuschalten. Niemals habe er mit einer Kugel einen Menschen getroffen. Nun will der Vater von zwei erwachsenen Töchtern zur Ruhe kommen, Erinnerungen aufschreiben und ausgiebig Rad und Motorrad fahren; schon in 26 Ländern war er mit dem Krad unterwegs. Hinzu kommt der Wunsch, „nach der Corona-Krise im Freundes- und Kollegenkreis eine ordentliche analoge Party zu feiern“.

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