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Angstfrei, schlagfertig, lautMiet-Aktivist Kalle Gerigk wäre fast für die „Linken“ in Berlin gelandet

Lesezeit 8 Minuten
09.05.2025, Köln: Kalle Gerik wohnt im Agnesviertel. Foto: Arton Krasniqi

Es hat nur ein Wort gefehlt, und der 65-Jährige wäre im Bundestag gelandet. Jetzt hat der Kölner Miet-Aktivist Kalle Gerigk neue Pläne.

Es hat nur ein Wort gefehlt, und der 65-Jährige wäre im Bundestag gelandet. Jetzt hat der Kölner Miet-Aktivist Kalle Gerigk neue Pläne. 

Es hat nur ein Ja gefehlt, und Kalle Gerigk säße jetzt im Bundestag. Er wäre dann für einen Kapitalismuskritiker doch recht kapitalistisch geworden, Chauffeur (Anspruch auf den Fahrdienst des Bundestags), Bahncard 100, üppiges Gehalt: 11.227 Euro Abgeordnetendiät plus 5349 Euro steuerfreie Kostenpauschale im Monat. Dazu ein eigenes Büro, Mitarbeitende, Geschäftsessen, Termine, viele Verpflichtungen – ein bisschen paradox für einen anarchischen Typen, der Immobilienfirmen gern enteignen lassen würde und in der Fußgängerzone gegen Spekulanten rappt.

Es ist anders gekommen – sein Kumpel Günter Wallraff hat Gerigk deswegen kürzlich beglückwünscht. Als Aktivist in Köln, hat Wallraff gesagt, sei er doch viel wertvoller als im Bundestag. Hier könne er Menschen helfen, „in Berlin könntest Du zerrieben werden“.

„Ich hätte das mit Berlin schon sehr, sehr gern gemacht“, sagt der 65-Jährige an einem staubtrockenen Mai-Tag auf der Terrasse der Alten Feuerwache. „Aber ich musste zu meinem Wort stehen, deswegen ist es nicht dazu gekommen.“ Gerigk, der bundesweit bekannt wurde, als er sich ab dem Jahr 2008 gegen seine Zwangsräumung im Agnesviertel wehrte, war von den Linken gefragt worden, für den Bundestag zu kandidieren – für den Landtag hatte er das schon zweimal erfolglos getan.

„Mache ich gern“, habe er gesagt, „aber ich möchte mindestens Listenplatz sechs in NRW – sonst habe ich ja gar keine Chance.“ Als er auf dem Landesparteitag in einer Stichwahl um Platz sechs knapp unterlag, zog er seine Kandidatur für die nächsten Listenplätze zurück. „Ich hätte Platz acht, neun oder zehn wohl ziemlich sicher bekommen, denn es gab sehr viel Zustimmung, ich hätte nur noch Ja sagen müssen“, sagt er, „aber ich hatte vorher angekündigt, dass ich einen schlechteren Listenplatz nicht will, und da musste ich bei meinem Wort bleiben.“ 13 Linken-Vertreter aus NRW zogen schließlich in den Bundestag ein. 

Satirische Demonstration gegen Superreiche in Marienburg

Gerigk, der mit dem Slogan „Kalle für alle!“ antrat und vor allem Wohnraum für alle forderte, bekam im Kölner Wahlkreis 92, den Sanae Abdi (SPD) knapp gegen Serap Güler (CDU) gewann, 11,1 Prozent der Erststimmen, in Gerigks Heimatviertel Kalk siegte die Linke bei den Zweitstimmen mit 30,3 Prozent klar vor SPD und Grünen (17,7 und 17,1 Prozent). Die junge Linken-Vorsitzende Heidi Reichinnek hatte den Linken mit ihrer flinken Zunge, bunten Tätowierungen und eingängigen Tiktok-Einlagen neues Leben eingehaucht. Als Friedrich Merz dann im Bundestag ankündigte, eine schärfere Migrationspolitik zur Not auch mit Stimmen der AfD durchdrücken zu wollen und Reichinnek zu einer imposanten Rede gegen Bündnisse mit Rechtsextremen ausholte, erwachte eine totgeglaubte Partei zum Leben und holte bei der Bundestagswahl 8,8 Prozent.

Kalle („Steht auch so im Pass“) Gerigk ist kein Parteimitglied – „bewusst, weil ich als Aktivist unterwegs bin und das gegen mich verwendet werden könnte“, sagt er. Aber er passt gut zur Renaissance der Linken. Laut, lebenslustig, offensiv, ein bisschen populistisch. Mozarts Vogelfänger aus der Zauberflöte dichtete er in „Taubenfänger“ um und demonstrierte singend gegen den Leerstand in einem Haus in bester Lage, das seit Jahren nur noch von Tauben bewohnt wird. Bei einer Demonstration mit dem Bündnis „Recht auf Stadt“ in Marienburg beschwerte er sich, dass die teuerste Kölner Wohnung im Kranhaus nur acht Millionen Euro koste, in London und New York aber Wohnungen für 170 Millionen Pfund und 200 Millionen Euro zu kaufen seien. „Es ist ein Skandal, dass die wirklich Reichen in Köln bisher kein Zuhause von Weltniveau finden konnten. Das wollen wir ändern!“, rief Gerigk bei der satirischen Aktion. 

Keinen Spaß verstand die SPD, als Gerigk sich für die Aktion „Arbeitsunrecht“ als Martin Schulz verkleidete und während dessen Zeit als SPD-Vorsitzender öffentlich verkündete, die Hartz-IV-Gesetze abschaffen zu wollen. Die Partei stellte Strafanzeige, die dann verpuffte.

Als die 94-jährige Paula Hilsemer an Heiligabend 2024 eine Räumungsklage wegen Eigenbedarfs erhielt, rief sie Kalle Gerigk an, der vorbeikam und den Widerstand organisierte. Zahlreiche Medien berichteten über den Fall, die Eigentümerin zog die Klage zurück, Gerigk nutzte die Öffentlichkeit für eine Petition, die fordert, Eigenbedarfsklagen bei Mieterinnen und Mietern über 65 Jahren grundsätzlich zu verbieten. Binnen weniger Tage unterschrieben mehr als 50.000 Menschen.

Kalle Gerigk ist – ähnlich wie Reichinnek – angstfrei, schlagfertig, und das Gegenteil von leise. Auf der Terrasse der Alten Feuerwache redet er beim Cappuccino so laut, als stünde er ohne Mikro auf einer Kundgebung. Nach dem Gespräch weiß jeder an den Nebentischen, der es wollte oder nicht wollte, dass er sich gut vorstellen kann, für den nächsten Landtag zu kandidieren, dass er Elektroinstallateur ist und Bürokaufmann und warum die großen Immobilienfirmen wie die Vonovia oder Deutsche Wohnen enteignet werden sollten aus seiner Sicht. Die Konzerne ließen Wohnungen verkommen und Bauland brach liegen, weil die Rendite zu niedrig sei. „Mit diesen Unternehmen wird die Wohnungsnot noch größer“, meint Gerigk. „Früher wäre man als Kommunist abgestempelt worden, wenn man die Enteignung dieser Konzerne gefordert hätte. Heute ist das ganz normal – weil der Frust über die Wohnungsnot so groß ist.“

08.10.2022
Köln: 
Demo am Rudolfplatz: 
Recht auf Stadt zum bundesweiten Aktionstag Mietenstop
Kalle Gerigk singt das Lied: Em unserem Veedel
Foto:Martina Goyert

Regelmäßig demonstriert Gerigk für bezahlbaren Wohnraum, hier am bundesweiten Aktionstag Mietenstopp im Jahr 2022

Gerigk weiß, dass solche Enteignungsforderungen ähnlich populistisch sind wie Wahlplakate, auf denen die Linken schnodderten, Olaf Scholz habe „bei der Rente nicht geliefert“ und müsse deswegen abgewählt werden. Nicht nur bei der Wohnungsnot setzt die Partei auf hemmungslose Offensive. „Opposition ist schon gut für die Linke, ich weiß nicht, ob Regierungsverantwortung so ihr Ding wäre“, sagt Gerigk.

Weil die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden und die SPD längst ihren Status als Partei der sozialen Gerechtigkeit verloren habe, „könnte die Linke weiter an Bedeutung gewinnen“, glaubt er. Radikale Reichensteuer, Wohnungskonzerne enteignen, mehr Rente, Kinder- und Bürgergeld erhöhen, weniger Geld für Rüstung – das klingt für viele Menschen verlockend. Vor einem Jahr hatte der Kölner Kreisverband der Linken 850 Mitglieder. Anfang des Jahres waren es 1100 – heute sind es 3000.

Viele Leute haben nicht mehr genug zum Leben. Sie wünschen sich eine klare Haltung, was Umverteilung von Reichtum angeht
Kalle Gerigk

„Viele Leute haben nicht mehr genug zum Leben“, sagt Gerigk, der jeden Samstag zu Supermärkten fährt, Lebensmittel rettet und an Obdachlose verteilt. „Sie wünschen sich eine klare Haltung, was Umverteilung von Reichtum angeht.“  Zu seiner eigenen Haltung ist Gerigk als Jugendlicher gekommen. Sein Vater arbeitete als Zugführer bei der Bundesbahn und bekam Auslandsfahrten zum halben Preis. Kalle fuhr nach Amsterdam, lernte Hausbesetzer kennen „und eine völlig neue, spannende Art des Übernachtens“. Den nächsten Sommerurlaub verbrachte er in Amsterdam in einer besetzten Villa mit großem Flügel im Wohnzimmer und großem Garten. Später machte er bei der Besetzung des Stollwercks mit, lernte Klaus den Geiger, Wolfgang Niedecken, den Kabarettisten Richard Rogler „und viele nette Mädels“ kennen. „Ehrlicherweise muss ich sagen, dass die Mädels wichtiger waren als die Hausbesetzungen. Darf man das so sagen?“

In den späten 70er Jahren wählte Gerigk Willy Brandt, später zogen ihn die Grünen mit ihrer Umwelt und Anti-Atomkraft-Politik an. Ein politischer Mensch war er immer – ein Rebell eher nicht. Elektroinstallateur, Bürokaufmann, Angestellter beim Wohnungsamt der Stadt, später beim Amt für Weiterbildung und inzwischen beim Amt für Statistik. Kein Lebenslauf, der auffällt.

Kalle Gerigk steht vor der Zwangsräumung seiner Wohnung in der Fontanestraße und erhält viel Unterstützung von seinen Nachbarn.
20140211
copyright : Michael Bause
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Protest gegen die Zwangsräumung von Kalle Gerigk 2014 in der Fontanestraße

Zur Symbolfigur ist Kalle Gerigk aufgestiegen, als er sich gegen eine Eigenbedarfsklage widersetzte und Jahre später öffentlich darüber sprach. Sechs Jahre dauerte der Rechtsstreit und Protest. Wenige Monate, bevor das Gericht endgültig entschied, dass die Klage des Vermieters rechtens war, hatte Gerigk auf einer Veranstaltung über die Zukunft der Stadt von seinem Fall erzählt. Man fragte ihn, ob über den Fall berichtet werden dürfe – er stimmte zu. In diesem Moment begann die Kampagne „Alle für Kalle“, „die meinem Leben eine entscheidende Wendung gegeben hat“.

Nach wenigen Wochen war halb Köln mit dem Slogan „Kalle bleibt“ beklebt. In Berlin skandierten Autonome „Einer für alle, alle für Kalle“. Sogar in La Libertad in El Salvador hatte jemand auf eine Mauer „Kalle bleibt“ gesprüht. Gerigk, der laut spricht, aber zurückgezogen lebte, wurde jetzt von „Spiegel“, „Zeit“ und internationalen Medien interviewt. Sein Fall steht bis heute für die Verdrängung alteingesessener Mieter aus den Innenstädten, in denen Hausbesitzer mit Luxussanierungen Profite erzielen wollen. Gerigk wurde zur Galionsfigur von Bewegungen wie „Wohnraum für alle“ oder „Recht auf Stadt“. „Gewollt habe ich das eigentlich nicht, aber es ist in Ordnung, dass es so gekommen ist, ich habe viel Solidarität erfahren und werde seitdem ganz anders gehört“, sagt er. „Von der Solidarität will ich etwas zurückgeben.“ Aus dem Slogan „Alle für Kalle“ hat er im Wahlkampf deshalb „Kalle für alle“ gemacht.

Wenn Menschen in Köln von Zwangsräumung bedroht sind und nicht mehr weiter wissen, rufen viele von ihnen Kalle Gerigk an. Der weiß, wie man Opposition organisiert. Er würde das gern auch nochmal als Berufspolitiker machen. „Ich kann mir gut vorstellen, 2027 für den Landtag zu kandidieren, es haben mich auch schon einige gefragt“, sagt er. So laut, dass es auf der Terrasse der Alten Feuerwache jeder hören kann.