Medizinethiker über Corona„Eine Pandemie war statistisch gesehen überfällig“

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Die Hohe Straße in Köln Ende Oktober 2020.

  • Karl-Heinz Wehkamp (72) gilt als führender deutscher Medizinethiker.
  • Er sagt, dass im Public-Health-Ethik-Bereich seit vielen Jahren klar sei, dass eine Pandemie statistisch gesehen überfällig war.
  • Im Interview spricht er über das trügerische Sicherheitsbewusstsein der Gesellschaft und darüber, wie die Politik die öffentlichen Gesundheitssysteme hat verkümmern lassen.

Köln/Bremen – Herr Professor Wehkamp, finden Sie es nachvollziehbar, dass sich viele Menschen mit schweren Erkrankungen von der Impf-Priorisierung der Bundesregierung vergessen fühlen? Karl-Heinz Wehkamp: Ja, nachvollziehbar ist das, weil fast jeder Mensch an seinem Leben hängt und die bürokratischen Priorisierungslisten etwas Grobes, Holzschnittartiges haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass man da als Individuum übersehen wird, ist leider sehr groß. Die Behörden haben es schwer – sie sind weder inhaltlich noch technisch oder personell auf Krisen wie die aktuelle vorbereitet.

Ethisch ist es keine Frage, dass Menschen mit besonderen Vorerkrankungen früher geimpft werden müssten, als es die Empfehlungen vorsehen, logistisch ist es schwer umsetzbar. In Köln wird jetzt eine Kommission eingesetzt, die Impfempfehlungen bewertet und entscheidet, wer übrig gebliebene Impfdosen erhält. Halten Sie solche Gremien für wünschenswert?

Grundsätzlich ja. Aber die Frage nach der Umsetzung ist abhängig von den Ressourcen vor Ort. Kommissionen sind besser, als wenn eine Person entscheiden würde – so sinkt die Gefahr von Bevorzugung oder Bestechung. Kommissionen sind aber aufwändig, es ist nicht leicht, Übereinkunft zu erzielen. Es werden wohl viele Menschen so eine Kommission anrufen. Ob diese Gremien in der aktuellen Lage auch kompetent genug besetzt werden können und ausreichend Zeit haben, um passgenaue Beurteilungen abwägen zu können, halte ich jedoch für fraglich. Es müssen schließlich Erkrankungen und die mit ihnen verbundenen Gefahren und Leiden bezogen auf die jeweiligen Personen gewichtet und miteinander verglichen werden. Weil dies kaum objektiv möglich ist sollte man sich aber auch klar machen, dass auch die beste Kommission kein unangreifbares Urteil wird abgeben können. Deshalb hängt jedes Ergebnis auch von der Zusammensetzung einer solchen Kommission ab, und damit von jenen, die über die Berufung entscheiden.

„Man hat die Gesundheitsdienste verkümmern lassen“

War die Gesellschaft zu wenig vorbereitet auf eine Pandemie mit so epischem Ausmaß?

Definitiv. In Politik, Medien, Gesellschaft und auch an den Hochschulen war das Thema „Public Health“ samt seiner ethischen Herausforderungen wenig präsent. Dies obwohl in Fachkreisen und im Rahmen der WHO seit vielen Jahren darauf hingewiesen wurde, dass wir mit einer solchen Pandemie rechnen müssen, hat man die Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitsdienstes in den vergangenen Jahren stark verkümmern lassen. Es gab Warnschüsse – Vogelgrippe, SARS, Schweinegrippe, Ebola: alle Epidemien hätten sich zu Pandemien ausweiten können. Es wurde oft vor der Gefahr weltweiter Pandemien gewarnt, diese Warnungen wurden aber nicht wirklich ernst genommen.

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Handeln wir immer erst, wenn eine Katastrophe eintritt?

Oft ist das so. Aus Public Health Sicht hätte die aktuelle Situation durch mehr Voraussicht zwar nicht gänzlich vermieden, aber doch zumindest deutlich abgemildert werden können.

Was wäre dafür nötig gewesen?

Man hätte die Gesundheitsämter personell, qualifikatorisch und finanziell deutlich besser ausstatten und attraktiver machen müssen. Man hätte die Ausbildung der Mediziner stärken müssen, gerade, was den Bereich Gesundheitswissenschaft angeht. Man hätte kreative Kooperationsmodelle zwischen den Allgemeinärzten und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst entwickeln können. Die Politik hat in den vergangenen 20 Jahren sehr einseitig auf das Konzept der Gesundheitswirtschaft gesetzt und gemeint, so einen stabilen Wirtschafts- und Wachstumszweig zu fördern. So wurden die privaten Betreiber gestärkt, die öffentlichen Dienste hat man verkümmern lassen. Hier hat die Politik langfristig dazu beigetragen, dass wir Kapazitäts- und Qualitätsprobleme bekommen haben.

„Gefühl der Sicherheit ist trügerisch“

Ist die Politik ihrer Verantwortung für die Gesundheit der Gesellschaft in der Krise nicht gerecht geworden?

Das Krisenmanagement finde ich im Großen und Ganzen in Ordnung. Wenn man Verantwortung einfordert, sehe ich diese aktuell darin, dass man die Bevölkerung besser hätte vorbereiten können und sollen. Das ist nicht nur Aufgabe der Politik, sondern auch der Medien und auch der Medizin. Seuchen und Krankheiten lassen sich eben nicht vollständig beherrschen, die menschliche Sterblichkeit wird bei 100 Prozent bleiben, das Gefühl totaler Sicherheit ist trügerisch. Staat und Medizin können ohne Einbeziehung der gesamten Bevölkerung nicht alleine Pandemien bewältigen. Hygiene und Gesundheitsvorsorge betreffen uns alle, und trotzdem können auch heute Millionen Menschen durch Viren und Bakterien schwer erkranken und sterben. Es gibt ein Sicherheitsbewusstsein in der Bevölkerung, das den realen Gefahren nicht angemessen ist.

Die Krise hat sich also seit Jahren angebahnt und die Gesellschaften wollten es nicht wahr haben?

Zur Person

Karl-Heinz Wehkamp (72) war Professor für Public Health in Hamburg und Bremen. Er ist Facharzt für Frauenheilkunde und Psychotherapie sowie Diplom-Soziologe und Philosoph. Er arbeitet als Ethikberater an Krankenhäusern und gilt als ein führender Experte im Bereich Ethik der Medizin und des Gesundheitswesens.

Im Public-Health-Ethik-Bereich ist es seit viel Jahren klar, dass eine Pandemie statistisch gesehen überfällig war. Es ist bekannt, dass durch den Flug-, Handels und Reiseverkehr eine extrem schnelle Ausbreitung über den gesamten Erdball zu erwarten ist. Es ist bekannt, dass die diversen ökologischen Gefahren das Potenzial einer weltweiten Bedrohung verstärken. AIDS hätte eine Lehre sein können. Ebola konnte gerade noch auf Teile Afrikas eingegrenzt werden. Die Tuberkulose ist nach wie vor ein großes Problem. Aber wir hatten überwiegend auf Krankheiten und ihre Behandlung geschaut, während der Blick auf die Gesundheit der Weltbevölkerung getrübt war und immer noch ist. Was wir alle nicht gern wahrhaben wollen: Jede Seuche und erst recht eine Pandemie erzwingt starke Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens. Es kommt nicht allein zu einer Zunahme schwerer und schwerster Erkrankungen und Todesfälle, sondern auch zu wirtschaftlichen, psychischen und sozialen Schäden. Grausam an diesem Szenario ist, dass wir uns der Fragte stellen müssen, wie viel Opfer wir bereit sind als Gesellschaft zu akzeptieren. Wir müssen Todesopfer durch die Erkrankung abwägen gegen die Opfer durch die Maßnahmen ihrer Vorbeugung und Bekämpfung. Wir müssen die gesellschaftliche Reproduktion sichern und dafür mit Menschenleben kalkulieren, ob wir wollen oder nicht. Der eigentliche Streitpunkt der Pandemie ist also ein ethischer, kein virologischer.

Und ein medizinischer, wenn es um die Vorbereitung auf eine solche Krise geht, und um die Bewältigung.

Aus dieser Sicht ist fast jeder Punkt, über den gerade diskutiert wird, altbekannt. Konzepte über Prioritäten existieren seit Jahrzehnten. Es war auch von Anfang an klar, dass keine Pharmafirma und kein Staat in einer Pandemie auf einen Schlag Impfstoffe für alle zur Verfügung stellen kann. Die Global-Health-Ethik diskutiert schon lange über die Frage, wie man wirtschaftliche Anreize für die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen schaffen kann, um zu verhindern, dass nur Marktpreise die Verteilung auf dem Globus regulieren. Schaut man auf die hiesige Politik und die Medien so gewinnt man den Eindruck, dass diese Themen völlig neu sind.

„Global Player werden verdächtigt“

In der Pandemie gewinnt man den Eindruck, dass sich jeder Staat auf sich konzentriert. Deutschland hat eine vergleichsweise geringe Impfquote. Woran liegt das? Und: Ist so etwas wie globale Impfgerechtigkeit unerreichbar?

Hier geht es um Fragen einer idealen Weltgesellschaft, von der wir weit entfernt sind, die wir offensichtlich brauchen und die wir zugleich fürchten. Global Player haben, die sich Fragen einer Impfung der Weltbevölkerung gestellt und eindringlich vor Pandemien wie dieser gewarnt haben, ich denke an die WHO, den Global Funds oder auch Leute wie Bill Gates, dann werden diese eher verdächtigt, die Welt beherrschen und ausbeuten zu wollen. Was Deutschland angeht: Dass hier der erste Impfstoff entwickelt wurde, die Quote aber niedrig ist, wundert mich auch etwas. Deutschland geht es da mehr als anderen Staaten um das Gleichheitsideal – das hat vermutlich auch mit dem Nazi-Trauma des Landes zu tun.

Wie kommt es, dass schon vor Jahren vor einer Corona-Pandemie gewarnt wurde, die Welt aber trotzdem seit fast einem Jahr darnieder liegt?

Das Public-Health-Paradox besteht darin, dass mit dem Erfolg von Impfungen viele glauben, dass eine Vorbereitung auf Pandemien nicht mehr nötig ist. Die Menschen wähnen sich in Sicherheit. Bei der Schweinegrippe musste man Millionen Impfdosen vernichten, weil man sie nicht gebraucht hat – man hat den Politikern dann unterstellt, korrupte Geschäfte mit der Industrie gemacht und die Gefahr überschätzt zu haben. Ich wünsche mir, dass gerade in Pandemien niemand mit der Haltung auftritt, die Weisheit gepachtet zu haben. Ich finde es unfair, wenn jetzt einige Politiker der Regierung vorwerfen, nicht rechtzeitig Impfstoff bestellt zu haben. Man wusste ja lange nicht, welcher Impfstoff zuerst kommt und wirkt.

Hätte es einer parlamentarischen Debatte bedurft, bevor die Impfprioritäten eingestuft werden?

Ehrlich gesagt: Nein. Ich glaube, dass so eine Debatte ewig gedauert hätte – wofür keine Zeit war. Man hat schon bei der Sterbehilfe gesehen, dass es nicht möglich ist, gesetzliche Regelungen für den Einsatz medizinscher Mittel zu schaffen. Die nötige Feinheit bei der Behandlung sehr individueller medizinischer Fragestellungen und Probleme kann wohl nicht parlamentarisch gelöst werden.

„Wir bevorzugen die Alten"

Der Gesetzgeber sieht vor, dass Einzelfälle – zum Beispiel schwer Vorerkrankte – nach einer Prüfung früher als vorgesehen geimpft werden können. Eigentlich sollte das keine Frage sein…

Diskutiert wird das in jeder Kultur anders. Die Möglichkeit, Einzelfälle möglichst schnell zu behandeln, entspricht der im deutschen Kulturkreis mit Ausnahme der Nazizeit bevorzugten ethischen Grundhaltung, dass man Schwerkranke bevorzugt schützt. Und das auch und sogar dann, wenn diese Menschen eine geringere Lebenserwartung haben. Wir bevorzugen die Alten, obwohl wir wissen, dass bald nach der Impfung einige von ihnen sterben. Das bedeutet, dass wir keine Triage vornehmen – die würde bedeuten, dass wir die Interessen der Gemeinschaft bevorzugen und nicht das Individuum. Die individuelle Spezifizierung lehnt auch den gesundheitsökonomischen Weg ab – dann wäre das Verhältnis von Kosten und Nutzen am besten. Ich finde die Möglichkeit von individueller Priorisierung sinnvoll – sie ist mit einer Prinzipienethik vereinbar – im Gegensatz zu einer Nutzenethik.

Gibt es Beispiele, wo die Prinzipienethik nicht weiterhilft?

Nehmen wir den Fall, dass in Deutschland nie ein Flugzeug abgeschossen werden dürfte – auch dann nicht, wenn es entführt wurde und Tausende anderer Menschenleben gefährdet. Andere Staaten handelten an dieser Stelle anders. Dort wird gesagt: Der Schutz der größten Zahl ist wichtiger. Am wichtigsten ist es, über solche Abwägungen sachliche Diskurse zu führen.

„Es braucht mehr ethische Kompetenz“

Man konnte in der Pandemie den Eindruck gewinnen, dass die Abwägungsdebatten öffentlich sehr vorsichtig oder gar nicht geführt werden. Entweder, es wurde versucht, ökonomische oder soziale Folgen populistisch auszuschlachten – oder die Öffentlichkeit schwieg lieber. Woran liegt das?

Es gibt dafür leider keine hinreichende Kultur. Ich würde mir wünschen, dass in der Bildung mehr Wert auf Kompetenz in ethischen Fragen gelegt würde. Das würde mehr Verständnis für verschiedene ethische Positionen schaffen. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Ethik in Deutschland eine Domäne älterer Herrschaften geworden ist, die ökonomisch und sozial kaum unter der Krise zu leiden haben. Es gibt in diesem Bereich leider zu wenig jüngere Frauen mit Kindern, und eine Überrepräsentanz religiöser Gruppen. Ändern kann sich das nur langfristig – indem wir lernen, tolerant und unter Anerkennung gleicher Rederechte zu debattieren.

Verfestigt die Pandemie hierarchische Strukturen – und benachteiligt die junge Generation mit ihren berechtigten Forderungen nach einer nachhaltigeren Klimapolitik zum Beispiel?

Das sehe ich ähnlich. Ich kann nur hoffen und empfehlen, dass man nicht nur auf die vermeintlich älteren Wählerstimmen guckt, sondern an die Zukunft unserer Welt denkt und die junge Generation stärker einbezieht. Man sollte akademische Grade oder Ethikräte nicht zum Maßstab nehmen, um Menschen in Talkshows einzuladen.

Wann ist der Punkt erreicht, dass die Vermeidung von Toten abgewogen werden muss mit ökonomischen, psychologischen und sozialen Schäden?

Reichere Staaten wie Deutschland können die Krise ökonomisch und sozial noch einigermaßen mildern und Triagemodelle vermeiden. Aber ein solcher Punkt lässt sich auch nicht wissenschaftlich bestimmen oder gar errechnen, auch nicht durch Big Data. Wer kann den Schaden von ausgefallenen Schulstunden, Stress durch Homeoffice und -schooling, den Wegfall sozialer Kontakte und Sport, die Minderung der Lebensqualität durch den Lockdown berechnen? Wer will die langfristigen globalen Folgen für die Weltwirtschaft, die Migration, die Ökologie berechnen? Es bedarf immer wieder ethischer Diskurse, wissensbasiert, öffentlich, fair, gleichberechtigt und tolerant. Das betrifft uns alle, nicht nur die Politik.

Es ist also unausweichlich, dass jeder Staat und jede Stadt erstmal an sich denkt?

Ja, das ist in der Krise wohl so. Wir haben heute keine Weltgesellschaft, unsere Moral ist nicht frei von nationalen Vorbehalten. Und doch zeigt sich gerade in der Krise sehr deutlich, dass wir global zusammenarbeiten müssen, um die Welt zu erhalten.

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