Buch über „neue Obdachlosigkeit“Mehr Frauen und Alte betroffen – Günter Wallraff fordert Politikwechsel

Lesezeit 4 Minuten
Linda Rennings, Günther Wallraff und Richard Brox bei der Buchvorstellung „Die Neue Obdachlosigkeit“, Rennings und Wallraff haben ein Buch in der Hand.

Linda Rennings, Günther Wallraff und Richard Brox bei der Buchvorstellung im Erik-Wickberg Haus der Heilsarmee in Ehrenfeld.

Das Buch „Deutschland ohne Dach“ offenbart Abgründe des deutschen Sozialstaates.

„Kein Dach über dem Leben“, das erste Buch des lange Zeit Obdachlosen Richard Brox, war vor sechs Jahren unerwartet zum Bestseller geworden. Jetzt hat Brox, der für einige Jahre in Köln gelebt und Undercover-Reporter Günter Wallraff bei seinen Recherchen in der Obdachlosenszene geholfen hat, ein zweites Buch herausgebracht: „Deutschland ohne Dach – Die neue Obdachlosigkeit“ heißt es und versammelt die sehr unterschiedlichen Biografien von Menschen auf der Straße.

„Eine besondere Leistung dieses Buches ist es, zu zeigen, dass sozialer Stand und Bildung keinen umfassenden Schutz bieten – jeden kann Obdachlosigkeit treffen“, sagte Günter Wallraff bei der Präsentation des Buchs im Erik-Wickberg-Haus der Heilsarmee in Köln-Ehrenfeld. „600.000 Menschen waren im vergangenen Jahr in Deutschland wohnungslos – 58 Prozent mehr als im Jahr davor. Das passt zur Lage der Nation, in der die Reichen immer reicher werden und die Armen immer zahlreicher.“

Heute ist die Szene viel diverser. Es sind mehr Frauen betroffen, mehr ältere und alte Menschen, mehr Migranten, Menschen aus allen Schichten
Richard Brox, Herausgeber des Buchs „Die neue Obdachlosigkeit“

Früher seien vor allem Männer von Obdachlosigkeit betroffen gewesen, sagte Richard Brox. „Heute ist die Szene viel diverser. Es sind mehr Frauen betroffen, mehr ältere und alte Menschen, mehr Migranten, Menschen aus allen Schichten.“

Das Buch erzählt zum Beispiel die Geschichte von Markus Dettmann, der als Fliesenunternehmer 30 Beschäftigte hatte, einen Mercedes 500 SL fuhr, Fernreisen liebte – und abstürzte, als seine große Liebe unerwartet starb. Oder jene des Mannes, der sich Wulf von Thüringen nennt, Biologie- und Chemielehrer von Beruf. Nach einer seelischen Erkrankung ist er ohne Krankenversicherung und macht in Berlin Platte. Oder Linda Rennings, Ur-Kölnerin, die Fleischerfachverkäuferin lernte, lange arbeitete, schwer krank wurde, ihre Wohnung verlor und auf der Straße landete.

Linda Rennings mit Mikrofon in der Hand

Linda Rennings arbeitet heute als Genesungsbegleiterin.

Heute arbeitet Rennings als Genesungsbegleiterin für obdachlose Frauen. Sie hat den Verein „Heimatlos in Köln“ gegründet, für ihr Engagement wurde sie mit der alternativen Kölner Ehrenbürgerschaft ausgezeichnet – gemeinsam mit dem früheren Innenminister Gerhart Baum. Es gebe lediglich zehn Schlafplätze für obdachlose Frauen in Köln, sagte Rennings bei der Buchvorstellung.

Das Thema Wohnungslosenprostitution ist kaum bekannt – aber sehr verbreitet. Auch in Köln prostituieren sich viele Frauen gegen ein Dach über dem Kopf – und niemand nimmt es wahr
Linda Rennings, ehemals obdachlos, die heute als Streetworkerin arbeitet

Frauen seien auf der Straße viel größeren Gefahren ausgesetzt als Männer: „Das Thema Wohnungslosenprostitution ist kaum bekannt – aber sehr verbreitet.“  Auch in Köln prostituierten sich viele Frauen gegen ein Dach über dem Kopf – „und niemand nimmt es wahr“. Alle Wohnungslosen und Obdachlosen würden „über einen Kamm geschoren. Was es bräuchte, wären individuelle Hilfen – aber die gibt es fast gar nicht“.

Auch um die Pflege und medizinische Versorgung der Menschen stehe es schlecht, sagte Rennings. „Man lässt Obdachlose sterben und die Gesellschaft schaut weg“, ergänzte Richard Brox.

Günther Wallraff bei der Buchvorstellung ‚„Deutschland ohne Dach“‘

„Wohnen ist ein Menschenrecht“, sagteGünter Wallraff.

Seit den 1950er Jahren habe es in Deutschland nicht mehr so viele obdachlose Menschen gegeben, sagte Brox. „Auch durch den Zuzug aus Osteuropa landen immer mehr Menschen auf der Straße, die hier Schutz suchen und im Elend enden. Für ein so reiches Land ist das eine Schande.“ Es brauche bundesweit einheitliche Hilfsprogramme, Dolmetscher für Wohnungslose und die Möglichkeit, nicht nur das Recht auf Wohnraum, sondern auch auf Hilfe zum Leben einzuklagen.

Die EU will Obdachlosigkeit bis 2030 beenden – die Ampel-Koalition auch

Als er die großflächigen Plakate mit der Parole „Obdachlosigkeit bis 2030 beenden!“ sah, „musste ich herzlich lachen“, schreibt Albrecht Kieser, Co-Autor des Buchs gemeinsam mit der Journalistin Silvia Rizvi und Brox. Immerhin habe sich die Ampelkoalition das Versprechen des EU-Parlaments zu eigen gemacht und beschlossen, den Ländern bis 2026 insgesamt 14,5 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Allerdings: „Vom versprochenen Geld ist bisher kein Cent angekommen.“

Wallraff erinnerte daran, dass obdachlose Menschen in Deutschland im Schnitt nur 49 Jahre alt werden. Das Risiko von Obdachlosen, an einem gewaltsamen Tod zu sterben, sei 50 Mal höher als im Durchschnitt der Bevölkerung. „Es braucht einen Politikwechsel“, meinte Wallraff. „Beim Wohnen geht es um ein Menschenrecht, ohne dessen Realisierung eine Gesellschaft unglaubwürdig wird und verkümmert, die sozial genannt werden will.“

Deutschland ohne Dach – Die neue Obdachlosigkeit, Richard Brox (Hg.), Rowohlt 2023

KStA abonnieren