„Sie sagten uns, wir sollen springen“34-Jährige stürzt bei Rettung am Kölnberg in Aufzugsschacht – Ein rätselhaftes Drama

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Das Bild zeigt die Hochhäuser im Ortsteil Meschenich.

Die Hochhäuser im Ortsteil Meschenich - dem Kölnberg.

Seit dem Sturz weiß sie nicht, ob sie je wieder laufen kann. Dabei hatte sie viele Pläne. Die Geschichte eines schwer begreiflichen Dramas.

Nachts kommen die Bilder vom Sturz in den Aufzugsschacht. „Ich sehe mich, wie ich in die Tiefe falle, sehe den offenen Bruch meines Beins und höre mich schreien. Ich habe das ganze Haus zusammengeschrien“, sagt Saskia Busch, die anders heißt, aber nicht will, dass die Leute wissen, dass sie am Kölnberg lebt. Seit ihrer Geburt lebt sie hier, seit sie ein Kind war, habe sie weggewollt, sagt sie. „Im November habe ich in einer Kölner Anwaltskanzlei angefangen als Sekretärin – ich dachte, das ist meine Visitenkarte, um meine Eltern und mich rauszuholen hier. Und dann kam dieser Albtraum.“

Kölnerin wollte dem Ghetto am Kölnberg entkommen

Ein warmer Sommertag Ende Juni, draußen hören Menschen vor einem Auto mit großen Boxen im Heck Polka-Musik, eine durchsichtige Plastiktüte fliegt durch die Luft, Tauben balgen auf einer Wiese um die Reste eines Döners. Vor dem Hochhaus stehen zwei Jugendliche mit einem Staffordshire-Terrier und rauchen. Saskia Busch liegt in ihrem Zimmer im 1. Stock auf dem Bett, daneben eine Glasvitrine, in der Handtaschen mit den Insignien von Luxusmarken lagern.

Nach ungefähr 40 Minuten kam eine Antwort: ‚Chill mal, was ist los?‘ hat ein Typ aus dem Pförtnerhäuschen gesagt
Saskia Busch (34) (Name geändert)

Über ihr rechtes Knie ziehen sich zwei lange Narben und mehrere kleine. Sie kann das Bein kaum bewegen, für den Weg zum Bad braucht sie einen Toilettenstuhl, wenn sie ein paar Meter auf Krücken laufe, habe sie starke Schmerzen. Wenn sie es, wie vor ein paar Tagen, mit den Gehhilfen bis zum Aufzug schaffe, „dann kommt alles zurück“.

Als Saskia Busch vom Abend des 28. März 2023 erzählt, muss sie immer wieder innehalten. Gegen 18.30 Uhr sei sie von der Arbeit gekommen, gut gelaunt, erinnert sie sich. Die Kanzlei hat ihre Stelle nach vier Monaten entfristet, „ich war voller Pläne für den Sommer, Wohnungsbewerbungen, lange Spaziergänge, Sport“, sagt sie. Die Welt erscheint mit dem Job größer als das Ghetto am Kölnberg, voll neuer Möglichkeiten.

Aufzug sackt im Kölnberg plötzlich ab

Der Flur vor dem Aufzug ist, wie fast immer am frühen Abend, voller Menschen. „Als wir schon zu fünft oder sechst im Lift standen, haben sich noch zwei weitere Personen hineingezwängt“, sagt sie, „dann sind wir losgefahren.“ Wenige Sekunden später sackt der Aufzug ab – und bleibt stehen. Eine Frau sei in Panik geraten und habe geschrien, sie habe versucht, die Frau zu beruhigen und den Notrufknopf gedrückt. Eine gefühlte Ewigkeit habe sich niemand gemeldet. „Nach ungefähr 40 Minuten kam eine Antwort: ‚Chill mal, was ist los?‘ hat ein Typ aus dem Pförtnerhäuschen gesagt“.

Ein paar Minuten später sei der Aufzug von Hand aufgemacht worden. Bis zum Boden im Erdgeschoss seien es 1,20 Meter bis 1,50 Meter gewesen. „Die Männer, die den Aufzug aufgemacht hatten, haben uns gesagt, wir sollten uns auf den Boden setzen und dann runterspringen.“ Zwei Frauen – darunter die, die Panik bekommen hatte – seien sofort gesprungen und unversehrt im Erdgeschoss gelandet. „Ich bin eigentlich ein Schisser, aber die eine Frau, die auch gesprungen ist, war deutlich älter als ich“, erinnert sich Saskia Busch. Danach erinnerte sie sich lange an nichts mehr.

Saskia Busch verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Aufzugsschacht – Not-OP in Kölner Uniklinik

Der freie Fall, das viele Blut, das offene, schief stehende Bein, eine Sanitäterin, die fragte, wie sie heiße und wie alt sie sei – diese Bilder seien wie die Schreie erst später wiedergekommen.

Saskia Busch hatte nach dem Sprung ins Erdgeschoss das Gleichgewicht verloren und war in den Aufzugsschacht gestürzt – „der ungefähr vier Meter tief war, weil wir zwischen erstem Stock und Erdgeschoss standen“. Was wäre gewesen, fragt sie sich, „wenn der Aufzug im fünften oder zehnten Stock stehen geblieben wäre?“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

In der Kölner Uniklinik wird sie notoperiert, eine Woche später folgt eine zweite OP. Das Schienbein ist gebrochen, ein Knochen gesplittert, mehrere Bänder sind im Knie gerissen. Sie hat eine klaffende Wunde am Hinterkopf und eine gewaltige am Bein. Und da sind die Bilder, die nachts kommen.

Operiertes Bein mit Fixatoren und zwei großen Narben

Das Bein nach zwei Operationen

Einen Monat bleibt sie im Krankenhaus, dann kommt sie im Krankentransporter zurück zum Kölnberg. „Als ich den Block sah, habe ich eine Panikattacke bekommen“, sagt sie. Sie fährt mit dem Aufzug in den 10. Stock.

Der Aufzug knarzt wie ein nicht geöltes Scharnier. „Sag mal den Besitzern, dass sie neue Aufzüge bringen sollen, die bleiben ständig stehen, ist Scheiße“, sagt der Junge mit dem Staffordshire-Terrier vor der Tür. Von dem Unfall haben sie gehört. „Passiert viel Scheiße hier.“

Ihr Freund fotografierte die TÜV-Plakette - März 2021 stand darauf

Ihr Freund habe nach dem Unfall die TÜV-Plakette im Aufzug fotografiert, sagt Saskia Busch. Demnach galt der TÜV für den Lift bis März 2021. Wenige Wochen später sei die Plakette entfernt worden – tatsächlich fehlt die Plakette beim Besuch des „Kölner Stadt-Anzeiger“ Ende Juni. Das Prüfsiegel im zweiten Aufzug des Hauses ist noch da - Juli 2022 steht auf der Plakette.

Der Aufzug erfülle „alle sicherheitstechnischen Auflagen und wurde gemäß der Prüffristen als ‚Bei der Prüfung wurden keine Mängel festgestellt‘ beschrieben“, schreibt Andreas Rabsch, Geschäftsführer der für das Haus verantwortlichen SHV-Immobilien-Verwaltungs-GmbH, auf Anfrage dieser Zeitung. Weiter habe es in dem Prüfprotokoll geheißen: „Die im Prüfumfang enthaltenen Sicherheitseinrichtungen erfüllen ihre Funktion. Bis zur nächsten turnusmäßigen Prüfung ist ein sicherer Betrieb zu erwarten. Es sind keine Maßnahmen erforderlich.“ Die nächste „turnusmäßige Prüfung“ hätte angeblich erst im Jahr 2024 stattfinden sollen.

Hausverwaltung sagt, es habe „für Personenbefreiungen qualifiziertes Personal eingesetzt“

Den Unfall bestätigt und bedauert Rabsch. Das „zur Personenbefreiung beauftragte Unternehmen“ habe „ausschließlich für Personenbefreiungen qualifiziertes Personal eingesetzt“.

Qualifiziertes Personal, das den im Aufzug festsitzenden Menschen riet, ins Erdgeschoss zu springen – ohne den Abgrund zum Schacht des Lifts hinreichend zu sichern? Die Feuerwehr übrigens war nach dem Unfall nicht vor Ort, bestätigt ein Feuerwehrsprecher dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Wir waren nicht involviert.“

Saskia Busch sagt, dass sich bislang niemand aus der Hausverwaltung gemeldet habe. Keine Entschuldigung, kein Wort des Bedauerns. Nichts. „Bei meinen Eltern hat nur ein paar Tage nach dem Unfall ein Mann geklingelt, der gesagt hat, es habe keinen Sinn, den Unfall anzuzeigen. Wir sollten das lieber lassen.“ Viele Menschen am Kölnberg hätten sich durch solch einen „dreisten Spruch wahrscheinlich einschüchtern lassen“, sagt Busch. „Ich möchte, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“

Saskia Busch litt unter dem Stigma ihrer Adresse – sie will unbedingt weg

Unter ihrer Herkunftsadresse habe sie in ihrem Leben genug gelitten: „Wenn ich Menschen erzähle, wo ich lebe, gibt es oft Spott. Bei einem Bewerbungsgespräch wurde mir gesagt, sie wollten einfach mal sehen, wer sich denn vom Kölnberg hier bewerbe.“ In Rodenkirchen oder Lindenthal, glaubt Saskia Busch, „wäre solch ein Unfall ganz sicher nicht passiert“.

Mit einem elektrischen Apparat soll sie das Bein jetzt so oft wie möglich passiv bewegen. Sobald sie mit Krücken vorsichtig auftritt, hat sie starke Schmerzen. Zwei weitere Operationen könnten nötig sein. „Ich weiß nicht, ob ich je wieder so laufen kann wie vorher. Und auch meine Stelle in der Kanzlei werde ich nicht ewig behalten können, wenn ich noch Monate nicht arbeiten kann.“

Die Wohnung am Kölnberg komme ihr „mehr denn je wie ein Gefängnis vor“. Der Sturz in den Schacht sei „wie ein Fluch, dass wir hier nicht wegkommen“.

Kölner Polizei vernimmt Zeugen

Die Kanzlei Sausen, für die Saskia Busch arbeitet, stellt sich hinter ihre Mitarbeiterin – und vertritt sie juristisch. Die Hausverwaltung habe trotz mehrfacher Fristsetzungen nicht reagiert, sagt Buschs Anwalt. „Wir haben bisher weder Auskünfte noch Unterlagen über die Mitarbeiter, bestehende Haftpflichtversicherungen oder Auskünfte über die Eigentümergemeinschaft erhalten.“ Gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ verweist der Hausverwalter auf laufende Ermittlungen. Die Kölner Polizei teilt mit, dass noch weitere Zeugen vernommen werden müssen. Der Fall dürfte bald auch die Staatsanwaltschaft beschäftigen.

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