Sechs Werte, sechs Tage, sechs StädteMein Roadtrip durch Europa

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  • Unser Jonah Lemm ist vor der Europa-Wahl eine Woche lang durch Europa gereist, auf der Suche nach dem, was uns in Zeiten von Europa-Skepsis und Populisten zusammenhält.
  • Er besuchte das große Flüchtlingslager in Calais und reist zum Kopf der EU, ins politische Zentrum nach Brüssel.
  • Doch wie ging die Reise überhaupt los? Und wie entstand die Idee?

Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Handyakku leer. Ohne die Karten-APP hält mich das Linksrechts des Stadtrands von Calais gefangen. Waschbetonhäuser, Vierspurstraßen, Zäune. Viele Zäune. Am Ende ist es egal, wie er sich verläuft, hat Sam gesagt. Die Leute hätten ihn ja nirgendwo gewollt. Nicht in Gambia, als seine Familie kein Geld mehr hatte, um die Schule zu zahlen. Nicht in Libyen, wo ein Warlord seinen Freund erschießen ließ.

Nicht in Italien, wo er sich ein Jahr den Umständen ergab, ehe er einfach weglief. Und nicht hier in Calais, wo er leben muss wie ein Hund. Langeweile am Tag, die Nacht als Provisorium. Die Trucks sind zu gut bewacht. Sam sagt, er wolle bald heimlich auf einen Kutter klettern. Nach England, egal wie.

Was heißt Bushaltestelle auf Französisch? Ich weiß, was Mc Donald’s heißt. Wie das aussieht: Gelbes M im Himmel, Parkplatz. Ein Bigmac ist ein Bigmac, ob jetzt in Castrop-Rauxel oder Calais. Politik ist kein Bigmac. Aber diese Union hat dennoch ihr Rezept. Scheint in Calais aber anders zu schmecken als in Deutschland. Wertegemeinschaft. Das sind wir, das ist die Europäische Union. Sagt Angela Merkel, sagt Emmanuel Macron. Sagt gefühlt jeder Politiker.

Alles zum Thema Angela Merkel

Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte. Artikel 2 des Europäischen Vertrages. Die Grundwerte. Nur wer sie achtet und fördert, darf Mitglied sein.

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Die Stationen der Europareise

48 Prozent ihrer Bürger vertrauen der EU laut ihren eigenen Zahlen „eher nicht“. Das erste Land kämpft gerade um seinen Austritt. Wenn am 26. Mai 400 Millionen Menschen über die Zukunft des Kontinents entscheiden dürfen, dann werden laut Umfragen so viele wie noch nie ihre Stimme Politikern geben, die gegen die EU kämpfen, statt in ihr eine Lösung zu sehen. 

Und ich, 22 Jahre alt, mit der EU und ohne Grenzen aufgewachsen, denke vor einem Mc Donald’s in Frankreich: Wenn das „Wir“ tatsächlich zerbricht, zerbricht es nicht als allererstes an dem, was uns einst zusammenbrachte: den Werten?

Zwei Tage, bevor ich Sam traf, habe ich mich auf eine Reise aufgemacht. Ich wollte wissen, ob es noch Geschichten hinter den Grundwerten gibt, oder ob sie zu hohlen Floskeln verkümmert sind. Was eint, was unterscheidet uns? Ich habe Menschen getroffen, die nichts mehr mit Europa zu tun haben wollen. Und Menschen, die in die EU all ihre Hoffnung setzen. 

Sechs Werte, sechs Tage, sechs Städte. Eine Europäische Union. Die Reise beginnt mit einer Niederlage im Industriegebietsnirgendwo in Köln. Der rumänische Lkw-Fahrer, den er für mich organisiert habe, sagt Soeren Krog, ein sehr freundlicher Däne, hätte leider etwas „Delay“. Dann müsse noch ausgeladen und eingeladen werden. Speditions-Alltagstango. So um 17 Uhr wäre man da. Es ist 8.45 Uhr. Ob ich noch einen Kaffee wolle?

Nein, danke. Ich will los.

Eine Spurensuche nach den Grundrechten – die Serie

Was Europa ausmacht? Gemeinsame Gesetze, Handelsbeziehungen, na klar. Aber im Kern sind es die Menschen und die Werte, die uns zusammenhalten. Deshalb haben wir unseren 22 Jahre alten Reporter Jonah Lemm auf eine einwöchige Reise durch einige europäische Mitgliedsstaaten geschickt. Immer auf der Suche nach Menschen, welche den Artikel zwei der Europäischen Verfassung mit Leben füllen. Die Grundwerte, die da sind: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte.

Jonah Lemm ist in Brüssel eingetaucht in das Abenteuer EU, hat das illegale Flüchtlingslager in Calais besucht, einen Abstecher ins Brexit-London gemacht.

Lemm traf in Paris eine junge Französin, deren Europaliebe sie bewog, für Macron Wahlkampf zu machen, in Barcelona einen Katalanen, der jeden Abend auf einem Berg vor einem Gefängnis per Megafon den inhaftierten Separatistenführern eine gute Nacht wünscht. Und Lemm hat sich eine Nacht lang in den Schwulenbars von Prag herumgetrieben – der toleranten Gay-Hauptstadt des Ostens.

Krog nickt. Als Senior Director International kann er das verstehen, arbeitet jeden Tag gegen den Transit-Stillstand an. Statt in einen Lkw verfrachtet er mich auf den Beifahrersitz seines Sportwagens. Im Radio singt ein Mann „I come from a land down under.“ Ein SPD-Wahlplakat zieht vorbei, ein Kirschbaum flennt ein paar Blüten in den Wind. Nach zehn Minuten sind wir da. Ich steige aus, in einen Zug ein. Europa beginnt mit dünnem Bordbistro-Kaffee und drei Stunden Fahrtzeit. 

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