Der 82-jährige Eduardo Löwenthal hat seit drei Jahren keine Wohnung, und eine abenteuerliche Zimmer-Odyssee hinter sich.
„Bankrotterklärung der Stadt“Wie ein Ingenieur und Holocaust-Überlebender mit 79 in Köln obdachlos wurde

Eudardo Löwenthal (82), Marathonläufer und Maschinenbauingenieur
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Eduardo Löwenthal ist 82 Jahre alt und hat bis vor drei Jahren am Empfang eines Autokonzerns in Köln gearbeitet. Er spricht sechs Sprachen und hat als Maschinenbauingenieur die Welt bereist. Mit 80 ist er seinen letzten Köln-Marathon gelaufen, auch geistig ist er sehr agil. Trotzdem ist Löwenthal, dessen Eltern 1939 vor den Nationalsozialisten nach Argentinien flüchteten und der vor 25 Jahren nach Deutschland zog, da seine Tochter in Köln studierte, seit bald drei Jahren wohnungslos. Momentan lebt er in einem Vier-Bett-Zimmer einer Kölner Notunterkunft, die er morgens um 8 Uhr verlassen muss und erst um 18 Uhr wieder betreten darf. Wie kann das sein?
Bis vor zwei Jahren ist er Marathons gelaufen, als Ingenieur hat er die Welt bereist. Jetzt ist er wohnungslos.
Löwenthal trägt beim Gespräch in einem Konferenzraum der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM) Joggingschuhe, Fleece und Gore-Text-Jacke. Leider ließen die Knochen das Laufen nicht mehr zu, sagt er. Schon in Buenos Aires war er Marathons gelaufen, drahtig und asketisch ist er geblieben. Ein bisschen unsicher ist er wegen des Interviews. Seinen Vornamen will er verändert wissen. „Ich habe Angst wegen der Antisemiten“, sagt er.
So viel Ausdauer wie bei der Wohnungssuche, sagt Eduardo Löwenthal, „habe ich bislang noch nicht gebraucht“. Er lächelt. Bis zum Jahr 2022 habe er gearbeitet und genug verdient, um seine Wohnung in der Antoniter-Siedlung zu unterhalten. Seine Rente betrug danach nur 700 Euro und ein paar Zerquetschte, weil er erst im Jahr 2000 nach Deutschland kam – und er seine Rentenansprüche aus seinem Arbeitsleben in Argentinien hier nicht geltend machen konnte.
Wären seine Mietkosten übernommen worden, wäre Herr Löwenthal nicht obdachlos geworden. Hier hat der Sozialstaat versagt
Als er mit 79 aufhörte zu arbeiten, habe er zunächst nicht gewusst, dass er Anspruch auf Bürgergeld habe, sagt Löwenthal. Und sei schließlich gekündigt worden, weil sich Mietschulden ansammelten. „Schon hier hat der Sozialstaat versagt“, sagt Rainer Kippe von der SSM. „Wären seine Mietkosten übernommen oder zum Teil übernommen worden, wäre Herr Löwenthal nicht obdachlos geworden.“
Eduardo Löwenthal wurde gekündigt und landete in einem Einzelzimmer eines Hotels für Wohnungslose in der Meister-Gerhart-Straße. „Das war sehr angenehm, es hat dort an nichts gefehlt“, sagt er. 148 Euro habe er monatlich zuzahlen müssen. Das habe sich aus seiner 700-Euro-Rente wohl so ergeben. „Die Zuzahlung konnte ich dann über ein Jahr lang leider nicht aufbringen, weil ich mehrfach im Krankenhaus war, einmal war es eine Augen-OP, das andere Mal habe ich mir Arm und Bein gebrochen bei einem Sturz und musste jeweils Eigenanteil zahlen.“ Womöglich hatte er Probleme mit der Bürokratie – Löwenthal ist krankenversichert, Leistungen, die nicht von der Kasse übernommen werden, zahlt bei Menschen ohne ausreichende Rente eigentlich der Staat.
Stadt Köln schildert den Fall anders als der Betroffene
Die Stadt Köln schildert den Fall auf Anfrage etwas anders: Herr L. müsse „wie jeder Bezieher von Sozialleistungen sein Einkommen – in diesem Fall Renteneinkommen – vorrangig für seinen eigenen sozialhilferechtlichen Bedarf einsetzen. Eine Unterbringung in einem Beherbergungsbetrieb ist nur möglich, wenn der berechnete Anteil zu den Kosten der Unterkunft beigesteuert wird. Dies verweigerte Herr L. konsequent. Somit verblieb nur eine Unterbringung in einer Notschlafstelle“.
Auf die Frage, was generell mit Menschen geschehe, die ihren Eigenanteil nicht aufbringen können, schreibt die Stadt: „Wenn die Sozialleistungsempfänger den Eigenanteil nicht zahlen können, haben sie das zur Verfügung stehende Geld nicht zur Deckung des vorrangigen, sozialhilferechtlichen Bedarfs eingesetzt.“ Und werden offenbar, auch wenn sie 82 sind und nicht mehr ganz und gar gesund, vor die Tür gesetzt.

Rainer Kippe von der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim haft Löwenthal, bei den Behörden nachzuhaken und Druck zu machen. Letztlich: erfolgreich.
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Aus Akten, die dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegen, geht hervor, dass Löwenthal in einigen Monaten seine Zuzahlungen geleistet hat, in vielen allerdings nicht. Sein Arzt bestätigte ihm per Attest, dass er mehrmals in der Nacht auf Toilette gehen müsse – und eine Unterbringung mit Gemeinschaftstoilette daher nicht angemessen sei.
Eduardo Löwenthal musste das Hotel in der Innenstadt zwischenzeitlich verlassen und in eine Notunterkunft in Longerich umziehen. „Das war ungünstig, weil ich inzwischen nicht mehr allzu mobil war und die Unterkunft mitten im Industriegebiet weit ab von der Innenstadt lag“, sagt Löwenthal. Er erzählt das sehr stoisch. Ein Mensch, der Radau macht und sich über die Umstände seines Lebens beschwert, ist er gewiss nicht.
82-Jähriger schläft im Vier-Bett-Zimmer einer Kölner Notunterkunft
Seit einigen Wochen lebt er in einer Unterkunft des Sozialdiensts katholischer Männer in einem Viererzimmer, das er an den meisten Tagen allein bewohnt bislang. Auch damit ist der 82-Jährige „einverstanden, mir fehlt es eigentlich an nichts“. Allerdings müsse er die Einrichtung jeden Morgen um 8 Uhr verlassen – „das ist im Winter doch etwas ungemütlich“. Und da ist die Sache mit der Gemeinschaftstoilette.
Rainer Kippe ist weniger stoisch. „Es gibt ein Grundrecht auf Wohnen, das besagt, dass Menschen nur vorübergehend in Notunterkünften untergebracht werden dürfen“, sagt er. „Was vorübergehend bedeutet, lässt die Stadt Köln bewusst offen – drei Jahre sind ganz gewiss nicht vorübergehend.“ Mehr als 12.500 Menschen gelten in Köln als wohnungslos. Der Stadt gelinge es kaum noch, Menschen überhaupt in Wohnungen zu vermitteln. „Stattdessen werden sie in Hotels verfrachtet, die die Stadt täglich 53 Euro kosten.“
Einen 82-Jährigen in einem Vier-Bett-Zimmer unterzubringen, das er morgens früh verlassen muss, hält Kippe für „skandalös. Der Fall ist eine weitere Bankrotterklärung der Stadt Köln“.
Die Stadt schreibt auf die Frage, was für sie „vorübergehend“ bedeute, die Wohnungssituation in Köln sei „derart angespannt, dass die Zahl der unterzubringenden Personen ständig steigt. Eine Unterbringung in Notunterkünften über Jahre ist daher leider in allen Großstädten bundesweit unvermeidbar. Die durchschnittliche Unterbringungsdauer über alle Kommunen in NRW liegt bereits bei rund 2 Jahren“.
Nach der Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und etlichen Mails von Rainer Kippe an die Behörden hat die Stadt Eduardo Löwenthal einige Unterbringungen angeboten – darunter ein 10-Quadratmeter-Zimmer in einem Männerwohnheim mit Gemeinschaftsbad. Voraussetzung sei allerdings, dass er vorher seine offenen Rechnungen begleiche, hieß es.
Kippe hat auf ein Einzelzimmer mit eigenem Bad gedrängt, eine alters- und gesundheitsgerechte Unterbringung. Er hatte überlegt, den 82-Jährigen bei der Sozialistischen Selbsthilfe unterzubringen und der Stadt täglich die 53 Euro, die auch für ein Hotel veranschlagt werden, zu berechnen, da gab es am Ende dieser Woche doch eine Lösung: Eduardo Löwenthal darf nun doch wieder in dem Hotel leben, in dem er untergekommen war, nachdem er vor drei Jahren obdachlos geworden war. Ein Einzelzimmer, mit Bad, frisch renoviert. Vorher musste er unterschreiben, dass er jeden Cent, der über seiner Grundsicherung liegt und von der Rente übrig bleibt, als Eigenanteil für das Zimmer zahlt. Eduardo Löwenthal hat unterschrieben.

