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„Ich war stressgeil“Zahl der Schulverweigerer in Köln nimmt zu – Zwei Jugendliche erzählen

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Leistungsdruck, Mobbing, soziale Ängste und Lese- oder Rechtschreibschwäche sind die häufigsten Ursachen, die zur Schulangst führen können. Foto: dpa 

913 Bußgeldverfahren wurden 2024 an Eltern verschickt, deren Kinder nicht zur Schule kommen – ein Drittel mehr als noch ein Jahr zuvor. Warum sie nicht mehr zur Schule gehen, erzählen zwei Jugendliche.

Wenn Laura an den Einstieg über den Ausstieg aus der Schule nachdenkt, fing alles mit der Trennung ihrer Eltern an. Laura war zehn, als der Vater aus ihrem Leben verschwand – und reagierte auf den Verlust mit starken Bauchschmerzen. Später kamen Mobbing in der Schule und anschließend Depressionen hinzu. Immer seltener konnte sich die heute 17-Jährige motivieren, morgens aufzustehen und zur Schule zu gehen. Irgendwann ließ sie es ganz sein. Mit ihrer Mutter gab es wegen der Schule häufig Streit, bis die Lage im Januar 2023 eskalierte und das Jugendamt hinzugezogen wurde. Es folgte ein mehrmonatiger Aufenthalt für Laura in einer Tagesklinik.

Familiäre Probleme

Lauras Geschichte ist kein Einzelfall. Immer häufiger verweigern Kinder und Jugendliche in NRW und auch in Köln den Unterricht. Orientiert man sich an den Bußgeldbescheiden, die an Eltern verschickt werden, deren Kinder nicht zur Schule kommen, nimmt das Phänomen deutlich zu. 2024 wurden im Regierungsbezirk Köln 913 Bußgeldverfahren eingeleitet, ein Jahr zuvor waren es noch 684, teilte die Bezirksregierung Köln mit.

Auch in NRW haben die Verfahren zugenommen. 2024 gab es laut Schulministerium 8076 Verfahren, im Jahr zuvor waren es 7505 und 2022 insgesamt 6945. Differenziert wird bei den Zahlen allerdings nicht, ob es sich um Schulverweigerungen handelt oder das Kind beispielsweise aus der Schule gehalten wurde, weil die Familie eine Urlaubsreise in die Schulzeit hinein verlängern wollte. Konkretere Zahlen, die auf Schulverweigerung hindeuten, gibt es aber nicht.

Bußgeldbescheide wegen Schulpflichtverletzungen

Die Dunkelziffer dürfte hoch sein: Denn Bußgeldverfahren würden erst eingeleitet, wenn andere pädagogische Maßnahmen nicht helfen, so die Bezirksregierung. Und: Die Bezirksregierungen seien nur für die Einleitung der Ordnungswidrigkeitsverfahren und Bearbeitung der Bußgeldverfahren für Gymnasien, Gesamtschulen, Realschulen, Sekundarschulen und Berufskollegs verantwortlich. „Bei Verfahren an Grundschulen, den meisten Förderschulen und Hauptschulen sind die Schulämter in den Kreisen beziehungsweise kreisfreien Städten zuständig, hierzu liegen uns keine Zahlen vor.“

Die Gründe, warum Kinder und Jugendliche Stunden, Tage, Wochen oder sogar Monate die Schule verpassen, sind individuell verschieden und vielfältig. Die Stadt Köln nennt auf Anfrage unter anderem Schulangst, etwa Leistungsängste, Mobbing oder Probleme mit Lehrkräften sowie familiäre Probleme. Manchmal werde auch geschwänzt, weil die Schüler schlicht Gaming oder Abhängen mit Freunden als attraktiver als den Schulstoff empfänden.

Corona hat die Probleme verstärkt

Die Corona-Pandemie habe viele Probleme verstärkt: Leistungslücken seien durch Schulentfall vergrößert worden, die sozialen Kontakte verringert, so eine Stadtsprecherin. Die Schule als sozialer Raum für Freundschaften sei zeitweise weggebrochen. „Corona war schlimm“, sagt auch Laura. „Ich war nur zu Hause und habe meine Freunde nicht mehr gesehen.“

Laura lernt derzeit im Handwerkerinnenhaus in Nippes. Dort absolviert die Jugendliche das Projekt „Kneifzange“, in dessen Rahmen Kinder und Jugendliche in kleinen Gruppen fit gemacht werden für die Schule und den weiteren Lebensweg. In Zusammenarbeit mit einer Tischlerin, einer Sozialpädagogin und einer Lehrerin werden die Teilnehmerinnen unterrichtet, psychosozial betreut und arbeiten praktisch in der Werkstatt. Trainiert werden unter anderem Fähigkeiten wie Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit, die den Mädchen verloren gegangen sind. Wie es mit Laura weiter geht, ist noch unklar. „Ich möchte etwas mit Menschen machen, ihnen helfen“, sagt sie. Ein Praktikum in der Uniklinik habe sie bereits absolviert, ein weiteres bei einem Kinderarzt sei in Aussicht.

Auch im Verein Apeiros werden unter anderem an zwei Standorten - in Poll und Lindenthal - Kinder und Jugendliche tagesstrukturierend in kleinen Gruppen betreut, die zuvor selten bis nie die Schule besuchten. Nicht nur die Rate an Schulverweigerern sei gestiegen, auch der Betreuungsbedarf habe sich seit Corona deutlich erhöht, sagt Benedikt Schoening, Leiter der Apeiros-Standorte in Köln und Leverkusen. Habe man früher im Schnitt sechs Monate benötigt, um ein Kind für Schule oder Ausbildung tauglich zu machen, dauere dies heute acht bis zwölf Monate. „Die Kinder haben öfter Probleme, sich in der Schule anzupassen“, so Schoening.

Ich habe mich früher schnell ablenken und auch provozieren lassen. Ich war stressgeil
Can (16)

Bei Apeiros trifft man auch Can (Name geändert). Er ist 16 und sagt von sich: „Ich habe mich früher schnell ablenken und auch provozieren lassen. Ich war stressgeil.“ War es im Klassenzimmer zu laut, habe er nicht lernen können und viel Unsinn gemacht. Die Realschule musste er schließlich verlassen, nachdem es zu einer Massenprügelei gekommen war. Can wurde auf eine Hauptschule versetzt, wo er sich mit den Lehrern und Lehrerinnen nicht verstanden habe. Zu Apeiros kam er schließlich auf Empfehlung des Jugendamtes. Auch hier lief es anfangs nicht rund. Die Sozialarbeiter, die ihn zu Hause abholen sollten, standen anfangs vor verschlossenen Türen.

Die Sozialarbeiter sind aber drangeblieben. Irgendwann ging ein Ruck durch den Jungen. Bei Apeiros genießt er den Einzelkontakt zu den Erwachsenen und kann in eigener Geschwindigkeit arbeiten. „Man kann sich hier viel besser konzentrieren.“ Nun hat er große Pläne: Erst einmal will er den Realschulabschluss machen, später heiraten und eine Familie gründen. Dazu benötige er einen guten Job und daher einen Schulabschluss.

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