Der Experte für Völkerrecht Philippe Sands hat ein Buch über die Verbindung eines deutschen NS-Verbrechers zu dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet geschrieben.
Anwalt Philippe Sands über PinochetZwei Massenmördern auf der Spur

Philippe Sands
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Auch ein renommierter Menschenrechtsanwalt, Juraprofessor und Bestsellerautor hat Hobbys. Und so kündigt Philippe Sands am Mittwochabend im Gerichtsgebäude am Appellhofplatz gleich zu Beginn an, nach der vom Kölner Literaturhaus ausgerichteten Lesung rechtzeitig aufbrechen zu müssen, weil der Fußballverein seines Herzens, Arsenal, gegen Paris Saint-Germain in der Champions League spielt. Die angepeilten 90 Minuten Gespräch mit Thomas Laue, früher Chefdramaturg am Schauspiel Köln, überzieht Sands dann aber doch um eine gute halbe Stunde, denn die Themen, über die er spricht, liegen ihm am Herzen, das ist deutlich zu spüren.
Es ist ein großes Glück, dass Sands länger bleibt als geplant, denn er ist nicht nur ein großartiger Geschichtenerzähler, den Laue mit großem Geschick durch diesen Abend führt, sondern auch ein Streiter dafür, die Aufarbeitung von Unrecht nicht allein den Juristen zu überlassen. Er hat vielmehr eine Agenda. Sands will die moralischen Fragen, die sich aus Fällen des internationalen Rechts ergeben, einer breiten Öffentlichkeit zugängig machen, damit diese sich mit ihnen auseinandersetzt.
Die Verteidigung Pinochets lehnte Sands ab
Sands glaubt daran, dass jeder Angeklagte das Recht auf eine gute Verteidigung hat, deshalb sieht er sich ähnlich wie ein Taxifahrer, der jeden Fahrgast befördern muss, in der Pflicht, niemanden abzuweisen. Nur zwei Verteidigungen hat er in seinem Leben abgelehnt: Saddam Hussein - und Augusto Pinochet. Bei diesem hatte seine Frau, eine Halb-Chilenin, ihm andernfalls mit Scheidung gedroht.
Und doch war die Verhaftung des früheren Diktators 1998 in London Ausgangspunkt für sein neues Buch „Die Verschwundenen von Londres 38 - Über Pinochet in London und einen Nazi in Patagonien“, das er in Köln vorstellt und aus dessen deutscher Übersetzung Schauspieler Andreas Grötzinger liest. Sands lehnte nämlich nicht nur die Verteidigung Pinochets ab, sondern unterstützte im Gegenzug Menschenrechtsorganisationen in ihrem Kampf für dessen Verurteilung. Ein spanischer Anwalt wollte ihn für die Folterung und Ermordung unzähliger politischer Gefangener zur Rechenschaft ziehen und hatte den Haftbefehl in England erwirkt.
Es folgte ein jahrelanges juristisches Tauziehen, an dessen Ende Pinochet nicht verurteilt wurde, sondern aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit nach Chile zurückkehren durfte. Dennoch hatte der Fall Symbolcharakter, zeigte er doch auf, dass internationales Recht Landesgrenzen überschreitet und Diktatoren künftig auch im Ausland nicht mehr sicher vor Strafverfolgung sind.

Walther Rauff
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Die Recherchen für sein vorheriges Buch über die sogenannte Rattenlinie, über die NS-Verbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg nach Südamerika flüchteten, führten Sands auf direktem Wege zu einem anderen, einem deutschen Massenmörder, der nie zur Verantwortung gezogen wurde und der in direkter Verbindung zu Pinochet stand: Walther Rauff. Der SS-Standartenführer war in der Zeit des Nationalsozialismus Gruppenleiter im Reichssicherheitsamt und maßgeblich an der Entwicklung mobiler Gaswagen verantwortlich, die in der besetzten Sowjetunion für den Massenmord an Juden und Sinti und Roma genutzt wurden.
1949 floh er vor einer Strafverfolgung aus Rom - erst nach Ecuador, später nach Chile, da er sich in Quito mit dem späteren chilenischen Diktator Pinochet angefreundet hatte. Philippe Sands ließ die Frage nicht mehr los, ob Rauff seine grauenvolle Expertise über Folter und Mord in den Dienst des Diktators gestellt hatte. Acht Jahre lang recherchierte er über Rauffs Leben in Chile, reiste mehrfach in das südamerikanische Land, suchte das Gespräch mit Zeugen und Überlebenden.
So leitete Rauff eine Fischfabrik in Chile. Solche Fabriken und deren Transporter nutzte die chilenische Geheimpolizei DINA, um Gefangene dort zu foltern, zu ermorden und die Leichen verschwinden zu lassen. Aber erst sehr spät konnte Sands seinen Verdacht erhärten. So spielte er einem Opfer von Folter, dem die Augen verbunden worden waren, Tonaufnahmen von Rauff vor, der eine sehr markante Stimme mit deutschem Akzent hatte. „Er erstarrte, begann zu schwitzen und schwer zu atmen“, erinnert er sich.
Rauff, der zwischenzeitlich auch für den BND arbeitete und dessen Auslieferung nach Deutschland Chile ablehnte, wurde für seine Verbrechen in der NS-Zeit und später während der Pinochet-Diktatur nie belangt. Sands ist anzumerken, dass es ihn schmerzt, dass keiner der beiden Massenmörder je verurteilt wurde. „Aber Gerechtigkeit kann auf sehr unterschiedlichen Wegen erreicht werden“, betont er. Diese Fälle bekannt zu machen, den Opfern eine Stimme zu geben und Menschen zum Nachdenken zu animieren, sei vielleicht manchmal mehr wert als ein Urteil.
Literatur ist wichtig für die Aufarbeitung
Deshalb sei auch Literatur von herausragender Bedeutung in der Aufarbeitung der Vergangenheit. In Chile seien viele Dokumente zerstört worden, viele Täter blieben - wie auch in Deutschland nach der NS-Zeit - unbehelligt. Doch viele chilenische Schriftsteller nutzten reale Fälle als Vorlage, um vom Leid der Opfer zu berichten: „Die Leere, die entsteht, weil keine Prozesse geführt wurden, wird gefüllt von diesen Autoren“, so der Jurist.
Wie jeder gute Erzähler zaubert Philippe Sands immer wieder Geschichten aus dem Hut, die so unwahrscheinlich klingen, dass man kaum glauben kann, dass sie wahr sind. So berichtete er 1998 nach Pinochets Verhaftung in London seiner chilenischen Schwiegermutter von dem chilenisch-spanischen UN-Mitarbeiter Carmelo Soria, dessen Ermordung im Juli 1976 als Grundlage für die Anklage in London diente. Worauf diese nur entgegnete: „Ach ja, Cousin Carmelo.“ Von der familiären Verbindung hatte Sands nichts gewusst.
Wie aus einem Spionage-Thriller klingt eine andere Geschichte. „Stern“-Reporter Gerd Heidemann, berühmt geworden durch die Entdeckung der vermeintlichen Hitler-Tagebücher, war auch Mossad-Agent. Als solcher hatte er dem israelischen Geheimdienst Informationen über Walther Rauff zukommen lassen. Als dieser daraufhin in Chile getötet werden sollte, rettete ihn ausgerechnet sein deutscher Schäferhund Rex vor der Erschießung. Er vertrieb die neun Agenten, die ihn ausschalten sollten, durch sein lautes Gebell gleich zweimal.
Arsenal hat an diesem Abend das Spiel gegen Paris verloren und den Einzug ins Champions-League-Finale verpasst. Für den Fußballfan Philippe Sands war es also kein erfolgreicher Abend. Aber viel wichtiger ist ohnehin die Arbeit des Autors und Juristen Philippe Sands, wie er an diesem Abend eindrucksvoll unter Beweis stellte.
Philippe Sands: „Die Verschwundenen von Londres 38. Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien“, deutsch von Thomas Bertram und Henning Dedekind, S. Fischer, 632 Seiten, 30,50 Euro.