In ihrem neuen Buch „Meine Zuflucht und mein Sturm“ erzählt die indische Bestsellerautorin die Geschichte ihrer Mutter. Ein Gespräch über Liebe und Gewalt.
Autorin Arundhati Roy„Ich habe immer ein Auge auf die Person, die im anderen Raum geschlagen wird“

Arundhati Roy
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Arundhati Roy, in Ihrem neuen Buch erzählen Sie nicht nur Ihre eigene Geschichte, sondern auch die Ihrer Mutter Mary Roy, die 2022 verstorben ist. Wann wussten Sie, dass Sie dieses Buch schreiben würden?
Arundhati Roy: Es gab nicht unbedingt einen bestimmten Moment, aber es kommt oft vor, dass ich das Gefühl habe, nichts anderes tun zu können, als einfach anzufangen zu schreiben. Ich wusste immer, dass diese Frau dazu bestimmt war, in der Literatur verewigt zu werden. Aber mehr noch als ich wussten einige meiner Freunde, dass ich eines Tages über sie schreiben würde. Meine Mutter hatte Asthma. Sie kontrollierte alles, was man sagte, indem sie ständig damit drohte, sonst ins Krankenhaus zu müssen, oder dass sie daran sterben könnte. Also lernte ich, mich nie zu äußern oder wirklich mit ihr zu sprechen. Das hier war also mein Gespräch mit ihr.
Sie beschreiben eine schwierige Kindheit, in der Ihre Mutter sehr erfolgreich eine Schule aufbaute, aber für ihre eigenen Kinder scheinbar nur wenig Liebe übrig hatte. Wie erklären Sie sich das heute?
Zum Teil liegt es an ihrer eigenen Kindheit, zum Teil hat sie diese Eigenschaften von ihrem Vater geerbt, aber ich glaube nicht, dass sie uns nicht geliebt hat. Ihre Liebe kam nur als Gewalt zum Ausdruck. Trotzdem, wir saßen in einem kleinen Dorf im Süden Indiens und sie brachte mir etwas über Nazideutschland und den Vietnamkrieg bei, lehrte mir das Lesen, zeigte mir Shakespeare, Kipling und Joyce – auch das ist Liebe. Es ist keine eindeutige Situation, in der jemand einfach brutal und gewalttätig ist. Es gibt auch eine andere Seite, und die ist sehr wichtig.
Können Sie diese Seite heute klarer sehen?
Wenn man älter wird, erinnert man sich an den Schmerz seiner Kindheit, aber er wird gemildert durch die Tatsache, dass man erwachsen ist und diese Person nicht nur als seine Mutter, sondern als einen anderen Menschen versteht. Selbst als Kind, selbst als ich von zu Hause weggegangen bin, gab es nie einen Moment, in dem ich sie gehasst habe, was zugegebenermaßen ein bisschen seltsam ist. Aber ich glaube, es war, weil ich die Gesellschaft, in der sie lebte, und das, was mit ihr geschah, sehen konnte. Obwohl sie mir und meinem Bruder dieses Gespräch nie erlaubte, erzählte sie uns von ihrer eigenen Kindheit und ihrem Vater.
Mit 18 haben Sie Ihre Mutter verlassen, um in Delhi Architektur zu studieren. Es waren ziemlich turbulente Zeiten. Wie haben Sie das alles weggesteckt?
Nun, ich weiß nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich so eine schwere Zeit hatte (lacht). Wenn man in Indien lebt, sieht man, was die Menschen durchmachen. Ich habe meine Jahre als Architekturstudentin wirklich genossen. Ich habe einfach jeden Tag gelebt, wie er kam. Vielleicht hat mir auch Rock'n'Roll-Musik geholfen – und meine seltsame Fähigkeit, über Dinge zu lachen. Ich konnte mich gut von mir selbst distanzieren und die Umstände betrachten. Meistens hat mich das amüsiert.
Sie beschreiben ein Erlebnis aus Ihrer Kindheit, das Sie noch lange verfolgt hat. Nachdem Ihre Mutter Ihren Bruder für ein schlechtes Zeugnis mit Prügel bestraft hatte, wurden Sie gelobt und umarmt.
In dieser Nacht waren wir beide im selben Zimmer, und sie nahm meinen Bruder mit in ihres. Ich schaute heimlich durch den Türspalt und sah, wie sie ihn wirklich heftig schlug und sagte: ‚Mein Sohn darf kein Zeugnis nach Hause bringen, auf dem durchschnittlicher Schüler steht.‘ Als er zurück ins Bett kam, waren wir beide wach, aber wir haben nie über sie gesprochen. Am Morgen, als sie kam und mich umarmte, schämte ich mich sehr für mich selbst. Immer wenn mich jemand lobt, habe ich seitdem das Gefühl, dass jemand Stilles im anderen Raum geschlagen wird. Aber das hat mich auch zu der Schriftstellerin gemacht, die ich bin.
Wie hat das Ihre Arbeit geprägt?
Ich habe immer ein Auge auf die Person, die im anderen Raum geschlagen wird. Ich schreibe keine Bücher, die nur von mir handeln. Wenn man schreibt und dabei bewusst wahrnimmt, was in der Welt vor sich geht, ist man kein Kind mehr, das sich über Zeugnisse, Preise oder Bestsellerlisten freut. Natürlich freue ich mich, aber ich bin mit dem, worüber ich schreibe, untrennbar verbunden, also sind das für mich nur zweitrangige Dinge.
Früher waren Schriftsteller gefährlich und wurden geköpft.
Sie werden oft als Schriftstellerin und Aktivistin beschrieben. Wie stehen Sie dazu?
Das liegt daran, dass die Menschen die Lebendigkeit, die Bedeutung und die Bandbreite der Literatur herabwürdigen. Früher waren Schriftsteller gefährlich und wurden geköpft. Alternativ wurden Schriftsteller, Künstler, Dichter und Maler vom Hof beauftragt, lebten nach den Vorstellungen der Machthaber. Als diese Ära zu Ende ging, war es für Intellektuelle in Ordnung, die Macht infrage zu stellen – ohne je als Aktivist bezeichnet zu werden.
Heute ist das anders?
Heute sind wir nicht der Monarchie, sondern dem Markt verpflichtet. Wer keine kommerziell erfolgreichen Produkte schafft, ist nicht Schriftstellerin, sondern Aktivistin. Das mindert die Bedeutung von beiden. Deshalb scherze ich im Buch, mich als Schriftsteller-Aktivistin zu bezeichnen, fühlt sich an, als würde man mich ein Sofabett nennen. Auch die politischen Essays, die ich schreibe, tragen die Kraft der Literatur. Das macht diese Texte gefährlicher und es fällt den Leuten schwer, sie einfach zu ignorieren.
Ihre Veröffentlichungen haben Sie schon einmal ins Gefängnis gebracht, auch aktuell droht Ihnen eine Haftstrafe. Macht Ihnen das Angst?
Wenn man sich darüber keine Sorgen macht, ist man schlicht nicht intelligent. Es ist der Versuch, mir und anderen vor Augen zu führen, dass man permanent bedroht ist. Jede Zeile, die man schreibt, wird genauestens unter die Lupe genommen. Leute reichen in jeder Stadt eine andere Klage ein. Diese Art der Schikane und die Aussicht, vielleicht nicht ins Gefängnis zu kommen, aber nicht mehr funktionieren zu können, weil man Anwälte braucht, sich um all das kümmern muss, ist ein bisschen wie der Tod durch Bürokratie. Viele meiner Freunde sind tatsächlich tot. Gerade heute bin ich wieder durchgegangen, wer von ihnen getötet wurde, wer im Gefängnis sitzt.
Jede Zeile, die man schreibt, wird genauestens unter die Lupe genommen.
All das hält Sie trotzdem nicht auf, oder?
Nein, welche Wahl habe ich denn? Die Alternative wäre, mich in mein eigenes Gefängnis zu stecken, was noch schlimmer wäre. Es ist eine Fähigkeit, die man lernen muss, wie man in einer solchen Situation lebt und weiterarbeitet.
Mary Roy zog für gleiche Erbschaftsrechte für christliche Frauen in Kerala an den Obersten Gerichtshof, ihr Sieg machte sie für viele zur feministischen Ikone. Wie stehen Sie selbst zum Feminismus?
Die Kämpfe, die meine Mutter geführt hat ... in gewisser Weise ist sie sehr verbittert gegenüber Männern: ihrem Vater, ihrem Ehemann, ihrem Bruder und bis zu einem gewissen Grad auch ihrem Sohn. Ich habe diese Bitterkeit nicht. Ich kann das Leben nicht so einfach sehen, denn ich weiß, was das Patriarchat angerichtet hat, was es bedeutet. Gleichzeitig kenne ich Männer, die feministischer sind als Frauen, Frauen, die sehr hart daran arbeiten, das Patriarchat oder den hinduistischen Nationalismus und Faschismus zu stärken.
Sie sehen Teile der feministischen Bewegung auch kritisch?
Ich habe mich an vielen Bewegungen gegen Vertreibung, etwa durch den Bau großer Staudämme, beteiligt. Die betroffenen Frauen werden überhaupt nicht wahrgenommen. Dabei kämpfen gerade sie gegen diese Ungerechtigkeit. Trotzdem werden sie von einem bestimmten Teil städtischer, meistens in NGOs organisierter Feministinnen nicht als solche anerkannt. Als Feministin gilt nur, wer über zwar wichtige, aber ganz bestimmte Themen spricht – Geschlechterfragen oder Sexarbeit, alles, was die oberste Wirtschaftsordnung nicht infrage stellt.
Weltweit – von den USA über den Iran bis nach Afghanistan - zeichnete sich in den letzten Jahren eine Gegenbewegung ab, die hart erkämpfte Frauenrechte infrage stellt.
Ja, und nicht nur Frauenrechte. In der Zeit, als alle von der Globalisierung der Wirtschaft sprachen, war die Idee: Kapital sollte sich frei über Grenzen hinweg bewegen können, Arbeitskräfte aber nicht. So konnte man die Löhne drücken und Profite steigern. Was dabei niemand vorhergesehen hat, war, dass diese Form der Globalisierung auch einen enormen technologischen Fortschritt mit sich bringen würde – ob in China, oder anderswo – und dass die wachsenden Ungleichheiten massive Migrationsbewegungen auslösen würden. All das führt jetzt zum Aufstieg rechter Kräfte, zur Militarisierung von Grenzen und Gesellschaften, zu Kriegen und natürlich auch zum Rückschlag gegen Frauenrechte.
Sehen Sie im Aufstieg des Nationalismus und der Erosion demokratischer Werte, die derzeit im Westen geschehen, Parallelen zu Indien?
Indien war, wie man so schön sagt, seiner Zeit voraus. Was heute in Amerika geschieht, passierte dort 2014, begann aber schon 2001 – als die rechtskonservative Partei BJP kurz nach 9/11 den damals noch unbekannten Narendra Modi als Ministerpräsidenten des Bundesstaats Gujarat einsetzte, ohne dass er gewählt wurde. Er und alle seine Minister gehörten zur faschistischen, hindunationalistischen Organisation RSS. Als Modi Premierminister wurde, erlebte Indien, was gerade in den USA geschieht: Angriffe auf Studenten, Künstler und Universitäten, auf die Wirtschaft; die Inhaftierung von Dissidenten, was in den USA noch nicht geschehen ist, und die vollständige Übernahme der Medien. Allein im vergangenen Jahr wurden rund 300 Kirchen niedergebrannt, denn neben Muslimen greifen sie auch Christen und die Linke an.
Wie blicken Sie persönlich darauf?
Meine größte Sorge ist, dass wir uns daran gewöhnt haben. Denn es ist nicht mehr nur der Staat, der das tut, sondern auch die Menschen auf der Straße. Dieses Gift ist in den Herzen der Menschen, in ihren Köpfen, im Alltag, im Kino, in der Literatur, in der Poesie, im Internet. Ich weiß nicht, wie man einen Fluss von Gift befreit.

