Buchclubs boomen – nicht nur digital. Auch in Köln treffen sich immer mehr Literaturbegeisterte. Das hilft gegen Einsamkeit in Zeiten Sozialer Medien und ist eine Chance für den Buchhandel.
Buchclub-BoomZusammen liest man weniger allein

Linda König (rechts) leitet den Buchclub in der Kölner Buchhandlung Neusser Straße.
Copyright: Michael Bause
Von außen muss das sehr merkwürdig aussehen: Das hell erleuchtete Café Mexi in Köln-Nippes ist an diesem Abend voll mit Menschen, die tief in ihre Bücher versunken sind. Und niemand spricht ein Wort. Das sieht zwar ganz gemütlich aus, aber: Was haben die alle gegen ihr Sofa? Warum kommen sie extra durch Dunkelheit und Nieselregen hierher zum Lesen? „Wenn einfach alle Leute im Raum sitzen und lesen – das ist für mich superschön“, sagt Maxi Mühlens. „Und ich finde es auch schön, einfach mit Menschen in Kontakt zu kommen und sich auszutauschen.“ Außerdem, sagt die 41-Jährige, hat sie hier einen Anlass zum Lesen – und die Zeit. Denn nicht zu Lesen ist bei der „Horizonte Leseparty“ keine Option. Anders als zu Hause, wo nicht nur das Sofa steht, sondern auch das Handy immer griffbereit ist. Und die Spülmaschine steht, die noch ausgeräumt werden muss.
„Es geht darum, sich zusammenzukommen, um Ruhe zu finden zum Lesen - weil man ja im Alltag immer so gestresst ist. Und wir schaffen hier einen Raum, wo das möglich ist“, erklärt Ann-Christin Neuenstein, eine der Organisatorinnen der „Horizonte Leseparty“. Was solche Buchclubs so populär macht, ist aber vor allem das Gemeinschaftsgefühl. Denn Lesen ist eine einsame Leidenschaft. Der Austausch über Bücher in den Sozialen Medien boomt zwar – ersetzt aber kein persönliches Gespräch. Und auch, wenn es beim Blick ins Schaufenster erstmal nicht so aussieht - bei der „Horizonte Leseparty“ geht es mindestens so sehr um das Miteinander wie um die Literatur. Dafür gibt es einen Ablaufplan, der mit genauen Uhrzeiten auf einer Tafel des Café-Tresens steht: Kurzes Kennenlernen, Lesephase, Gespräch, Lesephase, Gespräch. Wenn Ann-Christin Neuenstein „Zeit zu Lesen!“ ruft und mit einem Glöckchen klingelt, verstummen sofort alle - und man hört nur noch leise Klaviermusik, das Umblättern der Seiten und das Zischen der Kaffeemaschine. Das Glöckchen läutet auch wieder zum Ende der stillen Lesephase – das hat ein bisschen Grundschulklassen- oder Gottesdienst-Vibes.
Ann-Christin Neuenstein hat die „Horizonte Leseparty“ mit einer Freundin ins Leben gerufen, die gerade in Elternzeit ist. Die hatte von solchen „Silent readings“ in New York gelesen. „Und dann kam sie im Januar letzten Jahres auf mich zu und meinte: Sollen wir das nicht auch für Köln machen?“ Die beiden starteten im privaten Rahmen und merkten schnell, wie groß die Nachfrage in Zeiten von Sozialen Medien und nach der Corona-Zeit ist: „Die Leute haben ein riesiges Bedürfnis, sich wieder physisch auszutauschen, zusammenzukommen.“ Das war die Geburt der „Horizonte Leseparty“, die auch dieses Mal wieder sofort ausverkauft war.
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Die Leute haben ein riesiges Bedürfnis, sich wieder physisch auszutauschen, zusammenzukommen

Menschen lesen gemeinsam bei der „Horizonte Leseparty“ im Café Mexi in Köln-Nippes.
Copyright: Thilo Schmülgen
Auch beim Buchclub im „Buchladen Neusser Straße“ ist die Warteliste lang. „Es kommen auch immer wieder Leute zu mir, die sagen, ich bin schon im Buchclub, kann ich nicht noch eine Freundin mitbringen?“, erzählt Buchbloggerin Linda König, die die kostenlosen Treffen leitet. Ihre Antwort: „Nein, leider nicht.“ Es ist ohnehin schon voll an diesem Montagabend, wenn alle mit ihren Stühlen in der Kinderbuchabteilung sitzen, in der Mitte stehen Schokobons und was zum Knabbern. Überwiegend sind Frauen dabei - und zwar jeden Alters. „Ich habe noch nie eine Freizeitaktivität mit so einer heterogenen Gruppe gemacht“, sagt Linda König.
An diesem Montag spricht die Gruppe über Annett Gröschners Roman „Schwebende Lasten“, den vorher alle gelesen haben (sollen) und die meisten sind tatsächlich sehr textsicher, haben Sätze unterstrichen oder mit bunten Klebezetteln markiert. Das Konzept mit fester Gruppe und Lektüre ist also anders als bei der „Horizonte Leseparty“ - aber die Motivation ist ähnlich: „Auch bei den Anfragen, die es zum Buchclub gibt merken wir, dass Einsamkeit ein Thema ist. Dass die Menschen sich connecten wollen oder Anschluss suchen“, sagt die Inhaberin der Buchhandlung, Dorothee Junck.
Der Buchhandel ist für sie ein „Dritter Ort“, wo die unterschiedlichsten Menschen sich jenseits der Wohnung und des Arbeitsplatzes begegnen. Auch deswegen seien solche Clubs ein Branchenthema: Als Möglichkeit, ein Verbundenheitsgefühl mit der Buchhandlung im Viertel zu schaffen. Schließlich könne jeder mit einem Klick überall beinahe alles kaufen. Und irgendwie müsse man die Menschen ja davon überzeugen, das trotzdem in ihrem Buchladen im Veedel zu tun. „Das schaffen wir nur durch persönliche Kontakte“, ist Junck überzeugt. Eine Erfolgsgeschichte, wie das riesige Interesse zeigt.
Und auch für die Buchbloggerin Linda König ist der Buchclub ein Gewinn, sagt sie, obwohl sie damit nichts verdient. Weil ihr die Abende selbst Spaß machen und sie hinter die Kulissen einer Buchhandlung schauen kann. Außerdem beschäftige sie sich für ihren Social-Media-Kanal und ihren Podcast ohnehin ständig mit Literatur - da sei die Mehrarbeit überschaubar. Und ein paar neue Followerinnen finden sich so vielleicht auch noch.
An diesem Abend hat sie außer der Begrüßung auch gar nicht viel zu tun. Denn die Diskussion über Annett Gröschners Buch läuft fast von selbst. In dem Buch geht es um das Leben und die Verluste einer Frau im Nachkriegsdeutschland und in der DDR. In der Buchhandlung entwickelt sich ein intensives Gespräch über die Kriegsgeneration, auch über das Schweigen der eigenen Eltern und Großeltern. „Ich habe das Buch kaum lesen können, weil es mich so berührt hat“, sagt eine aus der Gruppe, den meisten anderen ging es genauso. Eine andere widerspricht: Bei ihr sei nach dem Lesen nichts Tiefes hängengeblieben. Gerade diese Vielfalt der Meinungen und Perspektiven ist es, die viele in ihrem eigenen Freundeskreis vermissen – und hier finden: „In meiner Bubble sind wir uns immer so einig über alles. Und hier gefällt mir, dass ich Bücher lese, die ich mir sonst nie gekauft hätte“, erzählt Karin Saarholz in der Pause. Das Buch von Annett Gröschner hätte sie zum Beispiel nicht angesprochen. „Jetzt habe ich es aber gelesen und bin sehr froh darüber.“ Genau das ist auch Linda Königs Idee. Sie erzählt, dass sich die Gruppe darauf geeinigt hat, „dass wir Bücher lesen wollen, die uns aus der eigenen Komfortzone rausbringen.“
Ganz anders bei der „Horizonte Leseparty“, wo jede und jeder ein eigenes Buch mitbringt. Und das ist dann wirklich genauso wild gemischt wie die Gruppe selbst – von Deutschunterricht-Klassikern wie „Der Schimmelreiter“ bis zum romantischen Young-Adult-Wälzer. „Das ist uns auch superwichtig, weil Bücher tatsächlich bei Menschen immer noch Ängste auslösen - zum Beispiel nicht intellektuell genug zu wirken“, sagt Ann-Christin Neuenstein. Für die letzte Gesprächsrunde des Abends verlassen einige das Café und drehen – trotz Nieselregen – zusammen eine Runde um den Block. „Wir können das Interesse gar nicht abbilden, und wir sind auch sehr dankbar, dass es so groß ist“, hat Ann-Christin Neuenstein der Gruppe noch mit auf den Weg gegeben: „Aber vielleicht habt ihr ja auch mal Bock, sowas selbst zu organisieren.“
Im Kölner Literaturhaus gibt es verschiedene Lesekreise für Mitglieder. Außerdem gibt es regelmäßig offene „LeseTausch“-Treffen – das nächste Mal Anfang Februar. Die Buchhandlung Manulit veranstaltet gleich vier Buchclubs – teilweise auch hier mit Aufnahmestopp. Bei der Melanchthon-Akademie wird ein feministischer Buchclub angeboten. Termine für die „Horizonte Leseparty“ gibt es bei rausgegangen.de.
„Ein gutes Buch kommt selten allein“ von Kerstin Hämke (KiWi-Taschenbuch, 15 Euro) ist ein Ratgeber für alle, die selbst einen Buchclub ins Leben rufen wollen.

