Ursula Krechel erhält den Georg-Büchner-Preis 2025. Die Autorin ist eine Virtuosin von Sprachspiel und Sprachzauber.
Büchner-PreisVon der Kunst, Maulwurfshügel aus Worten zu bauen

Ursula Krechel spricht auf der Frankfurter Buchmesse.
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Ursula Krechel, 1947 in Trier geboren, machte dort schon früh eigentümliche Erfahrungen mit der Sprache. Die Besatzer sprachen Französisch, aus dem Radio tönte es moselfränkisch, aus Bitburg kamen Amerikaner. Doch Ursula Krechel verliebte sich ausgerechnet ins Lateinische, das sie auf Prozessionen und Pilgerwegen hörte. Sie schätzte die Bauform dieser Sprache, „mit der sich spielen ließe“. Und fragte sich: „Was sagen die Menschen wirklich, die ich nur ungenau verstehe? Was könnten sie sagen? Es war der Versuch, einen fremden Blick auf das Nahe zu werfen.“
Mit dieser Anekdote über ihren Schreibbeginn stellte sich die Ursula Krechel 2012 der Akademie für Sprache und Dichtung vor. Nunmehr hat die Darmstädter Akademie Krechels Werke mit dem Büchner-Preis gekürt, der nobelsten Auszeichnung im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Sie seziere „die Versehrungen und Hoffnungen des Alltags“, heißt es in der Begründung, und erzähle von den Innenansichten ausgegrenzter Schicksale.
Nach der Schulzeit studierte Krechel Germanistik und Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln und promovierte 1971 über den Theaterkritiker Herbert Ihering. Während ihres Kölner Studiums arbeitete sie beim WDR und für den „Kölner Stadt-Anzeiger“. Ihre Autorenlaufbahn begann mit dem mehrfach übersetzten Eheausbruchs-Stück „Erika“ (1974). Toxische Paarbeziehungen, Verwicklungen von Macht und Sprache, Nachwirkungen von Flucht und Vertreibung, von Exil und Rückkehr, „Selbsterfahrung und Fremdbestimmung“ der Frau (so der Titel ihres Berichts von 1975) sind die leitenden Themen der Gedichte, Romane und Essays dieser nach eigenen Worten „chronischen Spurwechslerin“.
Krechel erzählt auf den Spuren von Exil und Remigration
Über die Rolle des Schriftstellers in der Zeit hat sie das autobiografisch geprägte „Eine Art Handbuch für alle, die schreiben wollen“ (2003) geschrieben. Jüngst erschienen ist der Essayband „Vom Herzasthma des Exils“ (2025), der von deutschen Migranten von Chamisso über Marx bis zu Thomas Mann erzählt: Deutschland ist schon lange ein Land für Einwanderer und Rückkehrer.
Besonders bemerkenswert ist, wie intensiv Krechel auf den Spuren von Exil und Remigration erzählt. Ihre Romantrilogie der Ausgegrenzten beginnt mit „Shanghai fern von wo“ (2008). Es geht um Geschichten von Juden, die vor der Hitler-Diktatur nach Shanghai flohen. Der dritte Roman „Geisterbahn“ (2018) handelt von einer Sinti-Schaustellerfamilie, die während der Nazijahre Sterilisation, Verschleppung, Zwangsarbeit erleiden muss. Der mittlere Teil ragt aus der Trilogie heraus. „Landgericht“, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2012 und 2017 auch verfilmt, ist eine exemplarische Geschichte über die Rückkehr aus dem Exil.
Im Mittelpunkt steht der Lebenslauf von Richard Kornitzer. Der in Breslau geborene Jurist wird in Berlin Gerichtsassessor. Doch dann wird ihm seine jüdische Herkunft zum Verhängnis. Mit den „Nürnberger Gesetzen“ nehmen die Diskriminierungen zu. Die Krankenkasse duldet ihn nicht mehr in der „Gefahrengemeinschaft des Volkes“, auf Schutz in seiner „privilegierten Mischehe“ mit Claire kann er sich nicht verlassen (diese Wörter aus Sternbergers „Wörterbuch des Unmenschen“ sind im Roman durch Kursivdruck hervorgehoben).
Die Wut kann für Krechel im Schreiben diszipliniert werden
Kornitzer wird seines Amtes enthoben, er schickt die Kinder nach England und erwählt Kuba als Exilort. Dort verwaltet er das Büro eines chaotischen Rechtsanwalts. 1947 zieht es den Juristen nach Deutschland zurück. Er macht Karriere, als Landgerichtsdirektor, als Richter. Doch die Erinnerungen ans Verlorene und Weggenommene nagen an ihm. Er wird zum Anwalt der eigenen Wiedergutmachungsansprüche. Aber das endet nicht gut. Denn alle Eingaben werden abgelehnt, Kornitzer wird zwar nochmals befördert, aber vorzeitig pensioniert. Ein Michael Kohlhaas im Gerichtssaal, „schrecklich gerecht“ auch gegen sich selbst.
Souverän und mit tiefen Innensichten in menschliche Verheerungen erzählt Ursula Krechel Geschichten von Verfolgten und Betrogenen. Für den Anwalt in „Landgericht“ ist aus der „Verfolgung seiner Person eine Verfolgung seiner Ansprüche geworden“. Für die „Sehr geehrte Frau Minister“ in dem jüngsten, 2025 erschienenen Roman ist es die Gewalt, deren „lange Wut“ in vier Lebensschicksalen erzählt wird, im kaiserlichen Rom, im Kapitalismus, in der Politik – und im weiblichen Körper.
„Lang“ ist diese Wut für Krechel, weil sie im Schreiben diszipliniert werden kann. Das gelingt vor allem in ihren Gedichten. Die Autorin versteht sich auf die Kunst, Wünsche im Gesicht der Zögernden und Schweigenden, der Klagenden und Fragenden abzulesen, und baut ihnen Maulwurfshügel aus Worten, geschickt aufgehäufte Denkbilder. Etwa in einem Gedicht aus dem Band „Kakaoblau“ (1989): „Haben und Soll stehen in verschiedenen Spalten. /So wissen sie nie, was sie voneinander halten. / Soll das Haben dem Soll auf die Schulden schielen? / Soll das Soll vom Haben ein Trinkgeld kriegen?“ Der Band ist, mit einem winzigen Zusatzbuchstaben, „für Erwachsende“ bestimmt. Sprachspiel und Sprachzauber, andauernde Reifeprüfung und die lange Wut gegen Gewalt gehören für Ursula Krechel zusammen.