In der Bonner Schau „Expedition Weltmeere“ können Besucher in die lebende Unendlichkeit der Ozeane eintauchen.
BundeskunsthalleKann eine Ausstellung 70 Prozent der Erdoberfläche abdecken?

Fotograf Joan Fontcuberta taucht auf den Spuren Charles Darwins vor den Kokosinseln
Copyright: Joan Fontcuberta
Per Lift geht es auf den Meeresgrund, hinab in die „lebende Unendlichkeit“, wie Jules Verne den Ozean nannte, 11.000 Meter - so tief wie der Marianengraben im Pazifik. Vorbei an Vampirtintenfisch und Feuerwerksqualle, Kreaturen, von denen manchmal nur eine einzige Aufnahme existiert, hinab in Gefilde, die bislang nur der Schweizer Ozeanograf Jacques Piccard und der US-Kapitänleutnant Don Walsh mit der druckfesten Tauchkugel „Trieste“ erreicht haben – und 50 Jahre später der vom Meer faszinierte Großfilmregisseur James Cameron mit der „Deepsea Challenger“.
Der im ornamentalen Stil der Vern'schen „Nautilus“ imaginierte Unterwasserfahrstuhl ist eine hübsche Spielerei in der neuen Ausstellung in der Bundeskunsthalle „Expedition Weltmeere“. Ein Modell des U-Boots von Kapitän Nemo steht gleich nebenan und ein zweiter immersiver Tauchgang lässt die Besucher erneut an den ozeanischen Träumen Jacques Piccards teilnehmen, verwirklicht dessen Pläne für ein Tiefsee-Habitat. Von dort aus taucht man per VR-Brille zum erst 2022 in 3008 Metern Tiefe entdeckten Wrack der vom Packeis zerquetschten Schonerbark „Endurance“ des Polarforschers Ernest Shackleton.
Die vielleicht größte Entdeckung des 20. Jahrhunderts über den Ozean war die Entdeckung des Ausmaßes unserer Unwissenheit.
Während die Welt im Juli 1969 gebannt auf die Mondfahrt der Apollo 11 blickte, ließ Piccard im Auftrag der Nasa sein U-Boot PX-15 einen Monat lang im Golfstrom treiben, sammelte in nahezu vollständiger Dunkelheit Daten über Tiefenströmungen, Temperaturverhältnisse und den Meeresboden. Diese andere Mission in unbekanntes Terrain geriet in Vergessenheit, wie zur Bestätigung der Binsenwahrheit, dass wir heute mehr über das Weltall als über die Weltmeere wissen.
„Die vielleicht größte Entdeckung des 20. Jahrhunderts über den Ozean war die Entdeckung des Ausmaßes unserer Unwissenheit“, sagte Sylvia Earle, deren Karriere als Meeresforscherin damit anfing, dass sie als Dreijährige am Strand von New Jersey von einer Welle verschluckt wurde. Bis heute, ergänzt Katja Matthes, sind nur 27 Prozent des Meeresbodens kartiert. Matthes ist Direktorin des Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, dem Kooperationspartner der Bonner Meeresschau und Leihgeber eines der Highlights, des Kieler Weltreliefs. Wo auf anderen Karten nur eine blaue Fläche zu sehen ist, zeigt diese dreidimensionale Abbildung der Oberfläche unseres Planeten im Maßstab 1 Zentimeter zu 174 Kilometern und in 60-facher Überhöhung die Berge und Täler unterhalb des Meeresspiegels, eine Welt in der Welt, die wir irrtümlich „Erde“ nennen.

Ein Orca hängt in Bonn freundlich von der Decke.
Copyright: Mick Vincenz
Die Vereinten Nationen haben die 2020er Jahre zur „Ozeandekade“ ausgerufen, mit dem Ziel „durch gemeinsame Forschungsprojekte, Handlungsstrategien und Informationskampagnen bis 2030 einen gesunden und nachhaltig bewirtschafteten Ozean zu schaffen“. Ob der ehrgeizige Zeitplan eingehalten wird? Die Meere, heißt es in Bonn, sind unsere Verbündeten im Kampf gegen die Klimakrise, schlucken ein Viertel des menschengemachten Kohlenstoffdioxids und 90 Prozent der überschüssigen Wärme.
Bereits in den 1960er Jahren, informiert eine Tafel in der Ausstellung, hatte die Seerechtlerin Elisabeth Mann Borgese, Tochter des Literaturnobelpreisträgers, erklärt: „Wir müssen die Ozeane retten, wenn wir uns selbst retten wollen.“

Margarete und Christine Wertheim haben ein Korallenriff gehäkelt.
Copyright: Nikolay Kazakov/Museum Frieder Burda, Baden-Baden
Die beiden Kuratorinnen Katharina Chrubasik und Agnieszka Lulińska folgen den Überlegungen der US-Biologin Rachel Carson, man müsse den Menschen die Schönheit der Meere zeigen, dann hätten sie vielleicht weniger Lust, sie zu zerstören. Weshalb man in Bonn etwa die Schäden der Korallenbleiche durch das spektakulär gehäkelte Korallenriff der australischen Zwillingsschwestern Margaret und Christine Wertheim thematisiert, und die Plastikvermüllung des Meeres durch fantastische Tierwesen, die der Künstler Steffen Blandzinski aus solchen selbst gefischten Abfällen schöpft oder einer großformatigen Fotoarbeit der Britin Mandy Barker, in der bunte Plastikfetzen wie interstellare Objekte durch die schwarze See treiben.
Apokalyptische Visionen wollten die Kuratorinnen vermeiden. Doch in allen drei Fällen verweist die schöne Oberfläche auf tiefergehende Probleme, sie sind Paradebeispiele für das Ziel der Schau, mit der Kunst die Wissenschaft zu unterstützen (tatsächlich handelt es sich wohl eher um eine wechselseitige Beziehung). Allein mit solchen Stücken hätte man eine ganze Ausstellung bestreiten können, und das größte Manko von „Expedition Weltmeere“ ist denn auch das riesige Gebiet, das man sich abzudecken bemüht. Sextanten, Chronometer und zunehmend genauere Karten – Martin Waldmüllers „Universalis Cosmographia“ verwendet als erste den Namen „America“ – zeigen die zunehmend sicherere Navigation auf den großen Gewässern, Tiefendrifter, Gleiter, Mesokosmen und Echolote stehen für die heutige Tiefenmessung des unbekannten Raums, Modelle von Tankern, Bohrinseln und eine gewaltige Granatharpune für seine Nutzbarmachung und Ausbeutung.
Ausgewählte Einzelschicksale erzählen stellvertretend die Geschichte der Meere als Transferzone für Ideen und Menschen, solche, die neue Hoffnung hinterm Horizont suchen, aber auch jene rund 13 Millionen, die unter Deck eng zusammengepfercht als Sklaven über den Atlantik verschifft wurden. Der Kontrast zur Wunderkammer mit Handschuhen aus Muschelseide, zu Sagen, Mythen, Abenteuer des Meeres, oder den filigranen, in dieser Qualität nie wieder erreichten Modellen von Quallen und Seeanemonen der Glaskünstler Leopold und Rudolf Blaschka – er könnte nicht größer sein.
So verliert man mitten auf dem Wasser leicht die Orientierung, vergisst das dunkle Universum, auf dessen Oberfläche man schwimmt. Weniger wäre, Verzeihung, Meer gewesen, aber als erster Fischzug durch den Ozean unseres Nichtwissens taugt diese Expedition allemal.
„Expedition Weltmeere“ bis 6. April 2026, Bundeskunsthalle Bonn. Zur Ausstellung ist ein sehr lesenswertes Magazin (19,90 Euro) erschienen.