Chilly Gonzales„Ich mag weder Frank Ocean, Kendrick Lamar, Björk noch Radiohead“

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Chilly Gonzales

Chilly Gonzales

  • Am Montag spielt Chilly Gonzales endlich wieder in seiner Wahlheimat Köln, ab 19 Uhr tritt er im Tanzbrunnen auf.
  • Wir trafen den Pianisten am Rathenauplatz und unterhielten uns mit ihm über die heimlichen Freuden des Lockdowns.
  • Der Kanadier hat sein erstes Buch geschrieben: Ein Lob der Sängerin Enya und des unerschrockenen Geschmacks.

Köln – Chilly Gonzales, wann haben Sie Ihr letztes Konzert gegeben?

Beim Jazzfestival in Moers. Da waren nur so um die 40 Leute mit Masken im Publikum. Aber immerhin war es ein richtiger Veranstaltungsort mit einem guten Klavier. Ich habe den typischen Adrenalinschub gespürt. Deshalb bin ich bereit, aufzutreten, egal was ich dafür unternehmen muss. Ich sehne mich nach dieser Zusammenarbeit zwischen mir und dem Publikum. Entertainment, das ist das Gefühl, miteinbezogen zu sein.

Wenn Sie im Morgenmantel und Pantoffeln die Bühne betreten, machen Sie diese zu Ihrem Homeoffice. Da haben Sie gewissermaßen Pionierarbeit geleistet!

Alles zum Thema Musik

Ja, das stimmt. Aber immerhin trage ich Hosen darunter. Bevor ich am Montag in Köln auftrete, spiele ich dieses Wochenende in Hamburg, in einem Innenraum vor 100 Gästen mit großem Abstand. Ich gebe zwei Konzerte hintereinander, die Zuschauer haben ihre Tickets bei einer Tombola gewonnen. Eine ganz neue Situation also, da werde ich wohl auch einiges dazulernen.

Haben Sie die gesamte Coronazeit in Köln verbracht?

Nicht ganz, ich war auch einige Zeit in London, aus persönlichen Gründen. Ich gehöre insofern zu den glücklichen Leuten, als ich eh vorhatte, dieses Jahr viel Zeit zu Hause zu verbringen. Letztes Jahr habe ich umso mehr Konzerte gegeben. Der Lockdown kam für mich zeitgünstig. Aber viele meiner Freunde, ob Musiker oder nicht, hatten eine sehr schwere Zeit.

Was haben Sie mit all der tourneelosen Zeit angefangen?

Ich habe viel neue Musik komponiert. Einige Kollaborationen, die ich schon lange ausprobieren wollte, waren plötzlich ganz leicht, weil jeder zu Hause saß und sich auf seine Arbeit konzentrierte. Ich habe noch mehr Bücher gelesen als sonst und weniger Zeit mit Social Media verbracht. Ein Teil meines Jobs besteht darin, ständig zu reisen, neue Leute zu treffen. Ich habe mir lange gewünscht, mehr Zeit mit mir selbst verbringen zu können. Zeit, Dinge auszuprobieren, Zeit für Inspiration.

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Haben Sie während des Lockdowns Neues gelernt?

Ich habe angefangen zu gärtnern. Und ich habe musikalisch einiges Neues versucht.

Inwiefern?

Meine Musik war immer ein wenig strukturkonservativ. Ich habe oft versucht, mir selber Streiche zu spielen, um aus diesen Käfig auszubrechen. Ich glaube, bei „Solo Piano III“ ist mir das ein wenig gelungen. Jetzt habe ich mich herausgefordert, in dem ich mit Musikern zusammengearbeitet habe, die ganz anders denken als ich.

Sie haben die Zeit auch genutzt, um ein Buch zu schreiben. Darin erwähnen Sie eine Frage, die sie Bewerbern für Ihre Musikschule — das Gonzervatory — stellen: Welchen ikonischen Künstler können Sie nicht ausstehen? Und Sie?

Oh, da gibt es einige: Mir hat noch kein Musikstück von Beethoven wirklich gefallen. Ich mag weder Frank Ocean, noch Kendrick Lamar, die ja sonst jeder mag. Björk, Radiohead, aber da gibt es natürlich einige, die die auch nicht abkönnen. Es ist aber nicht wichtig, wen ich mag oder nicht. Prince ist ein musikalischer Gott für mich. Als ein Bewerber „Prince“ antwortete, war ich schockiert. Niemand hat ein völlig unbeeinflusstes Verhältnis zu seinem Geschmack. Wie kann man seinem eigenen Geschmack also vertrauen? Diese Frage treibt mich um.

Birne oder Banane? Beethoven oder Björk?

Das frage ich mich auch: Mag ich die Platten, die auf den vorderen Rängen der Jahresbestenlisten landen wirklich?

Es gibt eine neue Art von Objektivität, bei der es sich eigentlich nur um Konsens handelt. Geschmack ist subjektiv. Was schmeckt besser, eine Birne oder eine Banane? Nur wenn es um Kunst geht, schätzen wir die Subjektivität von Kritikern, ein wenig höher, als die anderer Leute. Diese Kritiker wiederum bilden eine eingeschworene Gemeinschaft, die gar nicht mehr offenen Ohres zuhören kann. Mir geht es ja ähnlich: Ich gebe oft Künstlern keine Chance, die schon sehr populär sind. Lana Del Rey zum Beispiel habe ich erst vor drei, vier Jahren für mich entdeckt.

Weil der Konsens zu groß war?

Ja, wenn zu viele Leute darüber reden, schreckt mich das ab. Ich habe deswegen auch nie „Breaking Bad“ gesehen.

In Ihrem Buch geht es nun um eine Künstlerin, die Millionen Tonträger verkauft hat, Enya.

Viele sagen, sie hören Enya als „guilty pleasure“, als heimliches Vergnügen. Diese dritte Kategorie fasziniert mich. Es gibt den Kindergeschmack: Dir gefällt, was dir gefällt. Dann kommt die Phase, in der wir unsere soziale Rolle wahrnehmen. Bei mir war das die Zeit, in der ich so ein Indierock-Typ sein wollte, weil mir mein eigener Geschmack peinlich war. Dazwischen liegt die Kategorie der „guilty pleasures“ — ich mag es, aber ich denke, ich sollte es nicht mögen. Nur: Woher kommt die Schuld?

Weil man das Urteil der Anderen fürchtet? Ich mag Andrew Lloyd Webber-Musicals. Aber es ist mir schwer gefallen, das gerade zuzugeben.

Ein sagenhafter Songschreiber, seine Melodien sind unglaublich. Aber er ist in unserer Gesellschaft fest als Kitsch verankert.

New-Age-Sängerin Enya als schuldloses Vergnügen

Sie argumentieren, dass guilty pleasures“ das wahre Vergnügen sind. Warum haben Sie gerade Enya ausgewählt?

Es gibt sicher Künstler, die ich mir sehr viel häufiger anhöre. Aber ich bin von KiWi für ihre Reihe „Musikbibliothek“ angesprochen worden, und die sieht es vor, dass man über einen Künstler schreibt. Und weil sich die ersten Bände der Reihe ausschließlich männlichen Künstlern widmeten, wollte ich über eine Frau schreiben. Als mir Enya einfiel, musste ich selbst lachen. Das passte einfach.

Aber warum?

Weil Enya zwar als „guilty pleasure“ gilt, aber wenn man sich ihre Karriere genau anguckt, entdeckt man eine kompromisslose Künstlerin. Sie ist die Königin der Verweigerung.

Sie gibt keine Interviews, tourt nicht...

...genau, und je länger ich mich mit ihr beschäftigte, desto faszinierender fand ich sie. Ich fragte mich: Warum gefallen mir gerade solche beruhigenden weiblichen Stimmen? Das führte mich dazu, darüber zu schreiben, wie es mir als Kind mit einer Mutter erging, die keine beruhigende Erscheinung war. Ich begann das Buch mit dem Satz „Meine Mutter hat mir keine Schlaflieder gesungen“ — der Rest floss einfach aus mir heraus.

Sehnsucht nach dem, was als Kind fehlte

Ihr wahrer Geschmack ist die Sehnsucht nach etwas, was Sie als Kind vermissten?

Ja, das ist so. Was uns an einem Kunstwerk anzieht, sind doch gerade die Dinge, die es unterlässt. So eine Art unsichtbare Abwesenheit, die unseren Geschmack stärker bestimmt, als der Inhalt eines Kunstwerks. In den vergangenen Monaten habe ich oft Alptraum-Szenarien entworfen: Was, wenn ich fünf Jahre lang keine Konzerte mehr spielen kann? Wie würde sich meine Kunst verändern? Es geht immer um Beschränkungen. Meine Schülern am Gonzervatory lehre ich, was man nicht tut. Was passiert, wenn du eine Melodie ohne Akkorde komponierst? Wenn du nur zwei Noten benutzen darfst? Enya benutzt kein Schlagzeug, oft singt sie noch nicht einmal. Kunst wird durch den negativen Raum um sie herum festgelegt.

Sie haben auch von der maximalistischen Deklaration „Gonzales über alles“ zur bewusst simplen Pianomelodie von „Gogol“ gefunden.

Und es gibt noch eine Menge anderer Dinge, die ich weglasse: Ich benutze auf der Bühne nie elektronische Instrumente. Das Gefühl von elektronischer Musik erzeuge ich mit dem Klavier. Ich lasse auch mein Privatleben aus der Öffentlichkeit. Ich will das Geheimnis bewahren, inwieweit meine Bühnenpersona der privaten Person entspricht. Schade, dass viele nicht merken, wie mutig Enya in ihrer Karriere war. Ich habe früher zu allem „Ja“ gesagt, dachte, ich müsste eine Schlampe sein, um meine Musik zu verkaufen. Deswegen schreibe ich so oft über Enyas Eier.

Klaviermusik für die Hipster-Dinnerparty

Das wäre ein fantastischer Titel gewesen: „Enyas Eier“!

Glauben Sie mir, ich habe mit dem Gedanken gespielt. Wie stellen wir uns den typischen Enya-Fan vor? Eine Frau mittleren Alters, die sich zu Kerzenlicht ein Schaumbad einlässt. Aber das ist doch kein hinreichender Grund, um Enyas Musik als kitschig zu bezeichnen. Meine Musik hat man als Hipster-Dinnerparty-Musik beschrieben. Deswegen sehe ich mich selbst in Enya. 

Stört Sie das denn, wenn jemand Ihre Musik als Hipster-Soundtrack bezeichnet? 

Nein, ich freue mich darüber. Die Leute hätten ja jede mögliche Musik für ihre Dinnerparty auswählen können, aber sie haben meine genommen. Das hätte ich vielleicht nicht gesagt, als ich noch jünger war, und so herausfordernd klingen wollte wie Sonic Youth. 

Sie schreiben, das Stimmen für Sie vertrauenswürdig sein müssen. Was macht eine vertrauenswürdige Stimme aus? 

Ich mag keine lauten Sänger. Wahrscheinlich weil meine Mutter so oft geschrien hat. Deswegen vertraue ich ruhigeren Stimmen. Es gibt Sänger, da frage ich mich, wie das den Leuten bloß gefallen kann, es klingt so fake. Andere wiederum können Lana Del Reys Stimme nicht ausstehen, die für mich so authentisch klingt. Ich vertraue ihr total, gerade weil sie sich so fehlerhaft gibt. Bei Politikern geht es mir ganz ähnlich: Viele halten Justin Trudeau, den Premierminister von Kanada, für vertrauenswürdig. Ich nicht. Mir kommt er wie jemand vor, der die Rolle des perfekten Typen nur spielt. Ich vertraue niemandem, der sich so perfekt gibt.  Da ist mir jemand, der sich offen wie ein Arschloch aufführt lieber. 

Der Mut zur falschen Note

Finden Ihre negativen Seiten auch in Ihrer Musik Niederschlag?

Sie haben meine Rap-Songs doch gehört? Sie haben mich auf der Bühne gesehen?

Ja klar, Sie legen diese charmante Arschlochhaftigkeit in ihren Raps und in ihrer Bühnenpersona frei. Aber auch in der Musik? 

Ich lese gerade ein musikphilosophisches Buch über den Moment, als die Deutschen sich von der Vorherrschaft der italienischen Oper befreiten und anfingen sogenannte absolute Musik zu komponieren, Musik ohne Worte. Die sei wahrhaftiger. Ich versuche auf meine eigene Weise auch, mich frei zu machen, ein wenig mehr Dissonanz zuzulassen. „B Natural“ auf „Solo Piano III“ ist so ein Song, in dem ich mich weigere, eine falsche Note aufzulösen. Ich versuche das auch, weil es momentan diesen Musiktrend namens Neoklassische Musik gibt, unpersönliche Musik, die eigens dafür geschaffen wurde, auf Spotify-Playlisten wie „Peaceful Piano“ zu landen. Ich bin stolz darauf, dass meine Musik nicht auf diese Playlisten passt. Ich will doch ein etwas breiteres Spektrum an Emotionen ansprechen. 

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