Claudia Schumachers „Liebe ist gewaltig“ ist das „Buch für die Stadt“ in diesem Jahr. Sie spricht über die Ursachen und verheerenden Folgen von Gewalt. Auftakt am 15. November im Schauspielhaus.
„Buch für die Stadt“ über häusliche Gewalt„Es ist auch ein sehr weißes, sehr mittelständisches und auch ein Oberschichten-Problem“

Claudia Schumacher, Autorin des Buchs für die Stadt 2025, "Liebe ist gewaltig"
Copyright: Jewgeni Roppel
Frau Schumacher, häusliche Gewalt ist ein komplexes, herausforderndes Thema. Warum haben Sie sich entschieden, sie zum Thema ihres literarischen Debüts zu machen?
Ich wollte einen Coming-of-Age-Roman schreiben, vom Heranwachsen unter schwierigen Vorzeichen erzählen. Wie wird ein Mensch, wer er ist? „Liebe ist gewaltig“ dreht sich um eine junge und leidenschaftliche Frau, die sich mit viel Galgenhumor durch ihr Leben boxt. Sie sucht die Liebe, will Spaß haben, stößt dabei aber immer wieder an ihre Grenzen, weil sie von ihrem Trauma eingeholt wird. Mich interessiert die Frage, wie Gewalt in der Familie überhaupt möglich ist. Wie können Menschen, die einander sehr nah sind, die sich auf irgendeine Weise auch lieben, grausam zueinander werden? Das gilt ja im Allgemeinen für dysfunktionale Liebe, für Mikroaggressionen im Alltag und für psychische Gewalt, um die sich mein Roman auch dreht.
Wie haben Sie sich dem Thema genähert?
Ich hatte zuerst journalistisch recherchiert, und mich haben bestimmte Dinge am öffentlichen Diskurs geärgert. Das eine war, dass oft so getan wurde, als wäre das ein Thema von unten. Stichwort: der Alkoholiker und Schlägervater. In der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, war es oft auch das Stichwort Ehrenmord. Da hat man gerne so getan, als wäre häusliche Gewalt ein Phänomen von Einwanderung.
In Professorenfamilien gibt es einen Peak an häuslicher Gewalt. Weil Jobs mit hohem Prestige oft narzisstische Menschen anziehen
Was nicht stimmt.
Wenn man sich ein bisschen mit den Statistiken befasst, merkt man schnell, dass das nicht so ist und alle Schichten durchzieht. Es ist eben auch ein sehr weißes, sehr mittelständisches und auch ein Oberschichtenproblem. In Professorenfamilien gibt es einen Peak an häuslicher Gewalt. Weil Jobs mit hohem Prestige oft narzisstische Menschen anziehen. Das heißt, Narzissmus und häusliche Gewalt sind sehr verlinkt. Ich habe gemerkt, dass es ein unglaublich komplexes Thema ist, dass viele Graustufen hat.
Sie sind beim Recherchieren schnell an Grenzen gestoßen. Warum?
Beim Recherchieren ist der erste Weg oft, ins Frauenhaus zu gehen, aber dort gibt es tatsächlich kaum Frauen von der Mittelschicht aufwärts. Dann habe ich versucht, über Psychologinnen und Psychologen Fälle zu recherchieren. Auf diese Weise konnte ich auch mit Frauen aus der Mittel- und Oberschicht sprechen. Das Problem ist aber, dass die sehr protektiv sind mit ihrer Geschichte. Je höher man geht im sozialen Ansehen, desto stärker ist das Bedürfnis, die Vorhänge zuzuziehen und die Fassade aufrechtzuerhalten. Mir wurde schnell klar, dass das eher ein literarischer Stoff ist und dass es auch die Langstrecke braucht, um das zu erzählen.
Was fasziniert Sie an diesem Thema, dass Sie sich dafür so intensiv in einem Roman auseinandersetzen wollten?
Gewalt generell fasziniert mich. Sie ist explosiv und ambivalent von den Affekten. Gerade bei häuslicher Gewalt - wenn man literarisch-mechanisch draufschaut – gibt es diese Kammerspiel-Dynamik, diese Psychologische in einer Familie. Es wird sehr schnell existenziell, es geht um Grundfragen menschlicher Natur, es geht um Abgründe. Es geht auch darum, wie schnell der zivilisatorische Firnis reißt. Das ist ein starker literarischer Stoff. Jede dritte Frau wird im Verlauf ihres Lebens das Opfer von Gewalt in irgendeiner Form. Ich habe mich gewundert, warum sich nicht jedes dritte Buch um das Thema dreht. Aber es ist stark tabuisiert.
Als Journalistin nähern Sie sich dem Thema Gewalt mit Distanz, als Autorin müssen Sie sich in Ihre Hauptfigur Juli einfühlen. Wie kann das gelingen?
Ich habe nach dem richtigen Blickwinkel gesucht, wie man es erzählt. Es war eine kompromisslose Entscheidung zu sagen, ich ziehe mir das wirklich an, fühle mich ganz tief ein und erzähle über weite Strecken aus der Ich-Perspektive. Es gab ein Vorgängermanuskript, einige Jahre bevor ich „Liebe ist gewaltig“ angefangen habe. Da habe ich gemerkt, dass ich es noch nicht ganz verstanden hatte. Dieses Manuskript war noch nicht dreidimensional und komplex genug. Als ich dann „Liebe ist gewaltig“ angefangen habe, hatte ich mich schon viele Jahre mit dem Stoff befasst. Ich hatte viele Interviews geführt, viel gelesen.
Ich habe mich gefühlt wie eine Chemielaborantin, die ins Labor geht und ihren Schutzmantel nicht anhat
Wie spricht man angemessen über Gewalt?
Bei der Sprache war es mir wichtig, durch eine gewisse Detailversessenheit, Präzision und Direktheit ein unmittelbares Leseerlebnis zu erzeugen. Dass man es nicht im Lehnstuhl zurückgelehnt mit Sicherheitsabstand liest. Diese Erfahrung habe ich auch beim Schreiben gemacht. Ich glaube, was Emotionalität von Texten angeht, gibt es zwei Wege, wie man es machen kann. Es gibt einen manipulativen Ansatz, den kann man über den Kopf regeln. Wenn man eine große Sentimentalität, vielleicht auch einen gewissen Kitsch will, kann man das orchestrieren. Aber ich glaube, wenn die Emotionalität möglichst authentisch sein soll, muss man sich wirklich darauf einlassen.
Wie herausfordernd war das emotional?
Es ist ein toxischer Stoff, über den ich geschrieben habe. Da passieren heftige Sachen. Das war beim Schreiben nicht immer einfach. Es war schon explosiv, und es ist mir auch manchmal ins Gesicht explodiert. Ich habe mich gefühlt wie eine Chemielaborantin, die ins Labor geht und ihren Schutzmantel nicht anhat. Aber das war gewollt. Ich hielt es für richtig, mich dem vollumfänglich auszusetzen. Man kann sich nicht hinsetzen und mal ein bisschen über häusliche Gewalt schreiben.
Wie haben Sie die Stimme dieser Jugendlichen gefunden? Es kann ja schnell schiefgehen, wenn Erwachsene Jugendsprache imitieren.
Das war eine Suchbewegung. Ich nehme mir sehr viel Zeit, um den Stoff zu entwickeln und die richtige Stimme zu finden. Die Sprache ist viel Architektur. Man macht Schreibanläufe, und dann ist es vielleicht auch mal cringe, was man macht. Ich habe mir die Klassiker der Weltliteratur, die solche jungen Erzählfiguren haben, angeguckt. In „Catcher in the Rye“ oder auch „Tschick“ sind das sehr klar jugendliche Stimmen, die machen Fehler beim Sprechen, das macht Juli auch, aber ich habe nicht die damaligen Jugendwörter des Jahres verwendet. Am Ende ist es eine artifizielle Sprache, die im Idealfall doch eine authentische Lebendigkeit hat.
Die Gewalt in der Familie Ehre geht aus vom Vater. Aber die Konzentration in Ihrem Roman ist auf andere Figuren gerichtet. Wollten Sie den Fokus vom Täter weg verschieben?
Mir war es auf jeden Fall ein Anliegen, die weibliche Erfahrung von Gewalt in den Mittelpunkt zu stellen. Mit Juli und auch mit dem Blick auf die Mutter. Es war so, dass diese weibliche Erfahrung noch so ungelesen war, dass sie in der Rezeption stark in den Vordergrund rückte. Der gewalttätige, tyrannische, cholerische Vater wurde schon ein paar Mal literarisch ausgeleuchtet.
Die Mutter ist eine sehr ambivalente Figur.
Ich fand die Mutter in diesem Zwielicht der Mittäterinnenschaft, die einerseits selbst Opfer ist, andererseits auch starke narzisstische Anteile hat und sehr aufs Überleben der Familie, aufs Aufrechterhalten der Fassade fixiert ist, sehr spannend. Sie gaslightet, wie man heutzutage sagt, die Kinder sehr stark. Sie versucht, das Narrativ umzuschreiben. Sie ist wie eine Spinne, die über der Familie sitzt und ihre Fäden spinnt und ihr Opfersein in den Vordergrund stellt, aber gleichzeitig alle manipuliert. Im öffentlichen Diskurs ist man schnell bei einem sehr simplen Täter-Opfer-Schema und sieht das Komplexe in einer solchen Familiendynamik nicht.
Statistisch ist es in unserer Gesellschaft so, dass das Prügeln bei Mädchen zunimmt. Das ist vielleicht eine Schattenseite von Emanzipation
Beim Lesen fragt man sich oft, warum sie ihren Mann nicht verlässt.
Ich werde oft gefragt, warum sie nicht geht. Und ich wollte darauf keine einfache Antwort geben. Sie rutscht da rein. Es ist etwas, das sich aufbaut. Da ist eine lange, über Jahrzehnte orchestrierte Manipulation und Verstrickung in einer solchen Familie. Es ist nicht leicht, sich daraus zu lösen. Die Erniedrigung, die ihr Mann ausübt, und das gedrückte Selbstwertgefühl, machen es ihr unmöglich, zu gehen. Das missbräuchliche Narrativ, das der Täter die ganze Zeit kolportiert, ist ja, gerade wenn der Täter wie in meiner Geschichte ein Narzisst ist: Du bist Dreck, ich bin toll, und so etwas Gutes wie mich findest du nie wieder. Die Mutter gerät in eine Co-Abhängigkeit. Sie sind auf eine dunkle Art sehr miteinander verwachsen.
Trotz allem fühlt sich Juli ihrem Vater näher als ihrer Mutter.
Das hat mich auch interessiert. Statistisch ist es in unserer Gesellschaft so, dass das Prügeln bei Mädchen zunimmt. Das ist vielleicht eine Schattenseite von Emanzipation, dass man Mädchen mehr Aggressivität zugesteht. Ich wollte den lebenslangen Kampf einer jungen Frau erzählen, die die Gewalt und Misogynie so eingeprügelt bekommen hat. Sie hat frauenfeindliche Impulse in sich. Das ist eben der berühmte Kreislauf von Gewalt, dass aus Opfern Täter und Täterinnen werden. Ein Stück weit wollte ich Juli auch als Täterin erzählen, ihre Probleme mit Impulskontrolle und Aggressivität. Es ist die Wahrheit bei Gewalt, dass sie sich genau auf diese Art fortsetzt.
Sie haben auch im Gefängnis gelesen. Sind Sie dort auf Menschen mit einer ähnlichen Geschichte getroffen?
Die Mehrheit der Insassen hatte eine häusliche Gewaltgeschichte in der Kindheit, sowohl die Männer als auch die Frauen. Da erkennt man die gesellschaftliche Dimension von all dem. Bei den meisten Kriminellen muss man nicht lange suchen, um einen prügelnden Vater, sexuellen Missbrauch, irgendeine Form von Gewalt in der Jugend zu finden.
Und diese Gewalt ist so verbreitet, dass sie jeden treffen kann.
Ja, gerade Gewalt gegen Frauen ist so endemisch in unserer Gesellschaft, dass auch die toughsten Frauen, bei denen man es vielleicht nicht erwartet, in solche missbräuchlichen Verhältnisse rutschen können. Ich habe auch prominente Frauen, die sehr feministisch auftreten, getroffen, die mir erzählt haben, dass ihnen das passiert ist. Viele, die sich nicht mit dem Thema befassen, erwarten gedrückte, schüchterne Frauen, mit denen man es machen kann. Das stimmt nicht. Das kann allen passieren. Und gerade Kinder können sich nicht aussuchen, in welche Familie sie geboren werden.
Aber auch, wenn Juli dieses Trauma erleben musste, zeigen Sie auf, dass ein anderes Leben möglich ist.
Ich wollte ein Mädchen zeigen, das einen Charakter hat, der nicht den Opferklischees entspricht. Sie hat eine eigene Kraft, will ein schönes Leben haben. Aber wie kann das gelingen, wenn jemand eine solche Blaupause für Liebe mitbekommen hat in der Familie? Wie kann eine solche Person später Liebe finden? Die Beziehung in der Herkunftsfamilie mit den Eltern hat ja auch eine hohe Intimität. Menschen, die in dieser totalen Nähe so verletzt wurden, haben später, sobald Nähe entsteht, ihre Schwierigkeiten. Das wollte ich erzählen. Aber der Titel ist keine Irreführung: Liebe ist gewaltig. Und Juli sucht Liebe.
Das „Buch für die Stadt“ ist eine Literaturaktion von Literaturhaus Köln und „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Jury bildeten Bettina Fischer (Literaturhaus Köln), Hildegund Laaff (Lengfeld'sche Buchhandlung), Martin Oehlen (Literaturblog „Bücher-Atlas“) und Anne Burgmer („Kölner Stadt-Anzeiger“). Die Sonderausgabe des Romans ist im dtv Verlag erschienen.
Auftaktveranstaltung am 15. November, 19.30 Uhr, Schauspiel Köln, Schanzenstraße6-20. Claudia Schumacher liest aus ihrem Buch und spricht darüber mit Anne Burgmer. Es gibt noch einige Tickets: schauspiel.koeln
„Alle Informationen und Termine finden Sie auf der Seite zur der Aktionswoche: bfds.ksta.de“

