Regisseur und Emmy-Preisträger Joel 'Kachi Benson will mit seiner Doku beim Afrika Film Festival den Müttern der 2014 in Chibok entführten Schülerinnen eine Stimme geben.
Emmy-Preisträger Joel 'Kachi Benson zum Afrika Film Festival„Ich möchte den Frauen Gehör verschaffen“

In "Mothers of Chibok" (2024) porträtiert Joel 'Kachi Benson vier Mütter, dessen Töchter 2014 von Boko Haram entführt wurden als Heldinnen, die den Terror nicht siegen lassen.
Copyright: Afrika Film Festival Köln
Herr Benson, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Emmy für „Madu“! Der Film begleitet den jungen Anthony aus Lagos, der durch ein Tanzvideo im Netz berühmt wurde und so ein Ballett-Stipendium in England erhielt. Haben Sie sich in seiner Geschichte wiedererkannt?
Joel 'Kachi Benson: Ja, sie erinnert mich sehr an meine eigene. Als junger Mensch, der Dokumentarfilme drehen wollte, wurde mir ständig gesagt, das sei Unsinn, ich würde damit niemals Geld verdienen. Aber ich wollte es unbedingt, weil ich dieses Medium einfach liebe. Als Anthony mir von seinen Erfahrungen erzählt hat, konnte ich ihn deshalb gut verstehen: Obwohl er in seiner Gemeinde dafür aufgezogen wurde, hat er seinen Traum, Tänzer zu werden, weiterverfolgt. Darin habe ich mich wiedergefunden – ein Hauptgrund, warum ich bei dem Projekt eingestiegen bin, als mein Co-Regisseur mich gefragt hat. Ich hoffe, dass dieser Emmy vor allem junge Filmemacher ermutigt, wichtige Themen zu erzählen und daran zu glauben, dass auch unsere lokalen Geschichten auf der globalen Bühne ihren Platz haben.
Welchen Herausforderungen sind Sie selbst begegnet, bevor Sie auf der globalen Bühne wahrgenommen wurden – die ja leider lange kaum Platz für afrikanische Perspektiven geboten hat?
Die größte Herausforderung war, wie für die meisten Filmemacher hier, der Zugang zu Ausbildung und Finanzierung. Filme zu drehen kostet viel Geld, ohne die richtige Unterstützung ist das kaum möglich. Aber man darf sich davon nicht aufhalten lassen. Ich habe anfangs viele Videos für Unternehmen gedreht und so meine Herzensprojekte finanziert. Entscheidend war für mich immer, die Geschichten zu erzählen, die mir wichtig sind – unabhängig von den Umständen. Meine Philosophie ist simpel: Erzähle mit Authentizität, Integrität und Ehrlichkeit. Was danach geschieht, liegt nicht in meiner Hand. Wichtig ist nur, dass ich meine Geschichten so wahrhaftig wie möglich erzählt habe und meinen Kontinent in dem Licht zeige, wie ich möchte, dass die Welt ihn sieht

Dokumentarfilmer Joel 'Kachi Benson gewann für seine Disney-Produktion „Madu“ einen Emmy.
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In Ihrem TED-Talk erzählen Sie von einem sehr persönlichen Wendepunkt.
Ja, vor einigen Jahren wurde ich Opfer einer Entführung und wurde mehrere Tage lang festgehalten. Das war sehr traumatisch, aber auch eine Zeit, in der ich sehr viel reflektiert habe. Meine Kinder waren noch sehr klein, und ich fragte mich immer wieder: Wenn ich sie nie wieder sehen werde, woran würden sie sich erinnern? Was habe ich mit meinen Fähigkeiten und meinem Talent wirklich bedeutendes geleistet? Was habe ich in meiner Gemeinschaft bewegt? Ich fand keine Antworten. Also habe ich mir selbst versprochen: wenn ich das überlebe, mache ich es besser.
Was haben Sie danach als Filmemacher geändert?
Ich habe mich viel mehr auf soziale Themen konzentriert: Wie kann ich zu Veränderungen beitragen? Wie kann ich meine Fähigkeiten und meine Kamera einsetzen, um jemandem eine Stimme zu geben oder Probleme in einer benachteiligten Gemeinschaft aufzuzeigen? Wie kann mein Erzählen Menschen dazu bewegen, aus Empathie heraus aktiv zu werden? Seitdem habe ich mich diesen Fragen verschrieben und damit gewissermaßen meinen Lebenssinn gefunden. Manchmal passieren Dinge im Leben, die einen auf den Weg bringen, den man schon immer hätte gehen sollen.
Sie haben sich unter anderem Chibok gewidmet, wo vor 11 Jahren 276 Schülerinnen von Boko Haram entführt wurden. Noch immer werden viele von ihnen vermisst.
Ich wollte diese Geschichte schon immer erzählen, weil ich einfach nicht verstehen konnte, wie so etwas passieren konnte. 2018 habe ich dort einen Virtual-Reality-Kurzfilm gedreht, der seine Premiere auf den Filmfestspielen von Venedig hatte. Wir hatten das große Glück, damit den Goldenen Löwen zu gewinnen, was der Gemeinde vor Ort viel Aufmerksamkeit gebracht hat.
Daraufhin haben Sie noch einen zweiten Film in Chibok gedreht. Was ist diesmal anders?
Mein erster Film konzentrierte sich auf die Trauer und den Schmerz der Frauen, die ihre Kinder vermissen. Es war eine reflexartige Reaktion auf die Zerstörung, die ich dort gesehen habe. Aber mit der Zeit wurde mir klar, dass diese Frauen viel mehr sind: Sie sind stark, wild, lustig; sie lachen, haben Freude. Ihr Leben wird nicht nur von Trauer bestimmt, wie ich sie immer gesehen habe und wie die Welt sie sieht. Ich hatte das Bedürfnis, dieses Narrativ zu ändern, um ihre Stärke, ihren Mut, ihre Hoffnung und ihre Widerstandsfähigkeit zu zeigen.
Entstanden ist der Dokumentarfilm „Mothers of Chibok“, der nun beim Afrika Film Festival in Köln gezeigt wird.
Ich habe vier Mütter einen ganzen Landwirtschaftszyklus lang begleitet. Dabei wollte ich die Frauen unbedingt in einem ausgewogeneren Licht darstellen. Mit dem, was sie durch die Ernte erwirtschaften, schicken sie ihre Kinder zur Schule. Sie haben nie damit aufgehört. Das ist sehr mutig, wenn man bedenkt, dass Boko Haram, was so viel heißt wie „westliche Bildung ist verboten“, ihre Töchter aus der Schule verschleppt hat. Trotzdem schicken sie ihre anderen Kinder weiter dorthin. Damit zeigen sie Boko Haram, dass sie sich nicht einschüchtern lassen. Das hat mich tief beeindruckt und inspiriert.

Obwohl ihre Töchter dort entführt wurden, arbeiten die Frauen in "Mothers of Chibok" (2024) hart, um ihre anderen Kinder zur Schule zu schicken.
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Ihr Film vermittelt uns einen sehr nahen Blick in das Leben der Mütter. Wie haben Sie das nötige Vertrauen aufgebaut?
Ich arbeite jetzt schon seit sieben Jahren mit den Frauen zusammen. Anfangs war das Vertrauen sehr gering. Sie hatten schon mit vielen Journalisten zu tun, die einmal kamen, um ihre Geschichte zu hören und wieder verschwanden. Aber ich bin immer wieder zurückgekommen, mit meinem Team, das sie auch auf ihren Farmen unterstützt. Ich war stark in ihre Leben involviert und wollte, dass sie Erfolg haben. Gemeinsam mit Freunden habe ich eine Spendenkampagne gestartet, um Geld für sie zu sammeln. All das hat dazu beigetragen, dass wir eine tiefere Verbindung zu ihnen aufbauen konnten. Als wir mit den Dreharbeiten für den zweiten Film begannen, war ich fast schon wie ein Familienmitglied.
Über die Entführung wurde damals international ausführlich berichtet, heute scheint das Schicksal der Gemeinde vergessen. Wollten Sie dem mit Ihrem Film entgegenwirken?
Wir leben in einer Welt mit sehr kurzen Nachrichtenzyklen. Kaum hat man ein Ereignis verarbeitet, kommt schon das nächste. Was vor zehn Jahren geschehen ist, ist da Schnee von gestern. Das schmälert aber nicht die Bedeutung. Mit meinem Film möchte ich daran erinnern, dass diese Geschichte noch immer nicht abgeschlossen ist. Auch wenn wir die Stärke und Widerstandskraft der Frauen würdigen, dürfen wir nicht vergessen, dass viele ihrer Töchter noch immer vermisst werden. Die Kernbotschaft des Films ist zwar nicht, dass die Mädchen nicht zurückgekehrt sind. Trotzdem hoffe ich, dass er die Verantwortlichen daran erinnert, dass es hier noch viel zu tun gibt. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Das ist der Sinn von Filmen, sie können Stimmen verstärken – und ich hoffe, dass dieser dazu beiträgt, den Frauen Gehör zu verschaffen.
Sie sind dieses Jahr zum ersten Mal beim Afrika Film Festival in Köln dabei. Worauf freuen Sie sich besonders?
Ich freue mich darauf, Menschen zu treffen, die sich für den Film begeistern, andere Filmemacher und die Community hier in Köln. Vor allem aber, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen. Veranstaltungen wie das Afrika Film Festival können ungehörten Stimmen einen Raum geben.
Das 22. Afrika Film Festival findet vom 18. bis 28. September an verschiedenen Spielstätten in Köln statt. Rund 80 Spielfilme, Dokumentationen und Kurzfilme aus über 20 Ländern werden gezeigt. Talks und Workshops bieten die Möglichkeit zum Austausch. Im vergangenen Jahr wurde das Festival vom Kölner Kulturrat als Kulturereignis des Jahres ausgezeichnet.
Der nigerianische Regisseur Joel 'Kachi Benson wurde zuletzt für seine Disney-Produktion Madu mit dem News & Documentary Emmy und bereits 2019 mit dem Goldenen Löwen für seine Arbeit über Chibok ausgezeichnet. Die Europapremiere von „Mothers Of Chibok“ ist am 21. September um 17 Uhr ebenfalls im Filmforum Ludwig und bereits am 19. September ist Benson zu Gast bei einem Gespräch über visuelle Strategien des afrikanischen Kinos, um 15.30 Uhr in der Aula der KHM.
Am 18. September, um 18:30 Uhr wird das Festival im Filmforum im Museum Ludwig mit Musik und dem „Film Retour Au Cinéma Vox“ feierlich eröffnet. Das gesamte Programm steht auf www.afrikafilmfestivalkoeln.de. Tickets sind online (rausgegangen.de) oder an der Abendkasse erhältlich und kosten 7 Euro bzw. 5 Euro ermäßigt; online kommen VVK-Gebühren hinzu.