Erfolgsmusical auf Disney+Warum „Hamilton“ gerade jetzt Trost spenden kann

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Daveed Diggs als Thomas Jefferson in der Filmversion des Broadway-Musicals „Hamilton“

Daveed Diggs als Thomas Jefferson in der Filmversion des Broadway-Musicals „Hamilton“

  • Am Broadway ist es seit fünf Jahren ausverkauft, jetzt zeigt Disney+ „Hamilton“ zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit.
  • Die filmische Dokumentation der Originalproduktion ist sensationell gelungen, erfüllt aber doch mit Wehmut.
  • Heute wirkt „Hamilton“ wie eine Zeitkapsel der Obama-Jahre, als die Welt vergleichsweise noch in Ordnung war.

Köln – „Wer lebt, wer stirbt, wer erzählt deine Geschichte?“, fragt Lin-Manuel Miranda in „Hamilton“, seinem Musical über das Leben Alexander Hamiltons, des ersten Finanzministers der USA.

Der gehörte einerseits zu den Gründervätern der Vereinigten Staaten, doch bevor sich Miranda seiner Geschichte annahm, auch zu den vergessenen Größen im Gründungsmythos des Landes. Hamilton brachte es nie wie Washington, Adams, Jefferson oder Madison zur Präsidentschaft. Als vielseitig begabter Selfmademan überstrahlte ihn stets Benjamin Franklin, von dem selbst Geschichtsvergessene wissen, dass er den Blitzableiter erfunden hat.

In „Hamilton“ erzählt Lin-Manuel Miranda als Komponist, Autor und Hauptdarsteller in Personalunion, wie Geschichte gemacht wird und wie sie immer wieder neu geschrieben werden kann. Er besetzte die Rollen fast durchweg mit afro- und hispano- und asiatisch-amerikanischen Darstellern. Die Geburt der Nation sollte von den multi-ethnischen Kindern des heutigen Amerikas erzählt werden, und auch im geläufigsten Idiom der Jetztzeit, dem HipHop. Auf diese Weise gelang es dem Sohn puerto-ricanischer Einwanderer selbst Geschichte zu schreiben.

Im Juni 2016, kurz bevor Miranda und einige andere Darsteller die Produktion verlassen sollten, filmte ein Team um Regisseur Thomas Kail die Show an drei Abenden. Die fertig geschnittene Filmfassung verschwand zunächst im Tresor. Disney sicherte sich die Veröffentlichungsrechte für die Summe von 75 Millionen Dollar, geplant war eine Kinoauswertung im Oktober des Jahres 2021. Doch das war vor der Corona-Krise und ihren weitreichenden Folgen für die Theaterlandschaft. Die Broadway-Theater werden noch mindestens bis zum Ende des Jahres geschlossen bleiben, dasselbe gilt für andere „Hamilton“-Produktionen, etwa diejenige am Londoner Victoria Palace Theatre: Im Moment ist „Hamilton“ auf keiner Bühne der Welt zu erleben. Weshalb sich Disney entschlossen hat, vorerst auf die Kinoauswertung zu verzichten und das Filmdokument der Broadway-Show ab sofort auf seinem Streamingdienst Disney+ einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Erfolgsgeschichte von „Hamilton“ ist beispiellos: Nach ihrer Premiere im Februar des Jahres 2015 im kleinen New Yorker Public Theater im East Village wechselte die Produktion wenige Monate später an den Broadway. Jede Vorstellung ist seitdem ausverkauft, auf dem Schwarzmarkt werden Tickets zu mehreren tausend Dollar angeboten. Nicht nur an der Theaterkasse sprengte „Hamilton“ alle Rekorde, das Musical wurde mit elf Tonys ausgezeichnet, dem Oscar-Äquivalent des Broadway, und auch mit einem Pulitzer-Preis. Wer weder die Gelegenheit noch das Geld hat, sich die Show anzuschauen, dem blieb bislang nur das Original Cast Album. Keine Originalaufnahme eines Broadway-Stücks hat jemals mehr Tonträger verkauft.

Der Disney-Stream bietet nun eine niederschwellige und günstige Möglichkeit, „Hamilton“ zu sehen. Freilich verliert die Performance in ihrer medialen Vermittlung ein wenig von ihrer mitreißenden Dynamik, dem Gemeinschaftssinn, den zumal die New Yorker Aufführungen in ihrem Publikum weckten. Dafür kann der Zuschauer sich hier auf der Bühne inmitten der Darsteller bewegen. Die Kameraarbeit verweist dabei nie auf sich selbst, im Gegenteil, Kail zeigt die Parabel vom kometenhaften Aufstieg des Immigrantenkindes und seinem abrupten Fall so nahtlos und nahbar wie möglich. Gleichzeitig lässt er nie vergessen, dass wir uns in einem Theater befinden, man sieht den Dirigenten im Orchestergraben, man hört die stürmischen Reaktionen des Publikums. Besser hätte man die Show nicht für den Bildschirm aufbereiten können.

Den größten Unterschied macht eine kleine Einblendung vor der ersten Szene: „New York City June 2016“ steht da zu lesen, und sofort ist dem Streaming-Zuschauer klar, dass er einem historischen Dokument beiwohnt. „Hamilton“ fasst die hoffnungsfrohen Obama-Jahre so schlüssig zusammen, wie kein anderes Bühnenwerk (oder irgendein Kunstwerk aus den Jahren 2008 bis 2016). Alles, was hier gezeigt wird; Männer, welche die Macht, die sie ergriffen haben, ebenso entschlossen wieder abgeben; Männer, die an ihrer Prinzipienlosigkeit scheitern; Potentaten, deren Selbstverblendung sie zur komischen Nummer abstempelt; Immigranten, die eine Nation allein auf der Basis ihrer Ideale und Träume errichten und endlich die Idee, gemeinsam an einer größeren Sache zu arbeiten: All dies haben die vier desaströsen Jahre unter Donald Trump in den Bereich ferner Utopie verwiesen.

Dass die Broadway-Theater jetzt leer stehen, das viele von ihnen vielleicht nicht wieder aufmachen werden, verwandelt „Hamilton“ sogar noch mehr zum Zeitdokument einer besseren Ära, einer Welt, die bunter, schadloser, lebens- und liebenswerter war, als es die unsere ist. Insofern ist dann auch der Streamingdienst Disney+ genau das richtige Umfeld.

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