Eurovision Song ContestWarum ich Jendriks „I Don’t Feel Hate“ so hasse

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Jendrik

Rotterdam – Er fühle keinen Hass, singt der deutsche ESC-Kandidat Jendrik Sigwart und schrammelt dazu auf einer Strass-besetzten Ukulele. Ihm täten all die hasserfüllten Leute leid, die ihre eigenen Frustrationen an seiner Person auslassen müssten. Zweifellos eine gesunde Einstellung.

Der 26-jährige Absolvent einer Osnabrücker Musical-Schule hat sein Lied – ungewöhnlich für den Eurovision Song Contest – selbst geschrieben und auch das bunte Video dazu gedreht. In dem singt er vor jungen, divers gecasteten Menschen in seinem wunderbaren Waschsalon, begleitet von einem chancenlosen Stinkefinger. Man kann mit Jendriks Botschaft nicht nicht einverstanden sein.

Warum fühle ich dann schon nach wenigen Takten den Hass in mir aufsteigen, als hätte ihn der Imperator aus „Star Wars“ aus der schwärzesten Kammer meines verschrumpelten Herzens hervorgelockt? Die Antwort ist gar nicht so schwierig.

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Penetrante Niedlichkeit

„I Don’t Feel Hate“ signalisiert auf eine so penetrante Art Niedlich- und Schrulligkeit, dass der Song unweigerlich die Zwangsvorstellung einer Amokfahrt am Steuer einer Planierraupe triggert. Die Youtube-Tutorial-Ukulele und Jendriks Kindergeburtstag-Intonation würden zu diesem Zweck völlig ausreichen.

Aber nein, es wird auch noch fröhlich gepfiffen, ein Dixieland-Kornett überblasen und eine lustige Muppet-Monster-Stimme imitiert. Es ist als hätten „Mambo No.5“, „Lemon Tree“ und der Ententanz in vitro ein Problemkind gezeugt. Es ist schlicht nicht auszuhalten.

Blamable Beiträge

Und doch steht Jendriks Auftritt im Rotterdamer ESC-Finale am kommenden Samstag bereits fest, denn Deutschland gehört zu den fünf Ländern, die sich als Hauptgeldgeber von dem Risiko freigekauft haben, in den Halbfinals auszuscheiden. Eine reale Gefahr angesichts der in der Regel blamablen Platzierungen deutscher Beiträge.

Insofern könnte man „I Don’t Feel Hate“ als gehobene Form des Trollens bezeichnen: Ich weiß, ihr würdet mich aus dem Wettbewerb werfen, wenn ihr nur könntet. Aber hier stehe ich, martere meine Ukulele-Saiten und eure Nerven, und ihr könnt nichts dagegen tun – weshalb mir euer Hass nichts ausmacht!  

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So weit der Subtext. Andere Länder haben auch schlechte  oder zumindest schlecht geklaute Lieder, sonst wäre es schließlich nicht der ESC.  Bilder und Töne, die nicht bleiben werden: Der nordmazedonische Opernsänger, der sich in eine lebende Discokugel verwandelt. Die rumänische Billie Eilish, die aserbaidschanische Ariane Grande, die kroatische Kylie Minogue, die zypriotische Lady Gaga und die maltesische Lizzo (Letztere allerdings mit dem mit Abstand besten Song der Doppelgängerinnen). 

Auch schlimm: Die stimmlose Irin und die stimmgewaltige, nur leider nicht stimmschöne Slowenin, oder das dänische Duo Fyr & Flamme, dem das Kunststück gelungen ist, einen 80er-Jahre-Discoschlager maßstabsgerecht nachzubauen, nur ohne eingängige Melodie.

Kompetenz aus Norwegen

Es gibt freilich auch kompetente Popsongs aus England, Schweden und Norwegen, also den Ländern, die im richtigen Radioleben gute Popsongs exportieren. Der norwegische Sänger Tix bietet mit Tourette-Syndrom   und ultrakitschiger Engel-und-Dämonen-Optik zudem das beste ESC-Gesamtpaket.

Und dann sind da noch die aus allen Kategorien fallenden Seltsamkeiten, die genau hier, beim ESC, ihre Heimat finden, und die wir zwei Jahre lang schmerzlich vermisst haben: Die ukrainische Band Go_A verbindet Hardtrance-Hochgeschwindigkeitsgeboller aus den 90ern mit folkloristischem Geflöte und Gejodel. Die blutjungen Kajal-Italiener mit dem dänischen Namen Måneskin spielen gertenschlanken Rock’n’Roll ohne Zugeständnisse ans Format. Manizha aus Tadschikistan schält sich aus einem riesig-rollenden Trachtenkleid, um ein feministisches und unverhohlen aggressives Loblied auf die „Russian Woman“ zu rappen. So geht das mit dem Kampf für eine gerechtere Welt, Jendrik.

Bleibt Daði Freyr, isländischer Favorit des abgesagten 2020er-Wettbewerbs, dem nun die undankbare Aufgabe zugefallen ist, den funkig-ungelenken Sponti-Charme von „Think About Things“ zu wiederholen. Was dem schlaksigen 2,08-Meter-Mann mit „10 Years“ – einem völlig unironischen Loblied auf die erste Dekade seiner Ehe – sogar fast gelungen ist.  Man lauscht, man wippt, man lächelt – Wunderkerzen sprühen aus Keyboard-Pappkartons – und  lässt all die aufgestauten Ukulelen-Hassgefühle fahren.

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