Kriegsbilder sind nie neutral. Eine Betrachtung zu drei viel diskutierten aktuellen Fotografien aus dem Gaza-Krieg.
Gaza-KriegHunger ist eine Waffe, aber auch Bilder können eine sein

Alles nur Inszenierung: Anas Zeyad Fteha fotografiert Menschen vor einer Essensausgabe im Gaza-Streifen?
Copyright: Khames Alrefi/IMAGO/Anadolu Agency
Im Krieg kann alles zu einer Waffe werden, und was im Krieg zu einer Waffe werden kann, wird es dann in der Regel auch. Diese traurige Wahrheit hat eine lange Geschichte. So wurden bereits im Mittelalter belagerte Städte ausgehungert, indem man ihre Bevölkerung von deren Nahrungsquellen abschnitt. Etwas jünger ist der Einsatz von Bildern, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Für den effektiven Krieg der Bilder braucht es Massenmedien. Im 18. Jahrhundert mussten Kriegsreporter noch auf die langsame Grafik zurückgreifen; heute zirkulieren ihre Fotografien weltweit.
Auch der Gaza-Krieg wird mit Bildern geführt, und zuletzt vor allem mit Hungerbildern, also Bildern, die dokumentieren, wie der Hunger als Kriegswaffe missbraucht wird. Aus den Hungerbildern werden so selbst Kriegswaffen, sei es, dass sie bewusst als solche eingesetzt oder „unter der Hand“ zu solchen werden. Nicht immer gehen sie auf eine eindeutige propagandistische Absicht zurück. Unparteiisch sind sie aber auch nie. So wie es im Nebel des Kriegs keine neutrale Instanz mehr gibt, so gibt es sie nicht in der Kriegsfotografie; unsere Gefühle mit Schreckens- und Gräuelbildern zu manipulieren, liegt vielmehr in deren Natur.
Evyatar David scheint im Hamas-Video sein eigenes Grab zu schaufeln
Drei Hungerbilder aus Gaza bestimmen die alte Debatte um die Ethik der Kriegsfotografie in diesen Tagen. Nur eines davon ist eindeutig propagandistischer Natur, und es ist auch keine Kriegsfotografie im strengen Sinne, sondern das Standbild aus einem Video. Es zeigt den 24-jährigen Evyatar David, der seit bald zwei Jahren von der Hamas in Gaza als Geisel gefangen gehalten wird, wie er sich in einem Tunnel sein eigenes Grab zu schaufeln scheint. David ist ausgehungert, seine spitzen Knochen zeichnen sich deutlich unter seiner Haut ab – offensichtlich „zitiert“ die Hamas, die das Video in Umlauf brachte, mit diesen Aufnahmen die Fotografien von ausgemergelten Opfern der Shoah, die nach der Befreiung der KZs um die Welt gingen.

Dieser Screenshot aus einem Video, das am 1. August 2025 von der Hamas veröffentlicht wurde, zeigt Evyatar David in einem Tunnel. David, der während seiner Gefangenschaft 24 Jahre alt wurde, wurde während des Angriffs der Hamas am 7. Oktober 2023 entführt.
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Für die Hamas sind diese nach dem Vorbild des Holocausts inszenierten Aufnahmen offenbar eine Fortsetzung ihres Kriegs gegen Israel mit anderen Mitteln. Wie der terroristische Überfall am 7. Oktober 2023 soll die bewusst geweckte Erinnerung an die Shoah die israelische Regierung zu einer „Überreaktion“ provozieren, die am Ende der Hamas und in deren mörderischer Logik der palästinensischen Sache nutzt. Allerdings hat sich die militärisch weitgehend besiegte Hamas mittlerweile auf den Krieg der Bilder verlegt. Die Aufnahmen des hungernden Evyatar David sollen über den Umweg einer ausgeweiteten israelischen Kriegsführung immer mehr Bilder toter und hungernder Palästinenser produzieren.
Dass die Menschen in Gaza hungern, bestreitet auch die israelische Seite nicht
Dass die Menschen in Gaza hungern, bestreitet auch die israelische Seite nicht; umstritten ist zwischen den Kriegsparteien, wer von ihnen dafür die Verantwortung trägt und den Hunger als Kriegswaffe einsetzt. Eine Fotografie von Khames Alrefi scheint diese Schuld vor allem der palästinensischen Seite zuzuschieben. Sie zeigt einen anderen Kriegsfotografen, Anas Zeyad Fteha, als dieser ein Bild von Menschen macht, die hinter einer Barriere auf Essen warten. Die Männer und Kinder halten leere Schüsseln in den Händen und wirken unbeteiligt – eben wie Wartende. Allerdings gibt es mittlerweile Hunderte Pressebilder, die verzweifelte Menschen aus eben der Perspektive zeigen, aus der Anas Zeyad Fteha seine Aufnahme macht. Heißt das, diese anderen Bilder sind inszeniert, auf Zuruf der Fotografen entstanden?
Auch Khames Alrefi, der Fotograf dieser scheinbar enthüllenden Szene, hat Dutzende solcher Fotos an den Essensausgabestellen gemacht. Sie zeigen hungernde Menschen aus der Perspektive derjenigen, die das Essen verteilen (teilweise ragt aus dem Hintergrund eine Schöpfkelle ins Bild) und suggerieren, dass sich der Fotograf für den Augenblick der Fotografie unter letztere gereiht hat. Man darf bezweifeln, dass sich Alrefi mit der Aufnahme seines Kollegen selbst als Bilderfälscher entlarven wollte. Sie entstand im Rahmen einer Reportage über die Arbeit palästinensischer Fotojournalisten in Gaza und bildet lediglich das alltägliche Geschäft von Kriegsreportern ab.
Ein einzelnes Kriegsfoto beweist nichts, was über seine eigene Existenz hinausgeht
Als ideale Kriegsfotografie gilt Robert Capas im Lauf erschossener Soldat aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Es ist eine Momentaufnahme aus nächster Nähe, der Fotograf ist Augenzeuge, seine Kamera zeichnet unmittelbar das Leben auf. Allerdings ist diese Ikone des Fotojournalismus beinahe zu ideal, um wahr zu sein. Die Wirklichkeit sieht oft anders aus, die Grenze zwischen Beobachtung und Inszenierung verwischt. Allein die Anwesenheit des Fotografen verändert die Situation, die er aufzeichnet – allenfalls im Kriegsgetümmel ist er tendenziell unsichtbar. Jede Fotografie ist zudem gemacht; der Effekt, der Capas Weltkriegs-Bilder von Omaha-Beach so authentisch verwackelt erscheinen lässt, verdankt sich einem Unfall in der Dunkelkammer.
Ein einzelnes Kriegsfoto beweist nichts, was über seine eigene Existenz hinausgeht; es hält lediglich einen Moment in einem unübersichtlichen Konflikt fest. Diese Erkenntnis ist beinahe so alt wie Kriegsfotografie selbst. Trotzdem können einzelne Fotografien eine ungeheure Wucht entfalten und eine Wahrheit schaffen, die über ihre beschränkte Beweiskraft weit hinausgeht. Die berühmte Aufnahme des „Napalm-Girls“, das nackt auf der Straße vor den Bombenangriffen der südvietnamesischen Armee flieht, ist dafür das beste Beispiel. Es wurde zum Symbolbild der grausamen Kriegsführung der US-Streitkräfte und ihrer Verbündeten in Vietnam.
Eine besondere Wucht hat auch ein Hungerbild aus Gaza, das zahlreiche renommierte Medien, von der „New York Times“ bis zur „Zeit“, prominent verbreiteten. Es zeigt den kleinen Mohammed al-Mutawaq, den seine Mutter an ihre Brust drückt; deutlich zeichnen sich in der schwarz-weißen Aufnahme Rückgrat und Brustkorb des abgemagerten Jungen ab. „So sieht Hunger aus“, schrieb die „Zeit“ darunter, nicht wissend oder ignorierend, dass al-Mutawaq an einer seltenen Muskelerkrankung leidet, die ihn besonders empfindlich für Hunger, aber auch zu einem besonders „lohnenden“ Fotomotiv macht.

Die Mutter von Mohammed al-Mutawaq hält ihren abgemagerten Sohn in den Armen.
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„Auch so sieht Hunger aus“, wäre wohl die treffendere Unterzeile gewesen. Ohne den später nachgetragenen Hinweis auf die Krankengeschichte suggeriert das Bild, dass al-Mutawaqs Leiden der Normalfall in Gaza ist. Aber der Krieg ist in jeder Hinsicht ein Ausnahmefall - nicht zuletzt der Fotografie.