Kai Diekmann über Stuckrad-Barre„Ich finde es schwierig, auf einmal so passend sein Gewissen zu entdecken“

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Kai Diekmann sitzt mit überkreuzten Beinen in einem Sessel, er trägt Jeans und einen blauen Rollkragenpullover und hält sein Buch in den Händen.

Der ehemalige „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann während des Interviews in Köln.

Kai Diekmann hat ein Buch über seine Zeit als „Bild“-Chefredakteur geschrieben. Zur Eröffnung der phil.Cologne spricht er unter anderem über Stuckrad-Barre.

Herr Diekmann, sind Sie Julian Reichelt eigentlich dankbar? Nach dessen Skandalen blicken schließlich viele versöhnlicher auf Ihre Zeit als „Bild“-Chefredakteur.

Ich hätte mir für „Bild“ eine glücklichere Entwicklung gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass sie für die eigenen Schlagzeilen gefeiert wird und nicht selbst in den Schlagzeilen steht. Das macht mich nicht zufrieden.

Sie wollen sich zu den aktuellen Ereignissen bei Springer nicht äußern. Aber machen Sie sich Sorgen über den Zustand der Zeitung?

Da halte ich es wie in der Politik: Über Nachfolger wird öffentlich nicht geredet. Ich habe mich immer wahnsinnig geärgert, wenn meine Vorgänger über mich gesprochen haben, auch wenn es gut gemeint war. Gut gemeint und gut gemacht sind häufig nicht das Gleiche.

Ist es eigentlich Zufall, dass Ihr Buch genau in dieser Zeit erscheint, in der Springer ständig Thema in den Medien ist?

Ich habe mir das nicht ausgesucht. Das ist schlicht und ergreifend Zufall. Aber es ist natürlich eine Extra-Publicity, für die ich als Buchautor nicht ganz undankbar bin.

Sie sagen, Sie treibt die Neugierde und die Lust am Geschichtenerzählen an. Waren Sie da nicht beim falschen Medium? Für ihre langen, ausführlichen Geschichten ist die „Bild“ ja eher nicht bekannt.

Redundanz ist kein Qualitätsmerkmal. Ich schreibe ja nicht für mich, sondern für den Leser, den ich erreichen möchte. Und selbstverständlich erlaubt auch „Bild“ die lange Form. Ich fand es spannend, so viele Leser wie möglich in ein Thema zu ziehen. Ich habe das redundante Feuilleton immer nicht verstanden, wenn ich das Gefühl hatte, es ist den Kollegen völlig egal, für wen sie schreiben. Das hat nichts mit meinem Verständnis von Journalismus zu tun. Der ist am Ende immer eine Dienstleistung am Leser.

Boulevard ist nicht die Flucht aus einer komplexen Wirklichkeit, sondern muss der Versuch sein, komplexe Wirklichkeit zu erklären.
Kai Diekmann

Welche Dienstleistung erwartet der Leser denn?

Ich soll ihm die Welt in einer Art und Weise erklären, dass es seinen zeitlichen Ansprüchen genügt und er die Informationen findet, die er braucht. Unsere Aufgabe als Journalisten ist Komplexitätsreduktion. Wenn jemand sagt, die bei „Bild“ seien die großen Vereinfacher, ist das nicht nett gemeint, aber es stimmt. Das ist unser Anspruch. Es ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, im Boulevard komplexe Wirklichkeit so zu reduzieren und zu vereinfachen, dass sie verständlich wird.

Aber ist nicht genau das unlauter? Die Welt ist nun mal komplexer, als es diese Vereinfachung im Boulevardjournalismus suggeriert.

Es geht nicht darum, nur in Schwarz und Weiß zu malen. Es geht darum, eine Situation zu verstehen und sie dann im eigenen Gemälde so abbilden zu können, dass dem Betrachter sofort ins Auge springt, was besonders relevant ist. So gebe ich Orientierung. Boulevard ist nicht die Flucht aus einer komplexen Wirklichkeit, sondern muss der Versuch sein, komplexe Wirklichkeit zu erklären. Eine gute Boulevardzeitung ist eine Bedienungsanleitung für einen Alltag, der immer komplexer und schwieriger geworden ist. Ich sehe bei vielen sogenannten Qualitätsmedien, dass sie da vom Boulevard lernen. Aber „Bild“ ist die lauteste Trompete auf der Bühne. Sie ist in ihren Schlagzeilen in der Zuspitzung und Vereinfachung auch Grenzgänger. Und deswegen ist es auch richtig, dass eine Zeitung wie „Bild“ besonders kritisch begleitet wird.

Kann man die komplexe Welt nur durch die Lektüre der „Bild“-Zeitung verstehen?

Nein, das glaube ich überhaupt nicht, aber das ist ja auch nicht die typische Lesesituation eines „Bild“-Lesers. Der schaut TV, hört Radio und liest hoffentlich auch noch eine Regionalzeitung, Das Großartige an „Bild“ ist, dass mit der Zeitung Millionen Menschen erreicht werden, die sonst möglicherweise gar keine Zeitung lesen würden. Wir müssen es schaffen, Lust am Lesen zu machen. Und dazu gehört auch Unterhaltung. Niemand kann sich 24 Stunden am Tag nur mit Katastrophenmeldungen beschäftigen.

Sie sagen, „Bild“ messe die Temperatur im Land. Ist das wirklich so oder heizt sie die Temperatur nicht vielmehr an?

Ein kluger Kollege hat mal gesagt, „Bild“ sei der Seismograf der Befindlichkeit. Wir schreiben nicht nur darüber, was ist, sondern wie das, was ist, von einer mutmaßlichen Mehrheit der Menschen empfunden wird. Bekanntestes Beispiel ist die Schlagzeile „Wir sind Papst“. Die ist grammatikalisch und inhaltlich falsch, aber sie drückt ein Gefühl aus. Ich glaube, dass eine Zeitung wie „Bild“ einen Trend verschärfen oder abschwächen kann, aber gegen einen Trend eine eigene Meinung durchzusetzen, dafür ist die Medienlandschaft in Deutschland zu vielfältig.

Ich habe das nie als Macht empfunden, sondern als Bürde oder positiv formuliert als Verantwortung
Kai Diekmann

Was hat die Macht, die sie als Chefredakteur hatten, mit Ihnen gemacht?

Ich habe das nie als Macht empfunden, sondern als Bürde oder positiv formuliert als Verantwortung, weil mir klar war, dass es einen Unterschied macht, ob etwas bei uns auf Seite 1 steht oder der gleiche Sachverhalt mit der gleichen Schlagzeile auf der Seite 1 der „FAZ“. Das hat eine völlig unterschiedliche Wirkung. Aber ich habe eine sehr normale Familie und eine sehr normale Frau, die dafür gesorgt hat, dass ich nicht abhebe. Im Unterschied zu Politikern wird die „Macht“ eines Chefredakteurs ja auch nicht öffentlich zelebriert.

Was haben Sie über Macht gelernt in Ihrer Zeit bei „Bild“?

Ich beschreibe das in meinem Buch am Beispiel Christian Wulff, den offenbar die eigene Bedeutung überfordert hatte. Für mich gab es eine Schlüsselszene bei einem Abendessen, bei dem er nach einem Scherz fragte: „Wie redet ihr mit dem Bundespräsidenten?“ Alle Beteiligten hielten das für einen großartigen Witz, er meinte das aber ernst. Das ist für mich ein wichtiger Punkt: Wer glaubt, Autorität reklamieren zu müssen, besitzt sie nicht. Im Allgemeinen spürt man, wenn Menschen Autorität ausstrahlen. Und ich habe gelernt, dass Macht vergänglich ist.


Kai Diekmann (58) war von 1998 bis 2000 Chefredakteur der „Welt am Sonntag“, von Januar 2001 bis Januar 2017 an der Spitze von „Bild“. Gerade sind seine journalistischen Memoiren erschienen.

Über „Ich war Bild“ (DVA, 544 Seiten, 34 Seiten) spricht er am 12. Juni, 18.30 Uhr, in der Comedia im Rahmen der phil.Cologne. Das Kölner Philosophie-Festival startet an diesem Dienstag.


Sie beschreiben das am Beispiel Helmut Kohls.

Ja, das war im Kanzlerbungalow, nachdem er als Kanzler abgewählt war und Rot-Grün ihm alles Personal abgezogen hatte - eine weitere Schlüsselszene. Da habe ich gesehen, wie unsicher und ungelenk er sich durch das eigene Leben bewegt hat, auf das er nun zurückgeworfen war. Das war beeindruckend und erschütternd zugleich. Und aus diesem Gefühl kommt auch mein Widerwille, was den Umgang mit Gerhard Schröder angeht. Wir Deutschen neigen zu „Hosianna - Kreuzige ihn!“. Es fällt uns schwer, ein vernünftiges Maß der Mitte im Umgang mit Mächtigen oder denjenigen, die wir für mächtig halten, zu finden.

Der heutige Umgang mit Schröder ist ungerecht?

Maßlos. Ich bin ja jeder politischen Nähe zu Schröder vollkommen unverdächtig, und das Allermeiste, was er zu Russland sagt und tut, halte ich für falsch. Deswegen finde ich den Umgang mit ihm trotzdem absurd. Was er jetzt falsch macht, macht die Agenda 2010, die er gegen jeden Widerstand durchgesetzt hat und wo er das Wohl seines Landes über das Wohl seiner Partei und sein eigenes gestellt hat, nicht vergessen. Wir verweigern uns einer komplexen Betrachtung seiner Person.

Sie haben kürzlich in einem Interview Benjamin von Stuckrad-Barres Buch „Noch wach?“ in den Bereich der Märchen und Mythen verlegt. Da entsteht der Eindruck, dass Sie sein Vorgehen ärgert. Weil er einen Roman veröffentlicht, der aber offensichtlich Bezug nimmt auf Ereignissen bei Springer und der „Bild“?

An welcher Stelle denn offensichtlich? Das ist doch das Problematische. Ich kenne Benjamin gut. Ich habe mit ihm zusammengearbeitet, wir haben ein Buch über Udo Lindenberg geschrieben, das hat viel Spaß gemacht. Marketing kann er auch. Er legt ja selbst Wert darauf, dass alles frei erfunden ist, er sich nicht an Personen orientiert und sein Buch ein Roman ist.

Das ist die falsche Form?

Er schafft ein Genre, das mich ein stückweit ratlos zurücklässt und auch betroffen macht. Da habe ich Hochachtung vor einem Günter Wallraff, der sich undercover in die „Bild“-Redaktion eingeschlichen, Fakten gesammelt und beschrieben hat – und hinterher für diese Beschreibung auch vor Gericht geradesteht. Es ist ein Unterschied, ob Sie ein Buch darüber schreiben, wie Sie Dinge tatsächlich erlebt haben oder ob Sie einfach sagen, das ist ein Roman, und dann lasse ich alle anderen spekulieren. Zudem finde ich schwierig, es sich auf der einen Seite zehn Jahre bei Springer gut gehen zu lassen, sehr, sehr viel Geld mitzunehmen und bei Führungskräftetagungen, wenn es Mathias Döpfner in der Nase juckt, der erste zu sein, der das Taschentuch zückt, und dann auf einmal so passend sein Gewissen zu entdecken. Da stimmt doch irgendwas nicht. Was das Genre angeht, habe ich auch ähnliche Probleme mit Jan Böhmermann.

Warum?

Da werden mit einem scheinbar journalistischen Anspruch angeblich wahre Geschichten erzählt, und wenn es dann schiefgeht oder darauf ankommt, zieht man sich darauf zurück, entweder Satiriker oder Romancier zu sein. Da werden wie im Fall Arne Schönbohm Karrieren zerstört. Bei aller Publikums-Freude am Verrat müssen wir darauf achten, dass journalistische Standards nicht verloren gehen.

In meiner Zeit sind so viele Frauen in redaktionelle Spitzenpositionen gekommen, wie niemals zuvor
Kai Diekmann

Im Podcast „Boys Club“ wird von vielen Frauen eine toxische Unternehmenskultur bei Springer beschrieben. Haben Sie immer alles richtig gemacht oder würden Sie heute in manchen Fällen anders handeln?

Ich habe mir nichts vorzuwerfen. So etwas habe ich in meiner Zeit nicht erlebt. Ich erinnere einen einzigen Fall, in dem sich eine Kollegin beschwert hat. Da habe ich sofort reagiert: Der betroffene Kollege ist versetzt worden. In meiner Zeit sind so viele Frauen in redaktionelle Spitzenpositionen gekommen, wie niemals zuvor. Aus einem ganz einfachen Grund: Frauen in Führungsverantwortung haben „Bild“ erfolgreicher gemacht. Sie gehen ganz anders an viele Dinge heran als ihre männlichen Kollegen.

„Bild“ war Ihre Droge, schreiben Sie. Sind Sie heute wieder clean?

Donald Trump war ja am Schluss als Interviewpartner noch mal die volle Dröhnung, aber das hat dann auch gereicht. In meinem Jahr im Silicon Valley in Kalifornien habe ich gemerkt, dass es noch ein anderes Leben für mich gibt als das, was ich bei „Bild“ geführt habe, auch wenn das sehr erfüllt, fast überfüllt war. Da wuchs bei mir der Wunsch, nochmal etwa anders zu machen. Ein reibungsloser Führungswechsel nach so vielen Jahren ist nicht ganz unkompliziert, also habe ich mich 2016 überreden lassen, den Herausgeber von „Bild“ zu machen. Das war eine bescheuerte Idee, da habe ich mich in die dümmste Situation gebracht. Ich musste – nach außen – den Kopf für „Bild“ hinhalten, den Spaß, eine solche Zeitung zu machen, hatte ich nicht mehr. Deshalb war es richtig, etwas ganz anderes zu machen. Sich in dem Alter neu zu erfinden, ist toll.

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